Buch Willkommen in einer anderen Welt. Man schreibt das Jahr 2027. Greenspace überwacht den Weltraum, die virtuelle Computerwelt Gamespace ist von tibetischen Zombies und tantrischen Viren unter- wandert. Und während die Anwender noch das interaktive Sushi genießen und Tai-Chi-Schüler mit ihren längst verstorbenen Meistern kommunizieren, beginnt die Neurotechnologie verrückt zu spielen ­ mit höchst unterhaltsamen, aber wahrscheinlich auch tödlichen Konse- quenzen. Dies ist die Welt der Bewußtseinsverarbeitung. Zunächst ist das Herun- terladen von menschlichem Bewußtsein nur ein Hobby für Professor Frank Gobi. Jetzt aber benötigt Satori, der größte und zwielichtigste Konzern der Welt, seine Hilfe. Allein Gobi ist in der Lage, einen vermiß- ten Manager zu finden, den fehlenden Algorithmus zu finden und Satoris abgestürzte virtuelle Metropolis wieder online zu bringen. Und dabei geht es nicht nur um das angeschlagene Image des Konzerns ­ sondern auch um das Leben von Gobis Sohn... »Hochoriginell, exzentrisch und brillant ­ ein einziges Vergnügen.« Booklist »Eine faszinierende Mischung aus William Gibson und Douglas Adams. Genau so sollte Science fiction heute sein.« Entertainment Weekly »Dort, wo >Neuromancer< und >Blade Runner< aufhören, fängt Alexander Besher erst an. Satori City 2.0 erschließt der Science fiction nie zuvor betretenes Terrain.« Douglas Rushkoff »Eine virtuelle Achter- bahnfahrt, die einen schwindelig werden läßt. Faszinierend von der ersten bis zur letzten Seite.« San Francisco Chronicle Autor Alexander Besher, als Sohn weißrussischer Eltern in China geboren und in Japan aufgewachsen, war Chefredakteur des Chicago Review und hat unter anderem eine erfolgreiche japanische Krimiserie entwickelt. Satori City 2.0 ist sein erster Roman. Alexander Besher lebt in Kalifornien. Alexander Besher SATORI CITY2.0 Roman Aus dem Amerikanischen von Michael Nagula GOLDMANN VERLAG Die amerikanische Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel »RIM: A Novel of Virtual Reality« bei HarperCollins Publishers, New York Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Deutsche Erstveröffentlichung 8/96 Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1994 by Alexander Besher. All rights reserved. Excerpt from Cult of Tara: Magic and Ritual in Tibet, by Stephan Beyer. Copyright © 1973 by the Regents of the University of California, University of California Press. »Pigs (Three Different Ones)« by Roger Waters. Copyright © 1977 Pink Floyd Musik. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1996 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Bob Warner Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 23691 Lektorat: Sky Nonhoff Redaktion: Cornelia Köhler Herstellung: Heidrun Nawrot Made in Germany ISBN 3-442-23691-6 Für Nicholas, der mich zu dieser Story anregte Für Françoise, die sie am Laufen hielt und For the Family Everywhere Danksagungen Ich möchte Geoff Leach in Japan danken, der Rim als erster entdeckte und es der Zeitschrift MacPower in Tokio empfahl, die einen frühen Entwurf des Manuskripts auf japanisch in Fortsetzungen brachte. Geoff machte mich auch mit meinem japanischen Literaturagenten Kiyoshi Asano bekannt, der meinem bis dahin ungeschriebenen Romanerstling beim Verlag Chrest-sha in Tokio ein erstes Zuhause verschaffte. Außerdem möchte ich Cheflektor Makoto Satoh für seine Geduld und für sein Vertrauen in das Projekt danken. Darüber hinaus gilt mein Dank vor allem dem Kyoto Journal, das in Japan zum ersten Mal einen Auszug aus Rim veröffent- lichte, und zwar auf englisch. Nicht weniger dankbar bin ich meinem amerikanischen Li- teraturagenten Bill Gladstone und meiner Lektorin bei Har- perCollins West, Joann Moschella. All den vielen anderen, darunter Joe Holzer, Christophe Marcant, Choni Yangzom, Renee Wildman, David Bunnell, Paul Saffo, Tom Peters, Bernie Krisher und Leonard Koren, die mich auf meinem Weg unter- stützt und ermutigt haben, sage ich: domo arigato. Alexander Besher San Francisco 7. März 1994 Die Keiretsu-Kriege waren sogar für die Verhältnisse virtueller Welten blutig. Eines Tages, ehe das Megabeben von '26 Neo-Tokio aus der Matrix löschte, saß der erste ahnungslose CEO in seinem Garten in Neu-Nippon und erfreute sich an seinen Troden, als der Feind ihn herunterlud. Sein ehrenwertes Bewußtsein wurde in einen Bio-ROM eingefan- gen und in einem Brokatkästchen weggeschafft, um es dem Herrn des Rim zum Geschenk zu machen. Die anderen fielen genauso schnell. Der Welt blieb das weitgehend verborgen. Im Westen sollten noch einige Jahre vergehen, ehe das wissenschaftliche Establishment die Tatsache anerkannte, daß man Energie durch Bewußtsein manipu- lieren kann. Danach waren nur noch zwei Keiretsu-Konzerne übrig ­ einer, der dem Herrn des Rim gehörte, und ein anderer, der vom Herrn des Traums bewohnt wurde. Einer zog das Schwert, und der andere stellte sich eine Scheide um das Schwert herum vor. Wer war der Mächtigere? In dieser Geschichte müssen Sie das entscheiden. Doch bevor Sie das tun, müssen Sie wissen, daß die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint. Nicht mehr. Zunächst einmal wurde, als Neo-Tokio zu existieren aufhörte, etwas Größeres geschaffen. Eine neue Matrix wurde geboren. Welche war real, welche eher imaginär? Das Reisen von einem Reich ins andere wurde zur neuen Form des Pendelverkehrs. In beiden Matri- ces zugleich zu Hause zu sein kostete teures Geld. Als dann jedoch beide Welten per Interface miteinander verbunden waren, fielen solche Unterschiede allesamt weg. Aber bevor das geschah, bevor die Feier des Bewußtseins zur hochentwickelten Kunstform wurde und bevor Träume zur gefrag- testen Ware auf dem Markt wurden, herrschten schwere Zeiten, in denen die Keiretsu-Kriege endlos zu währen schienen und man die Hoffnung zu fürchten lernte, auch wenn die Liebe andauerte. Dies ist ein Teil der Geschichte, ein kleiner Teil, den ich gut ken- ne. Ich widme den Bericht meinem Vater, der jetzt ein Ronin im Reich des Unbekannten ist. Trevor Gobi aus: »Die Keiretsu-Monogatari« (»Annalen der Megakonzern-Kriege«) Vektor 16, Matrix Zwo Taihei 43 (2067A.E.) Prolog Ein japanischer Teegarten, Neo-Tokio, Herbst 2025 Der ältere Japaner ging zielstrebig auf den Eingang des inne- ren Gartens zu. Es handelte sich um eine exklusive Wohnge- gend von Neo-Tokio, in der Angehörige der kaiserlichen Familie und hochrangige Klanmitglieder der Firma wohnten. Die Kuckucke riefen vom Pinienwäldchen herüber, das an die Villa von Prinz S. grenzte. Irgendwo im Zwielicht des Gartens klimperte ein Glockenspiel im Wind. Es war ein einsames Geräusch. »Wartet draußen«, befahl der Mann seinem Gefolge mit barscher Stimme. Die vier Personen in dunklen Anzügen verbeugten sich und blieben reglos stehen, während seine in einen grauen Kimono gekleidete Gestalt kurz verharrte und dann durch das fünfhundert Jahre alte strohgedeckte Tor davonstürmte. Zwei von ihnen waren Leibwächter des Alten und bezogen an der Schwelle zum Roji aufmerksam Posten, die Sinne wach, die Körper jedoch entspannt. Die beiden anderen waren seine persönlichen Gehilfen. Einer trug eine Aktentasche mit dem Backup-Bewußtsein des Alten, die er müde zwischen den Beinen abstellte. Sein Kollege zündete sich eine Ginko- Zigarette an und genoß die Ruhe der Anlage. Es fiel schwer zu glauben, daß nur Minuten entfernt vom hektischen Tumult des Stadtzentrums soviel Frieden herrschte. Auf der anderen Seite des Bambuszauns blieb der Alte für einen Moment stehen und bewunderte eine Gruppe gelber und weißer Chrysanthemen. Diese einfache, atemberaubende Schönheit. Trotz der Schmerzen, die der unbarmherzig in seinem Innern fressende Krebs verursachte, atmete er den frischen, reinigenden Geruch der Pinien ein und fühlte sich augenblicklich gestärkt. Der Krebs war unheilbar, aber gemessen an den Kämpfen, die er während der dreiundachtzig aktiven Jahre seines Le- bens bereits ausgetragen hatte, handelte es sich dabei nur um eine geringfügige Unannehmlichkeit. Und das würde ihn jetzt nicht aufhalten. Unregelmäßig geformte Trittsteine führten im Zickzack auf das kleine Teehaus am Ende des gewundenen Pfades zu. Das Moos war so grün und so dicht. Einen Moment lang erinnerte ihn die Farbe an den Mekong, der durch Indochina fließt. Das waren glücklichere Zeiten gewesen; vielleicht nicht ganz frei von Sorgen, aber aufregend, als er in Südostasien einen Markt nach dem anderen erobert hatte. Zeiten, in denen das Reich aufgebaut worden war. Und wie konnte er bei der Erinnerung an den Mekong nicht an Mai denken? Süße, hinreißende Mai, die für ihn alle Merk- male eines Weibes und einer Frau in sich vereinte, ihm Körper und Seele darbot, ein junges Mädchen, das sich für einen alten Mann aufopferte. Er roch noch den Duft des Sandelholzes auf ihrer weichen braunen Haut... Die Piniennadeln knisterten unter seinen Schritten, und ein dürrer Rauchfaden fiel ihm auf, der sich aus dem Kamin des Teehauses emporkräuselte. Mai lag jetzt hinter ihm, genauso wie alles andere. All seine vergangenen Leben, die wie Datteln von einem Baum fielen, den es nicht mehr gab. Schon vor langer Zeit war er gefällt und entwurzelt worden, spurlos ausgelöscht von seinen Gedanken, die jetzt auf die Grenze zueilten, hinter der ihn sein nächstes Leben erwartete. Wenn alles nach Plan verlief, dann würde das hier der wichtigste Tag seines Lebens werden: der Höhepunkt seiner Laufbahn und der Anfang einer neuen Ära für das Haus Kobayashi. Er trat ans Wasserbecken aus Stein, hob die Bambusschöpf- kelle und füllte sie mit dem kühlen Naß, das er sich über die Hände goß. Er zog ein gefaltetes Blatt handgeschöpften Pa- piers aus dem Ärmel und trocknete sich die Hände, dann drehte er sich zu dem Durchschlupf um, durch den man sich geradezu in den Teeraum hineinzwängen mußte. Das war der rituelle Zugang, der Demut und Abkehr von der Weltlichkeit bedeutete. Er stellte seine Holzpantinen auf dem Stein ab, zog die klei- ne Pergamenttür zur Seite, bückte sich dann tief herunter und kroch ins kühle Innere der nur zweieinhalb Tatamimatten messenden Kammer. Durch die Leisten der Bambusgitterfenster warf die späte Nachmittagssonne ihre letzten weichen goldenen Strahlen auf die braunen Gipswände. Der Mann wandte sich dem Alkoven zu, in dem eine Schriftrolle hing. Die dicken schwarzen japani- schen Kanji-Ideogramme waren dem Anlaß angemessen, dachte er. »Durch das, was vor dir liegt, bis ins Universum hineinschauen.« Im Brenner hatte man ein Räucherstäbchen entzündet, und in einer Bambusvase steckte eine einzelne Chrysantheme ohne Kopf. Augenblick mal, ohne Kopf? Der Mann erstarrte und starrte den Stiel an. Dann erschienen oberhalb des Stiels plötz- lich die gelben Blütenblätter der Chrysantheme, ein graphi- sches Wunderwerk, ebenso prächtig wie die Blumen draußen. Die Blumen waren natürlich online. Mitsubishi- Mummenschanz. Im schwindenden Licht des Zimmers hörte er das Geräusch kochenden Wassers, beinah wie ein Bach, der durch einen Wald plätschert. Unter dem Kessel glomm die Kohle schwach im Herd. Auf einer Seite befand sich der kleine Teeraum, in dem bereits alle Utensilien für die Zeremonie bereitgelegt waren. Er hörte, wie der Gastgeber sich dem anderen Eingang nä- herte. Die Pergamenttür glitt auf, und der Zeremonienmeister zwängte sich hinein. Er verbeugte sich vor dem Alten, der die Verbeugung wortlos erwiderte. Seltsam, dachte der Alte. Er war so ein junger Meister. Ein Meister des Nichts. Sein ganzes Leben lang hatte der Alte darum gekämpft, massenhaft Reichtümer anzuhäufen, große Macht und noch größeren Einfluß zu erringen, und doch war das alles nichts im Vergleich mit der Macht, über die der blasse Jüngling mit den bleistiftdünnen gewölbten Augenbrauen und dem sen- genden Blick verfügte. Auch ohne daß dieser Blick dem seinen begegnete, sahen diese Augen alles, nahmen alles in sich auf. Sie begriffen, daß die Macht des Alten ihren Höhepunkt erreicht hatte und daß ihm nur eines den Seelenfrieden brin- gen konnte, nach dem es ihn so sehr verlangte: indem er die Leere beherrschte, die ihn erwartete, sie im tiefsten Innern bereitwillig annahm und der Struktur seiner mächtigen welt- weiten Organisation einverleibte. Dieses Nichts würde dafür sorgen, daß er nach seinem Ab- leben etwas zurückließ. Es wäre wie das Siegel seiner Unter- schrift, das er allem aufgedrückt hatte, dem er begegnete, allen geschäftlichen Transaktionen und allen weltlichen Zusam- menhängen. Den Jüngling störte es nicht, daß er das Medium für den Transfer dieser Macht sein sollte, denn ihm persönlich bedeu- tete das wenig. Auf dieser Ebene war Nichts nur ein Spiel. Auf anderen Ebenen hatte es andere Auswirkungen. Es gab viele Ebenen des Nichts. Im jetzigen Stadium seiner persönlichen Entwicklung konnte der Alte dieses Wissen wohl kaum wür- digen. Der Jüngling verbeugte sich und brachte ein kleines, in Bro- kat eingeschlagenes Bündel zum Vorschein. Er hielt es mit beiden Händen hoch und legte es dann genau zwischen ihnen auf die Matte. Der Alte saß wie versteinert da. Er wagte nicht zu zweifeln. Er hatte den Beta-Test selbst miterlebt. Mit Hilfe eines K700- Downsizers von Kobayashi war aus vierhundert Kilometern Entfernung ein ganzer Felsblock mit vier Tonnen Gewicht aus dem Zen-Garten der Ryoanji digitalisiert worden. Er hatte das Bild in einer Datei abgespeichert, die er in einem Amulett an seinem Hals aufbewahrte. Als der Beweis zum ersten Mal vor ihm lag, hatte er ihn mit einem Gefühl fast religiöser Einkehr gemustert. Für ihn hatte das Bild das volle Gewicht, Aussehen und Gepräge des großen Felsblocks, der einmal in diesem berühmten Zen-Garten vergraben gewesen war. Wenn Illusion im Spiel war, dann nur die, daß es sich einmal um einen soliden Felsen gehandelt hat. Dabei war es noch immer ein Felsen. Es hatte die Essenz eines Felsens. Der Alte hielt den Atem an, als der Meister das Bündel aus- packte. Er nahm den Zeremonienhandschuh und streifte ihn nahezu beiläufig über seine rechte Hand. Die Untertreibung war äußerst raffiniert. Dann begann der Jüngling mit einer weiteren kurzen Verbeugung die Zeremonie der virtuellen Realität: Vacharu-no-yu. Der neue Weg, der Realität zu dienen ­ und sie auszukosten. Für Teetraditionalisten bedeutete das natürlich eine Abwei- chung. Sie hinkten der Zeit hoffnungslos hinterher. Für sie konnte nichts an die Stelle der ursprünglichen Teezeremonie des Cha-no-yu treten, die der Teemeister Sen Rikyu im sech- zehnten Jahrhundert festgelegt hatte. Narren! Kein Wunder, daß Neu-Nippon wieder genau wie während der Bürgerkriege der Feudalzeit von Streit und Hader heimgesucht wurde. Was Rikyu anging, so weigerten die Traditionalisten sich ja sogar, den Meister in seiner gegen- wärtigen Holokarnation anzuerkennen. Du meine Güte! Dank eines Kobayashi-Chajin-Projektors hatte Rikyu persönlich ihn schon in ebendiesem Teeraum bedient. Diese Trottel! Was mußte noch geschehen, um sie endlich davon zu überzeugen, daß die Zeiten sich wirklich geändert hatten!? Mußte erst Shogun Nobunaga selbst er- scheinen und ihre Köpfe fordern? Mehrere Ebenen unter seiner Maske der Ausdruckslosigkeit grinste der Alte. Das ließ sich einrichten. Tatsächlich hatte er das sogar schon einmal getan. Ein paar feige Keiretsu-Herren konnten das bestätigen ­ das heißt, wenn sie noch imstande wären, zu sprechen. Mit Hilfe der Kompressionstechnologie, die der junge Meister so fachmännisch für ihn entwickelt hatte, besaß er bereits eine ansehnliche Sammlung ihrer extra- hierten Bewußtseine. Neuronetsukes, so nannte der Alte sie scherzhaft. Gehirn- Bonsais! In einer Glasvitrine hatte er ein Dutzend Figurinen ausgestellt. Mal sehen, da gab es den Verräter Ono, der sich heimlich mit dem Fuji-Klan von Osaka gegen ihn verschworen hatte. Und dann waren da noch seine anderen Beutestücke ­ Shigehara, Tamba und Ikeda. Hatten sie sich nicht erklärter- maßen gegen das Haus Kobayashi gestellt? Jetzt waren sie alle Teil seiner kostbaren Netsukesammlung. Wer außer ihm konnte sich in der Welt noch rühmen, für solche handgearbei- teten Gäste den Gastgeber zu spielen! All seine früheren Feinde waren in einmalige Kunstwerke verwandelt worden. Miniaturen mit neuem Status. Der Alte kicherte bei diesem Gedanken lautlos. Tamba war jetzt ein Wildschwein, Ono seiner Unverschämtheit wegen eine Ratte und der schlüpfrige Ikeda ein Fisch, der im Netz zappelt... Diese exquisiten Details! Dieses Pathos! Ihnen haftete soviel Leben und Bewegung an. Sie sollten dankbar sein, daß man ihnen erlaubt hatte, aus dem Abschaum, der sie waren, in große Kunst verwandelt zu werden! Der Alte holte tief Luft. Er sah zu, wie der junge Meister jede noch so kleine Bewegung bei der Zeremonie mit außer- weltlicher Anmut ausführte. Von der Art, wie er den Hand- schuh benutzte, als sei er ein Kalligraph, der den Pinsel führt, bis zu der Art, wie er die Meta-ROM-Schale von ihrem Platz nahm und ehrfürchtig hochhielt. Es war eine alte Kyocera-Keramikschale, die von holotropen Schadstellen, die braun, fast schwarz waren, nur so strotzte. Bis auf die Schale und die Teedose, bei der es sich um eine Vakuumflasche von Hitachi handelte, waren alle Utensilien voll funktionsfähige Hologramme, vom Teelöffel bis hin zur Schöpfkelle. Sogar der Dampfkessel war ein hochverdichtetes Trugbild. Unbezahlbar! Jetzt schöpfte der Meister eine Kelle voll Wasser und gab sie in die Schale. Er wusch den Teebesen und legte die Kelle wieder auf den Kessel zurück. Er leerte die Teeschale. Er wischte die Schale mit einem Tuch ab. Er legte das Tuch auf den Deckel des Kessels. Endlich war der Augenblick der Wahrheit gekommen. Der Meister schraubte den Verschluß der Hitachi-Vakuumflasche ab, und das grüne Leuchten des Virus erhellte den Raum. Unglaublich! Das war es also. Der junge Mann hatte es per- sönlich von der Quelle hierhergeschafft. Das Wirklichkeit ge- wordene Unwirkliche, seufzte der Alte, als er nachdenklich den strahlenden Glanz betrachtete. Der junge Mann nahm zwei Löffel voll grüner Pixel heraus und gab den Virus in die Kyocera-Schale. Er goß eine Kelle heißen Wassers in die Schale und rührte den Tee kräftig um. Dann nahm er die Teeschale in die Linke und bot sie dem Alten mit der behandschuhten Rechten dar. Der Alte drehte die Teeschale ein wenig, hielt sie hoch und spähte aufmerksam hinein. Durch den grünen Dunst sah er die Berge und Flüsse des alten Yamato. Er sah die Virtuelle- Realität-Fabriken von Neu-Nippon und die kodierte Vision eines Volkes. Er sah ihr Streben und ihre Ängste, ihre Verbun- denheit und ihre Sehnsüchte. Er sah die lange Schriftrolle ihrer Geburten und die Weihrauchwolken, die ihren Tod verschlei- erten. Er sah den Himmel über Neu-Nippon, grau, blau und grün, und das Wetterbild, das über die Inseln hinwegzog, ehe es sich über dem Binnenmeer auflöste. Er sah alles, was es vom ersten Augenblick an, als die Schöpfung auf den Inseln Einzug hielt, zu sehen gab, bis zu dem Augenblick, als der Schaum des grünen Tees sie wieder in undurchdringliche Gegenwart hüllte. Ja, undurchdringlich war stets nur die Gegenwart. Der Alte kannte diese Wahrheit schon lange und würde sie mit sich ins Grab nehmen. Fürwahr, sie war der undurchdringlichste aller Augenblicke. Beinah hätte er geseufzt, aber das wäre angesichts dieses einzigartigen Geschenks ungebührlich gewesen. Er hielt sich die Schale vors Gesicht, atmete den Wohlgeruch der Berge und Flüsse, der Seen und Felder ein, dann trank er alles laut- stark schlürfend aus, um so seine Wertschätzung auszudrü- cken. Nichts hatte ihm jemals so gut geschmeckt. Der Jüngling verneigte sich. Er gestattete dem Augenblick, wortlos zu verstreichen. Der Alte hatte Neu-Nippon in sich aufgenommen, bis in sein ureigenstes Wesen hinein. Sollte er sich doch des flüchtigen Ruhms erfreuen. Der Virus war sowieso überall, und niemand konnte ihn jetzt noch aufhalten, geschweige denn kontrollieren. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, es dem Alten gegenüber zu erwähnen. Wie hätte es ihm auch möglich sein sollen, den Umstand zu würdigen, daß es ihn gar nicht gab? Daß es ihn niemals gegeben hatte? Doch kehren wir für ei- nen Augenblick zu diesem harmlosen Dualismus und zum sprudelnden Teekessel zurück. Jeder einzelne Augenblick ist mit jedem anderen Augen- blick verbunden. Es gibt nichts, was etwas trennt. Jedes Frag- ment sitzt fest an jedem anderen Fragment. Raum und Zeit, Leben und Tod, alles ist so flüchtig. Digitalisiertes Nichts. Gatay gatay paragatay parasamgsatay bodhi svaha. Fort, fort, fort ins Jenseits, fort ins Jenseits hinter dem Jenseits zur vollen Erleuch- tung... Die Feier der Virtuellen Realität fängt gerade erst an. Möge sie also beginnen. Arroyo US-mexikanische Grenze, Frühling 2027 Es war ein brütendheißer Tag; der blaue Himmel waberte grellweiß und blendend wie ein Wurm, den man mit einem Glas Meskal die Kehle hinunterspült. Der Mann mit dem Silbergesicht wartete auf der amerikanischen Seite der mexi- kanischen Grenze zwischen Tijuana und San Ysidoro. Er trug einen langen, lohfarbenen Wildledermantel und eine mit Pentium-Prozessoren besetzte Rastamütze. Er mußte nicht allzulange warten. Etwa zwanzig Minuten lang hatte er den Berghang durch den Gestaltsucher beobach- tet. Das Chaparral auf der mexikanischen Seite flackerte von Chi-Energiewellen. Jetzt trat die erste Person ins Freie, rasch gefolgt von fünf weiteren. Der Jeep mit den Beamten der US-Einwanderungsbehörde hatte im Arroyo geparkt, im Trockental, dem ausgetrockneten Flußbett. Chi-Wellen wogten wie flirrende Hitzeschleier. Der Mann überprüfte das Gestaltmeter: 35 Hertz. Nicht schlecht. Er spuckte aus. Vamonos, Amigos. Es wird Zeit, daß wir weiterkom- men. Hayaku. Er erhob sich aus der Hocke, dann schlenderte er das ausge- trocknete Flußbett entlang auf die wartenden Beamten zu. Im nächsten Moment hörte er, wie der Motor des Jeeps ansprang und katzengleich schnurrte. Als die Illegalen amerikanischen Boden betraten, wurde aus dem Schnurren ein Brüllen, und die Maschine sprang aus der verborgenen Senke hervor. Die sechs Illegalen schien das nicht zu stören. Sie gingen weiter geradezu beiläufig auf den US-Jeep zu, der sich ihnen inmitten einer gewaltigen Staubwolke näherte. Sie versuchten nicht, sich zu verstecken oder zu fliehen. Quietschend kam der Jeep zum Stehen, und das metallische Echo klang weithin durchs Flußbett. Die Illegalen standen einfach nur da und warteten. Einige von ihnen legten ihre Säcke auf den Boden, als die beiden Beamten der Einwanderungsbehörde langsam aus dem Jeep stiegen. Der Anführer der Gruppe winkte ihnen zur Begrüßung zu. »Hola! Konichiwa!« Einer der Beamten drehte sich um, als er sah, daß der Mann mit dem Silbergesicht hinter einem riesigen Kardonkaktus hervortrat. »Was zum...?« setzte er an, wurde aber unterbro- chen. Er erlitt mitten im Satz einen Systemausfall. Im gleichen Augenblick bemerkte auch sein Partner den Eindringling. Doch seine Anzeigen reagierten genauso langsam und wurden durch den plötzlichen Zusammenbruch außer Gefecht gesetzt. Die Illegalen rührten sich nicht. Sie waren in der Bewegung erstarrt und bewerteten die neue Entwicklung aus ihrer Sicht. Viel Gutes würde es ihnen nicht bringen. Die Wellen waren nur für denjenigen umkehrbar, der einen Chi-Absorber trug. Im Umkreis von fünfzig Yards knallte alles, was nicht den geeichten Parametern der Chi-Kompatibilität entsprach, durch wie eine überlastete Sicherung. »Willkommen in den Virtuellen Staaten von Amerika«, sag- te der Mann mit dem Silbergesicht und beugte sich über die gelöschten Gestalten. »Tut mir leid, daß ich euch die Party verderben mußte«, fügte er im Flüsterton hinzu, als er ihre inerten CPU-Einheiten scannte. »Nur einige kleinere Formali- täten, dann lasse ich euch wieder frei.« Das Herunterladen war schnell erfolgt, und der Puffer mit dem Antiviren-Protokoll schützte ihn dabei. Bloß für den Fall, daß sie vernetzt waren. Er überprüfte genau die Anzeige des Meßgeräts. Die beiden falschen US-Beamten waren in jeder Hinsicht von äußerst hoher Qualität, nur in einer nicht. Die Neuankömmlinge hatten ein Interface an ihrem Bewußt- seinsprozessor, das ihm bisher noch nicht untergekommen war. Sehr interessant. Und einer der Illegalen war etwas Besonderes. Etwas ganz Besonderes. Er wandte sich zu einer der auf dem Boden liegenden Ges- talten und drehte sie mit dem Fuß herum. Sie hatte das Gesicht eines jungen Mannes von etwa dreiundzwanzig Jahren. Kurz- geschnittenes kastanienbraunes Haar, glatter Teint, ein un- schuldiger Ausdruck auf den ebenmäßigen Zügen. Der Mann mit dem Silbergesicht tastete ihn ab und brachte ein Treiberho- lo zum Vorschein. Er schaltete es ein. Das Voiceprint nannte seinen Namen: Thomas Ferris. Geburtsdatum: 2. Juni 2005. Anschrift: Hollyo- ake Drive 1862, San Diego. Beruf: Nanopharmazeut, Western Labs. Die medizinischen Unterlagen führten seine Immunisie- rung auf, zuletzt welche gegen Agoraphobie, Depressionen, Gastritis und Todesangst. Der Mann mit dem Silbergesicht grinste. Für eine Marionette hast du dir aber viel Mühe gegeben, Hombre. Trotzdem mußte er die ungeheure Detailarbeit bewundern, die in den Droiden eingeflossen war. Es war ein Kobayashi aus den Neuro- Werkstätten in Todos Santos. »In Ordnung, Mr. Ferris, schauen wir mal, ob Sie uns etwas zu sagen haben.« Mit einem raschen Messerschnitt holte er die Box aus dem Neokortex am Hinterkopf. Während er im Staub kauerte, studierte er ein paar Augenblicke lang die Platine; seine Au- gen leuchteten auf. »Volltreffer, Tyrone!« rief er erfreut aus. »Domo arigato, Mr. Sato!« Er ließ die Platine in die Tasche seines langen Mantels glei- ten. Dann nahm er eine Prise aus der Schnupftabakdose, nieste, spuckte laut aus und sah die anderen auf dem Boden liegenden Gestalten an. Da kann ich mich auch gleich über die hermachen, dachte er bei sich. Es waren ältere Modelle, für die keine große Nachfrage mehr bestand, aber wer weiß ­ viel- leicht brachten sie ihm ja noch ein paar Extrapesos ein. Als er mit dem Ausweiden fertig war, hatte er alle ihre Neu- roplatinen. Dann ging er, wobei die Sporen an seinen Stiefeln aus Eidechsenleder klirrten. BARDO EINS »Du und ich, Arjuna, wir haben schon viele Leben gelebt. Ich erinnere mich an alle, du jedoch nicht.« Bhagavadgita Shuttle L. A. Metro ­ New Narita, 2027 Als Frank Gobi durch den Metroplex von Los Angeles hetzte, um seine Mittagsmaschine nach New Narita noch zu erwi- schen, zeichnete seine Ray-Bans-Minikamera vor dem Duty- free-Shop eine interessante Szene auf. Er war zu spät dran für den Flug und schon ganz außer A- tem, wandte jedoch instinktiv den Kopf, um Zeuge des Aus- tauschs von Konzernenergien zu werden! Zwei amerikanische Angestellte verbeugten sich voreinander. »Ich wünsche Ihnen eine sichere Reise, Johnson-san«, sagte der größere im dreiteiligen Hakama-Anzug zu seinem Kolle- gen. »Domo arigato, Smith-san«, entgegnete sein Freund. Ihrem Midwestern-Akzent nach zu urteilen stammten die beiden aus Chicago. Es geschah in Sekundenschnelle, doch Gobi war sich sicher, daß er die Szene auf Band hatte. Wenn ja, dann konnte er sie bei einer seiner Vorlesungen wiederholen. Das hieß, falls er jemals wieder lehren sollte. Etwas daran war seltsam gewesen. Er mußte sich den Clip noch einmal ansehen, wenn er mehr Zeit hatte. Ihre Verbeu- gungen waren steif aus der Hüfte heraus erfolgt, einfach so. Die Hände, deren offene Flächen fest gegen die Schenkel gepreßt waren, hatten etwas zu mechanisch gewirkt. Lag neuer Konservatismus in der Luft? Die letzten drei Jahre hatte Frank Gobi ein Seminar über transkulturelle Konzernanthropologie und Organisations- schamanismus an der University of California in Berkeley, Zweigstelle Tokyo University, geleitet. Seinen Studenten gefielen diese dem echten Leben ent- nommenen Fallstudien der neuen Geschäftskultur, die sich in der Gegend allmählich durchsetzte. Unter normalen Umstän- den wäre er jetzt damit beschäftigt gewesen, den Clip für eine mögliche Verwendung in der nächsten Ausgabe des interakti- ven Leitfadens TransRim Customs3.0 geistig mit Querverwei- sen zu versehen. Aber im Augenblick hätte Gobi dem Ganzen nicht gleich- gültiger gegenüberstehen können. Erst heute morgen hatte ihm einer seiner Kollegen, der als Trancetherapeut in Johore Bahru in Malaysien lebte, ein paar großartige Sequenzen von Traumsimulationen überspielt. Famoses Zeug, das alle mögli- chen Folgen für den Ätherleib nach sich zog. Aber sein Geist ­ sein Shen ­ hatte sich daran nicht erbauen können. Wer wollte es ihm auch verdenken? Er sah noch das Gesicht seines Sohns in der Chi-Box vor sich. Sie hatten Trevors Bewußtsein an ihn weitergeleitet. Mittlerweile dürfte er wohl wach sein und spielen. Wie spät mochte es für den Jungen gerade sein? Woher sollte er den Unterschied kennen zwischen der Erfahrung, von jeder Ver- bindung abgeschnitten zu sein, und der, sich gleichzeitig an zwei Orten aufzuhalten? Für Trevor war es vermutlich ein verlängerter Urlaub. Wie alle Zehnjährigen war er ganz versessen darauf, vom Schlafen einmal abgesehen, ununterbrochen in Gametime zu leben. Sogar in seinen Träumen spielte er dort. Er hatte schon dunkle Ringe unter den Augen. Gobi sah den blonden Haarschopf seines Sohns, mit dem Messerschnitt eines Chorknaben, und seine blauen Augen, die hell strahlten. »Hi, Dad! Ich weiß, daß du dir wahrscheinlich echt Sorgen um mich machst, aber das brauchst du nicht. Mir geht es prima. Ich weiß, daß ich im Augenblick nicht zu dir kann. Aber das ist schon in Ordnung, ich komme ja bald heim. Ich verspreche es. Ich muß nur noch ein paar Ebenen packen, dann mache ich hier den Abgang. Du glaubst ja nicht, was für ein irres Spiel das ist, Dad! Da stürmen all diese Wahnsinnsteile auf dich ein. Dämonen, Zombies, Gdons, Oger, alle möglichen hungrigen Gespenster... So was hast du noch nicht gesehen! Ups! Ich muß jetzt Schluß machen! Das kostet mich ein Vermögen!« Er lächelte matt. »Du schuldest mir zwei Blitze, Dad! Ich liebe dich! Tschüs! Ich klinke mich aus!« Trevor war sein einziges Kind. Gobi lebte in Scheidung. Sei- ne Exfrau war von Beruf Künstlerin und hatte ein Atelier in den Bergen von Santa Cruz, wo sie lebte und malte. Also war er Mutter und Vater zugleich ­ Papi Gottheit, wie seine Exfrau ihn scherzhaft nannte. Trevor hatte ständig bei ihm gelebt. Bisher. Jetzt lebte er online in der VR-Einheit für Heranwachsende in Alta Bates. Eine Stimme unterbrach seine Gedanken. »Dr. Gobi? Hier entlang, bitte.« Eine Flugbegleiterin von Satori Airlines trat vor, um ihn zu begrüßen, als er den Abflugschalter erreichte. Sie lächelte verkniffen. Das Lächeln war höflich, aber sichtlich erleichtert darüber, daß er endlich eingetroffen war. Auf dem Namensschild stand Claudia Kato. Sie war eine junge, attraktive, schwarzhaarige Japano-Amerikanerin und trug einen grünen Latex-Kimono, auf dessen Ärmel das Logo von Satori prangerte. Zum ersten Mal an diesem Morgen erlaubte sich Gobi, sich zu entspannen. Er hatte es geschafft. Alles würde gut werden. Er mußte nur Vertrauen haben. Das hier war eine Prüfung. Was sollte es sonst sein? Kummer war Balsam für die Seele. Er grinste über seinen Galgenhumor. Manchmal war Galgenhu- mor eine gute Therapie. »Tut mir leid, daß ich so spät dran bin«, entschuldigte Gobi sich, während sie rasch auf den Boarding-Bereich des Shuttles zugingen. »Ich hatte einen schlechten Anschluß von San Francisco erwischt.« Sie traten durch die Schwingtüren des Sicherheitskorridors. »Schon gut, bis zum Start bleiben uns ja noch ein paar Minu- ten«, sagte Claudia Kato und musterte ihn neugierig von der Seite. Sie hatte einen erheblich älteren Mann erwartet. Bei ihrem Job hatte sie es nicht allzuoft mit Gelehrten zu tun. »Unser Bordkünstler vom Live Entertainment Channel ist auch erst vor wenigen Minuten eingetroffen. Er war in einen Stau geraten«, sagte sie in dem Bemühen, lockere Konversati- on zu betreiben. »Es heißt, daß dieser Butoh wirklich sehr gut sein soll. Er gehört zur dritten Generation von LivingTreasure aus Seattle.« »Ich freue mich schon auf seine Performance.« Gobi ver- neigte sich, während er ihr den Paß reichte. Sie standen am Eingang der Gangway, die an Bord führte. Erschütterungen brachten die Plattform wie ein Spinnennetz zum Schwingen, als die Motoren begannen, die Biobeschichtung des Shuttles aufzuwärmen. Claudia zog die blaue Karte durch den Optosensor und gab sie ihm mit einem knappen Lächeln wieder, nachdem das Gerät bestätigend gepiepst hatte. Einen Moment lang nahm sein Holofoto Gestalt an. Die Augen waren rote Nadelstiche auf dem Air Screen, Identifika- tion positiv. Sie zeigten nicht seinen Schmerz. Noch nicht ganz fertig mit der offiziellen Eincheckprozedur, musterte Claudia Kato Gobi ein zweites Mal. Ihr Blick glitt professionell über seinen Körper und hielt gelegentlich inne, um bestimmte Stellen zu prüfen. Es war ein Standardcheck, urteilte Gobi, während er spürte, wie sie sich auf ihn einstellte. Sehr elementar. In Berkeley brachte er seinen Erstsemestern umfassendere Techniken bei. Trotzdem war es ein interessantes Gefühl. Sie hatte eine an- genehme Art, fast als atme sie ihn von innen her an. Er erlaub- te sich, das Gefühl zu genießen, von einer attraktiven Frau gescannt zu werden. Als ihr Check weiter in die Tiefe ging, entspannte Gobi sei- ne gesamten Muskeln. Sie archiviert mich, dachte er und ließ sich treiben. Dr. Frank Gobi, weiß, männlich, Mitte Dreißig, zweiundachtzig Kilo, gut in Form, kräftig, kurzgeschnittenes braunes Haar, leicht ge- lockt. Eine gebogene Nase, die ihm das Profil eines römischen Kaisers auf einer Münze verlieh, aber ohne die Arroganz. Graue Augen, die verträumt und doch wachsam dreinschau- ten. Volle und sinnliche Lippen. Lachfältchen um den Mund herum, die auf ein offenes Wesen hindeuteten. Linien, die inzwischen von der Last eines schweren Herzens nach unten gezogen wurden. Claudia hielt inne und fuhr dann mit ihrem routinemäßigen Gesichtscheck fort. Der Betreffende hatte ein feingeschnittenes Kinn, das ein Grübchen aufwies und auf Willenskraft, Hartnä- ckigkeit und Widerstand gegen jede Art von Obrigkeit schlie- ßen ließ. Er lächelte wieder aufreizend. Sie lächelte zurück und stell- te fest, daß seine Energie ihr eine gewisse Ruhe gab. Es verlieh ihr ein Gefühl der Entspanntheit. Sie musterte ihn erneut. Diesmal aus persönlichem Interes- se. Eindeutig ein attraktiver Mann. Ups, sie sprach sexuell auf ihn an. Halt dich besser nur an deine Pflicht, ging sie innerlich mit sich ins Gericht und setzte anschließend die offizielle Prozedur fort. Seit sie vor sechs Monaten bei Satori Airlines angefangen hatte, war Claudia einer Sicherheitsschulung seitens der Fluggesellschaft unterzogen worden, um verschiedene kör- perbezogene psychosensitive Fähigkeiten aufzubauen. Es handelte sich um ein weltweit anerkanntes Seminar, das die Dale Carnegie School of Light Body Reading entwickelt hatte. Jetzt fing sie an, Gobis Hara zu scannen. Als sie im Geist die Checkliste durchging, stellte sie fest, daß sich bei ihm der Vitalbereich im unteren Schwerpunkt des Rumpfs im Gleich- gewicht mit den körperlichen, mentalen und emotionalen Energien befand. Für einige Augenblicke verschmolzen ihre Brennpunkte. Es war fast wie... nun ja, wie ein kühles Feuer, das sie durchfuhr, bis es in ihrem Gefühlszentrum auf der Ebene des vierten Chakras der sieben größeren Energiezentren des Körpers einen warmen Energiepool bildete. Natürlich entging Gobi nicht, daß sie sich mit seinen gesam- ten persönlichen ­ und sogar intimen ­ Ebenen beschäftigte. Obwohl die Maßnahme von der Federal Aviation Administra- tion gesetzlich vorgeschrieben war, bereitete es ihm Vergnü- gen. So wie sich das anfühlte, stellte es für ihn eine willkom- mene Abwechslung dar. »Sie sind sauber, Dr. Gobi«, sagte sie schließlich und reichte ihm mit einem Lächeln den Paß. »Jederzeit wieder«, lächelte er zurück. »Sie haben eine an- genehme Art«, schmeichelte er ihr. »Sehr zart.« Sie errötete. »Ziehen Sie heute den vegetarischen oder den nichtvegetarischen Bereich vor?« Was ihn anging, so war Nahrung entschieden eine Angele- genheit des zweiten Chakras. Er hatte keinen Appetit. Aber der Flug nach Neo-Tokio dauerte drei Stunden, und wenn er dort ankam, würde er seine ganze Kraft brauchen. »Was servieren Sie denn heute im V-Bereich?« fragte er, von ihrem zufälligen Energieaustausch immer noch erregt. »Mal sehen«, sagte sie sachlich, während sie versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen. »Wir servieren Shiitake-Pizza, Shogun-Salat mit Blaugrünalgendressing... und zur Begrü- ßung Champagner von Domain-Suntory.« »V-Bereich wäre mir recht.« »Sehr gut. Übrigens, Sir«, sie hielt inne, und ihre Stimmlage wurde auf einmal um eine Nuance tiefer. »Haben Sie auch Ihr PVI-Besteck dabei? Das ist für alle Passagiere, die nach Neu- Nippon reisen, vorgeschrieben ­ wie Sie sicherlich wissen.« »Natürlich«, erwiderte er. Das Psychoviren-Immunisie- rungsbesteck befand sich in seiner Aktentasche. Er ließ die Tasche aufschnappen und reichte ihr das versiegelte Päckchen. »Die Vorschriften der FAA verlangen, daß wir Ihr Besteck durch den Flugantrittstester laufen lassen, um sicherzugehen, daß alle Siegel intakt sind«, intonierte sie und ließ den Kanis- ter zur Untersuchung in eine pneumatische Röhre fallen. Eine letzte Angelegenheit mußte noch geklärt werden ­ für die meisten Passagiere der entnervendste Teil der Eincheck- prozedur. Es brachte Claudia nach wie vor zum Frösteln, unabhängig davon, wie sehr das in den zwölf Monaten, seit das Megabeben Neu-Nippon heimgesucht hatte, auch zur normalen Routine geworden sein mochte. »Als Passagier des Flugs 129 von Satori Airlines«, zitierte sie die Präambel der Flugbestimmungen, »erklären Sie sich damit einverstanden, auf jede wie auch immer geartete per- sönliche Haftung durch Satori Airlines für neuronale, psychi- sche oder körperliche Schäden, die Ihnen vor oder nach dem Start zu Ihrem endgültigen Ziel, dem New Narita Internatio- nal Airport in Neu-Nippon, vielleicht entstehen könnten, zu verzichten.« Gobi blickte direkt in die Notar-Vidkamera, die die Szene automatisch aufzeichnete. »Ich bestätige«, antwortete er leise und wandte sich ab. Welche Rechte hatte er jetzt eigentlich noch? Die Rechte der Verdammten? Hatten Gespenster Rechte? Hatte Trevor ir- gendwelche Rechte? Eine düstere Wolke legte sich schwer auf sein Herz. Hatte sein Herz Rechte? »Sie bekommen Ihr PVI-Besteck gleich nach dem Start zu- rück«, teilte sie ihm mit, nachdem die Laborlampe für die Freigabe aufgeleuchtet war. »Ich werde auf der Reise Ihr Flugbegleiter sein«, fügte sie hinzu. »Sie müssen Ihren Impfstoff eine Stunde vor der Landung in New Narita nehmen. Ich werde eine spezielle Durchsage machen, um alle Passagiere daran zu erinnern, daß sie sich rechtzeitig immunisieren«, sagte sie zu ihm. Sie reichte ihm die Bordkarte, in deren schwarzen Firnis- streifen das goldene Satori-Emblem eingeprägt war. »Hier, bitte, Dr. Gobi«, sagte sie nach Beendigung der Prozedur mit jetzt bewußt fröhlicher Stimme. »Sie fliegen in der Chrysan- themen-Klasse, Sitz 6-A. Wenn ich etwas für Sie tun kann, was Ihnen den Flug angenehmer gestaltet, dann zögern Sie nicht, mich darum zu bitten. Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Flug.« »Vielen Dank«, sagte er. Aber seine Worte klangen irgend- wie hohl. Trevor hatte sich gerade im Würfel die Nachrichten angese- hen, als die ersten Meldungen über das Beben eintrudelten. »Dad! Sie sagen, daß genau das gleiche vor Millionen von Jahren auch den Dinosauriern zugestoßen ist.« Sein blasses, lernbegieriges Gesicht trug einen besorgten Ausdruck. »Ver- schwinden wir jetzt genauso?« »Unsinn«, hatte Gobi gesagt. »Das ist nur eine große Wolke, nicht mehr. Wenn sie höher steigt, werden wir alles sehr viel deutlicher erkennen können. Alles wird wieder gut. Keine Sorge, mein Junge.« Doch die Wolke war tagelang nicht gewichen. Und als sie endlich höher gestiegen war, hatte ein Meer strahlender Lich- ter über Neu-Nippon geschwebt, das sämtliche Satelliten blendete. Die Kommunikationsverbindungen zwischen der Inselnation und dem Rest der Welt waren ohne vorhergehen- de Warnung zusammengebrochen. Innerlich erschauerte Gobi noch immer, wenn er an die dar- auf folgenden Wochen zurückdachte. Die Wissenschaftler und Seismopsychologen der Projektgruppe hatten präzise zusam- menzusetzen versucht, was eigentlich geschehen war. Die ersten Meldungen waren nicht sehr hilfreich gewesen und hatten nur oberflächliche Details gebracht. Klar, auf fühlbarer und meßbarer Ebene hatte das Beben auf der Rich- ter-Skala den Wert von 11,2 hervorgerufen. Aber was das genau bedeutete, davon hatte keiner einen Schimmer. Es war fast, als hätte es sich um unsichtbare 11,2 gehandelt. Man spürte sie, bekam sie aber nicht zu sehen. Nachdem er Trevor zu Bett gebracht hatte, war Gobi noch bis in die frühen Morgenstunden aufgeblieben und hatte wie gebannt ferngesehen. Mit roten Augen verfolgte er, wie Bryan Ishimoto für PacRim 2 aus dem russischen Hafen von Wladi- wostock am Japanmeer berichtete. Wladiwostock war das provisorische Hauptquartier für die Notversorgung mit Hilfs- gütern, die die neue UN eingerichtet hatte. Ishimotos Haare wehten vor dem lasererhellten Hinter- grund der stürmischen See. Aufgeregte russische japanische und englische Gesprächsfetzen waren von außerhalb des Bildausschnittes zu hören, während der Fernsehreporter auf die dunkle Weite des Wassers mit den weißen Schaumkronen deutete, die das Lichternetz des Nachrichtenteams reflektierte. »Mehr können wir Ihnen bisher nicht mit Bestimmtheit sa- gen«, verkündete Ishimoto in düsterem Tonfall. »Die Seismo- logen bezeichnen dieses Ereignis bereits als >Megabeben des Jahrhunderts<. Das letzte katastrophale Erdbeben in Neu- Nippon ereignete sich vor fast hundert Jahren, 1923, und dabei starben mehr als einhunderttausend Menschen. Aber dieses neue Beben ist... nun ja, offiziell gibt man noch keinen Kom- mentar ab, doch hinter vorgehaltener Hand ist bereits von Formulierungen wie >über jedes menschliche Fassungsvermö- gen hinaus< und >die ultimative Katastrophe< die Rede, um die Ereignisse zu beschreiben.« Ishimotos Gesicht wirkte abgezehrt, als er einen Blick auf seine Notizen warf. »Über die Abfolge der Ereignisse, die zu dem Beben geführt haben, besteht keinerlei Zweifel. Wie Sie auf Ihrer Bildschirm-Sim sehen können, hat sich genau an dieser Stelle, wie vom Netzwerk der Seismosensoren von Neu- Nippon vorhergesagt, die philippinische Meeresplatte unter die eurasische Kontinentalplatte geschoben. Dann hat sie den Rand dieser Platte nach unten gepreßt und mit einer Heftig- keit, die in der Geschichte der Erdbeben bisher einzigartig ist, wieder nach oben gedrückt...« Der Journalist hielt inne und blinzelte mit geweiteten Au- gen. »Bitte entschuldigen Sie«, bat er die Zuschauer. »Was wir zur Zeit nicht wissen, ist die Antwort auf die Frage: Was ist aus der mächtigsten Stadt der Welt geworden? Wie war es möglich, daß sie einfach vom Angesicht der Erde verschwindet? Bisher ist keiner unserer Satelliten imstande gewesen, irgendwelche Bilder von Neo-Tokio aufzuzeichnen, geschweige denn das Ausmaß der Zerstörung in Japans Hauptstadt zu offenbaren.« Wieder hielt Ishimoto inne und räusperte sich. Sein Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. »Man kann es auch anders ausdrücken: Neo-Tokio wird ver- mißt. Wenn das verrückt klingt, sei's drum.« Er fröstelte. »Das hier ist ohne jeden Zweifel das größte Rätsel der Weltgeschich- te. Bleiben Sie jetzt bitte am Apparat für die neuesten bahnbre- chenden Meldungen, die PacRim 2 Ihnen bringt. Hier spricht Bryan Ishimoto, live aus Wladiwostock, dem Hauptquartier der internationalen Erdbebenhilfe für Neu-Nippon.« Gobi schaltete auf einen anderen Sender um. Eine New- Age-Fernsehstation befragte gerade mehrere Erhabene Meister über die metaphysische Bedeutung des Megabebens. Die beiden Gäste, Beauftragte der Sender St. Germain und des Kommenden Buddhas Maitreya, schienen in dieser Sache unterschiedlicher Auffassung zu sein. Benjamin Dream, ein ernster, weißhaariger Brite, bezeichne- te das Beben als weiteres Indiz für die Auferstehung Christi, der angeblich ein noch nicht näher identifizierter pakistani- scher Einwanderer mit Wohnsitz im East End von London sei. »Meister Maitreya wird erstmals öffentlich auftreten, sobald die Medienwelt ihn dazu einlädt. Dann wird er sein wahres Licht offenbaren.« Anna Seacliffe, eine Beauftragte des Senders St. Germain mittleren Alters, neigte zu der Ansicht, das japanische Volk habe einen kollektiven Pakt geschlossen, sich aus der Außen- welt zurückzuziehen, um endlich seine noch ungelösten Rassenprobleme zu lösen. »Das ist so eine Art karmischer Hausputz...«, sagte die kleine, dunkelhaarige Frau. Sie nestelte an einem Kristallan- hänger an ihrem Hals. »Meine lieben Kinder ­ denn ihr seid meine Kinder ­, verliert nicht das Vertrauen.« Gobi killte die Talk-Show und wechselte wieder zur ersten Würfel-Berichterstattung. Er stieg tiefer in das Stilleben des Satelliten ein und versuchte, weitere Informationen über die Katastrophe zu bekommen. Es geschah um 11:59 am Mittwoch, dem 2. September. Der Wet- terbericht von AsiaSat hatte wolkenlosen blauen Himmel und brü- tende dreißig Grad in Tokios Innenstadt angekündigt. Das Bruttoso- zialprodukt belief sich auf 730 Milliarden, und der Nikkei-Index bewegte sich um die 60 000 Punkte. Die brandheißen neuen Wachs- tumsaktien waren Kyoceras neues Bioplastik. Kaiser Naruhito empfing im Kaiserpalast den neu gekrönten russischen Zar Nikolaus III. Die Keiretsu-Megahochhäuser im Geschäftsviertel von Maru- nouchi summten von der üblichen Aktivität. Gegen Mittag war Underground City dreißig labyrinthische Stockwerke unter der Bucht von Tokio mit 140 000 Menschen dicht bevölkert. Dann setzte ein Knirschen und Rucken ein, und plötzlich änderte sich die Geschichte der Welt für immer. Besonders, als Neo-Tokio drei Wochen später ohne erkenn- bare Anzeichen von Schäden wieder auftauchte. Nein, diese armen Seelen haben gar nicht mitgekriegt, wie ihnen geschah, dachte Gobi, als er die düstere, halogenerleuchtete Kabine des Chrysanthemen-Decks von Shuttle MLS-400 der Satori Airline betrat. Die schräg gestellten Rotoren vibrierten, während er sich zu seinem Sitzplatz begab. Das Pendlerflugzeug würde jeden Augenblick abheben. Gobi nickte den Passagieren, die um ihn herum, saßen, ent- schuldigend zu. Ihre Gesichter, halb im Schatten verborgen, musterten ihn, ohne eine Spur von Neugier zu verraten. Trotz der Chakra-Snacks und Stimmungsdrinks, die man ihnen serviert hatte, während sie an Bord auf ihn warteten, hatte seine Ankunft wenig dazu beigetragen, ihre Laune zu verbes- sern. Er sah sich um und bewunderte die beruhigende Ausstat- tung. Der beigefarbene Teppich des Innenraums, dessen Wellenmuster sich um die Befestigung der schweren schwar- zen Lederdrehstühle kräuselte, ähnelte dem gerechten Sand des berühmten Ryoanji-Tempels in Kioto. Im vorderem Bereich der Kabine gab es eine Hokusai-Welle aus blauem Neon, die dort wie das Hologramm eines Holz- schnitts schwebte; auf ihr stand die Botschaft: »Bitte anschnal- len. Bitte keine negativen Gedanken. Countdown bis zum Start: 02:32.« Dankbar sank er in den tiefen Schoß des Sessels und schnallte sich an. Noch drei Stunden, dann würde er in New Narita landen. Wie es wohl wäre, mit den Japanern, denen er in Neu- Nippon begegnete, zu sprechen? Eines war sicher, er mußte sich beim Umgang mit ihnen vorsichtig verhalten. Den Reise- führern nach waren bestimmte Themen tabu. Themen wie das Beben. »Denken Sie daran, daß Sie Kontokarten austauschen, keine Paradigmen«, hieß es in der Einleitung des Führers für Ge- schäftsreisende durch Neo-Tokio. Gobi fand ein Exemplar der Broschüre in einer Seitentasche seines Sitzplatzes und blätterte es durch. Ihm fiel auf, daß die Broschüre von der für Satori Airlines zuständigen Handelskammer von Neu-Nippon veröffentlicht worden war. »Etikette bedeutet nicht länger nur soziale oder kulturelle Rücksichtnahme, sie ist auch wirtschaftlich und psychologisch von Belang«, las Gobi. »Bitte sprechen Sie mit Ihren japani- schen Gastgebern nicht über das große Erdbeben von '26, und ebensowenig mit irgendwelchen japanischen Staatsangehöri- gen, denen Sie auf Ihrer Reise vielleicht begegnen.« Was dieser handlich kleine »offizielle Reiseführer« nicht erwähnte, war der kollektive Gedächtnisverlust, der das Bewußtsein des gesamten japanischen Volkes wie der Aschen- regen eines Vulkans heimgesucht hatte. Westliche Psychologen schrieben diese Reaktion einer »all- gemeinen Massenhalluzination ­ einer kollektiven Psychose« zu, wie Dr. Henry Bollington von der Harvard Medical School im Journal der Studien über Todesnähe und außersinnliche Trauma- ta erklärte. Gobi hatte sich den Artikel in seine Ray-Bans kopiert. Das war eine interessante Theorie. Aber sicher war er sich dessen nicht. Diese ganze Theoretisiererei erklärte Gobis Meinung nach herzlich wenig, außer vielleicht, warum das wissenschaftliche Establishment zögerte, eine andere brauchbare Erklärung in Betracht zu ziehen. Und vor allem, wie konnte die moderne Wissenschaft die buchstäblich physikalische Veränderung der japanischen Megalopolis erklären? Die dreihundert Stockwerke hohen Wolkenkratzer, die bis in die Stratosphäre von Neu-Nippon aufragten, waren tagsüber ferrokera- mische Kolosse, doch nachts... Guter Gott! Da gab es keine Spur mehr von ihnen. Sie verschwanden ganz einfach, als seien sie zeit- weise vom Rest der stofflichen Welt getrennt. Zwölf Stunden später tauchten sie dann wieder auf, kein bißchen abgenutzt, als wären es Pachinko-Kugeln, die ins Sein hinunterkugelten, wie ein Nichts mit Wertzuwachs, das man für den bescheidenen Preis des Bewußtseins am Ladentisch täglich neu erwerben kann. Jeden Tag wurde das Spiel wiederholt, und der Spieler flippte die Kugeln im Angesicht der finster dreinblickenden Maschine stets aufs neue durch das Dickicht der Widerstände. Gobi knipste das Mini-Videodeck auf der Sessellehne an, um den Start der über dem Landefeld schwebenden MLS-400 zu verfolgen. Das Bild der tanzenden Rotoren wirkte wie ver- rückte Pinselstriche auf Reispapier. Plötzlich spürte er einen unerwarteten Druck in der Ma- gengrube, als die optische Wiedergabe der Vibrationen seinen Körper erreichte ­ die Art Gefühl, die man hat, wenn man einen Expreßlift zum Dach des Azabu Century City Tower hoch über den Smogbänken des Metroplex von Los Angeles nimmt. Auf einmal prasselte grauer Regen gegen sein ovales Passa- gierfenster. Einige Augenblicke lang graue Wellen, die im Regen unten sichtbar wurden, der skelettartige Rumpf eines Mega-Containerschiffs von Hyundai unterwegs nach Long Beach, gefolgt von einem swuuusch! ­ wie kalter Atem ­, das die Halogenbläschen in der Kabine zum Flackern brachte. Eingelullt von den Vibrationen des Shuttles, wechselte Gobi in eine besinnliche Trance über und konzentrierte sich auf die diamantene Spur eines Regentropfens, der gegen das Fenster geprallt war. So lange war es noch gar nicht her. Aber ande- rerseits behauptete man das auch von der Ewigkeit... Wolkenhände Im Dojo von Berkeley war das Licht ein sanft gebrochenes, nahezu gleichmäßiges Weiß. Gerade beendeten die Schüler ihre Vai-chi-Übungen, die Bewegungen trotz der Behinderung durch die Brillen und V- Bänder an den Armen anmutig und geschmeidig. Meister Yang überwachte jeden Schüler einzeln. Er schätzte ihre Form ein, als sie ihre geschmeidigen Bewegungen vollzogen. Gobi beschrieb Wolkenhände. »Bewege dich langsamer, atme mit der sanften Brise, ver- schmelze mit der Natur zu einem heilenden Rhythmus«, hörte er Meister Yangs Ermutigung. »Kopf, Schulter, Arme, Rumpf, Beine und Füße bewegen sich als Einheit, beständig, ruhig und friedlich, als würdest du in einem neuen, allumfassenden Element schwimmen, zu einer anderen Zeit, in einem anderen Raum...« Gobi befand sich auf dem Anwesen der Familie Yang in Shanghai mit den karmesinroten Säulen und Dachschiefern, und während die Drachen der Kinder hoch oben am Himmel zuckten und dahinstoben, strahlte die Sonne auf ihn herab. Meister Yang trat vor, um ihn zu korrigieren. Es fühlte sich an, als habe der Sifu ihn tatsächlich >berührt<. Er korrigierte den Winkel von Gobis Armen und Händen, während er die Wol- kenreise vor seinem Hals und dem Bereich zwischen Magen und Unterleib beschrieb. »Schon viel besser, mein Sohn«, sagte Meister Yang und lä- chelte durch den kargen weißen Bart hindurch, während er in seinem schwarzen, hauchdünnen Seidengewand wieder zurücktrat. »Du machst große Fortschritte.« Gobi schloß die letzten Bewegungen ab und spähte nach der Zeit im unteren Feld seines linken Brillenglases. 13:58. Nach virtueller Zeit nahte die Stunde des Tigers. Sie befanden sich im Shanghai des Jahres 1932, in den letzten Lebensjahren des legendären Tai-Chi-Meisters Yang Chen-fu. Nie hatte es einen größeren Lehrer gegeben. Der Unterricht war jetzt vorbei. Mit an die Brust gepreßten Fäusten verbeugte sich Gobi vor dem VR-Bild des Sifu, dann zog er sich die Brille vom Kopf, ehe die Produktionsdaten über den Abspann flimmerten. Auch die anderen Schüler legten ihre Brillen ab, und auf einmal wurde die Gruppe von Shanghai nach Berkeley ins Vai-chi-Dojo des Jahres 2027 versetzt. Gobi blinzelte noch, als er den kleinen, rundlichen Mann mit dem weiß durchwobenen braunen Bart erkannte, der schwerfällig auf ihn zukam. Das war Hans Ulbricht, einer seiner Freunde, der neue Physiker im Lawrence-Livermore-Labor. »Ah, Frank, wie geht's?« fragte der Wissenschaftler munter. »Ich fürchte, ich kriege diese Wolken immer noch nicht richtig hin. Vom Goldenen Hahn auf einem Bein ganz zu schweigen! Ich werd's nie schaffen, auf einem Bein zu stehen. Hast du schon zu Mittag gegessen? Ehrlich gesagt, ich verhungere! Melissa hat mich wieder auf Diät gesetzt. Hättest du Lust, mir bei einem Dim-sum Gesellschaft zu leisten? Ich weiß, es ist schon spät, aber bis zum nächsten Seminar habe ich noch etwas Zeit.« Frank Gobi lächelte. Er mochte Hans. Er mochte seinen der- ben Humor und seine Gabe, das große Ganze zu sehen, sogar dann noch, wenn es über ihm zusammenzubrechen drohte. Hans glaubte an Veränderungen, und wenn die Veränderung auf sich warten ließ, nun ja, dann half er in seinem Labor eben etwas nach. Er hatte die meisten seiner Mitwissenschaftler hinter sich gelassen, die noch immer neue Fraktale ins Leben riefen, mit denen sie die Post-Fadentheorie der Materie be- schrieben. Hans war entschieden ein Mensch, bei dem der Geist einen höheren Stellenwert als das Atom einnahm. »Ich werde zaghaft mitknuspern, nur um dir Gesellschaft zu leisten«, grinste Gobi, als sie in einen gemeinsamen Schritt verfielen. »Gut, gut«, stimmte Hans barsch zu. »Alles in Butter? Und Trevor, wie geht's dem Jungen?« »Prima«, erwiderte Gobi. »Uns geht es so gut wie möglich. Das ist schon eine irre Welt.« »Ja«, brummte Hans. »Ist es. Wer weiß schon, wie man aus alledem Sinn machen soll?« Er schüttelte den Kopf. »Je mehr wir über sie herausfinden, desto verwirrter werden wir, nicht klüger.« Schweigend gingen sie vom Dojo auf dem Campus zur Te- legraph Avenue. Gobi schob sein Fahrrad neben sich her, bis sie das Great-Shanghai-Iron-&-Steelworks-Restaurant erreich- ten, in dem vegetarische Dim-sums serviert wurden. Es war ein Stammlokal der Studenten. »Tja«, sagte Hans, während er Gobi einen Jasmintee ein- schenkte. »Erst die Sache mit Neo-Tokio und jetzt das.« Er nickte in Richtung Wandwürfel, der die neuesten Nach- richten über den Sender-Emmanuel-Zwischenfall zusammen- faßte, den man inzwischen auch als der Welt erste Virtuelle- Realität-Katastrophe online bezeichnete. Gobi warf einen kurzen Blick zum Würfel. Er hatte die Clips schon gestern abend gesehen und heute morgen noch einmal und hatte darüber gebrütet. Er sah das mittlerweile vertraute Gesicht von Patrick Bruce mit seinen glänzenden blonden Dread-Troden, der ein Rasta-Navaho-Gebet aufsagte, während er seine Jünger in den Jordan führte. Viele hielten Patrick Bruce für den »Papst der VR«, ein Titel, den ihm die Zeitschrift Popular Karma verliehen hatte. Geschätzte 80000 Trodenköpfe waren ihm zum Tele-Tunken nach Zion gefolgt, mit der höchsten Einschaltquote aller Zeiten. Es war eine Massenimmersionstaufe des Wahren Lichts. »Hinter mir ist alles schön, vor mir ist alles schön, unter mir ist alles schön, über mir ist alles schön, um mich herum ist alles schön, denn Ich-und-Ich haben sich gefunden und alles ist schön«, hatte Bruce am vorigen Abend zur Eröffnung der VR-Online-Taufe gesungen. Gegen Ende der Nacht waren im ganzen Land einhundert- dreiundneunzig Menschen durch außergewöhnliche Unfälle ums Leben gekommen. Einige waren an Stromschlag gestor- ben, während andere sich die Troden um den Hals geschlun- gen und sich im Begeisterungstaumel erdrosselt hatten. Dar- über hinaus waren siebenundachtzig Gehirntote zu verzeich- nen gewesen, deren Systeme die Verbindung zum Sender Emmanuel verloren hatten und deren Bewußtseine irgendwo in der Datenflut von Großrechnern in Salt Lake City, Minnea- polis und Albuquerque verlorengegangen waren. Nachdem das Engel-Gabriel-Suchprogramm der Sekte die verschollenen Bewußtseine an keinem der bekannten Netz- knoten mehr hatte auffinden können, hatte Patrick Bruce erklärt, daß Jah sie zu sich genommen habe und sie jetzt an Marleys Busen ruhten. Hans schüttelte traurig den Kopf. »Was für eine Tragödie! Und dennoch«, er seufzte, »so ein Unfall war vorauszusehen. Aber das ist nichts im Vergleich mit Neo-Tokio. Die Lage dort, mein Freund, ist gefährlicher als alles, was du dir überhaupt vorstellen kannst.« »Wie kommst du darauf?« fragte Gobi, während Hans von einem in Sojasauce getunkten Pilz-Shu-mai abbiß. »Stadtentmaterialisierung, altes Haus, ist das definitive Phänomen unserer Zeit. Was Sender Emmanuel angeht, so ist das eine bedauerliche Verirrung. Fehlgeleitete Neurotechnolo- gie. Aber eine ganze Stadt, die Woche für Woche einmal am Tag für zwölf Stunden verschwindet?« »Was, glaubst du, geschieht da drüben, Hans?« fragte Gobi ruhig und legte seine Stäbchen zur Seite. Er kämpfte gegen ein Gefühl der Hilflosigkeit an. Wenn er nicht aufpaßte, konnte das leicht zu Depressionen führen. Das griff inzwischen ganz schön um sich. Den »Neo-Tokio-Schnupfen« nannten es die Medien. Vielleicht wurde es ja allmählich Zeit für eine Wie- derholungsimpfung. »Frag mich bloß nicht, wohin sich Neo-Tokio verkrümelt hat, okay?« Er gestikulierte. »Zum Einkaufen gegangen. Ins Kino. Es macht Urlaub. Ich habe keinen Schimmer. Ist mir auch egal. Tatsache ist, daß es von sieben Uhr nachmittags bis ungefähr sieben Uhr früh verschwindet. Was gibt's sonst schon Neues?« Er zuckte mit den Achseln. »Wie kannst du sicher sein, daß Neo-Tokio wirklich irgend- wohin verschwindet?« Gobi übte Druck aus. Da, er war das lastende Gefühl auf seiner Brust los. »Was ist, wenn wir und nicht sie den Verschwindibus machen?« »Frank, Frank.« Hans tätschelte sachte Gobis Hand, ein Stück Tomales-Bay-Pilz zwischen den Zähnen. »Spiel nicht den Stammtischschamanen, okay? Hör einfach auf die Fakten. Hier ist nicht bloß physikalischer Raum betroffen, das ist offensichtlich. Es geht auch um Zeit. Keine unserer Infrarot- sonden kann Neo-Tokio zur Zauberstunde durchdringen. Aber wir konnten den exakten Augenblick ­ die präzise Nano- Nanosekunde ­ messen, in dem die Stadt sich auflöst und in dem sie zwölf Stunden später erneut auftaucht.« »Was heißt das nun wieder?« Hans sammelte seine Gedanken und fuhr dann fort: »Unse- re supertollen, affenscharfen Instrumente am Himmel über Neu-Nippon können uns nur eines mit einem bestimmten Grad an Sicherheit sagen, nämlich daß es eine allmähliche Transduktion der Frequenzsignale gibt, die vom niedrigsten bis zum höchsten Potential reicht.« »Und was heißt das genau? Bitte in Glückskekssprache.« Hans blinzelte Gobi kurz an. »Es heißt genau das.« Er run- zelte die Stirn. »Den Daten nach, die wir empfangen, scheint Neo-Tokio sich auf atomarer und subzellularer Ebene im Fluß zu befinden, vielleicht durch das Erdbeben ausgelöst. Den Grund dafür kennen wir nicht. Das ist das große Geheimnis, okay? Man könnte den Zustand, in dem sich die Stadt befin- det, als einen der beschleunigten Umwandlung in eine andere Energiematrix bezeichnen. Zieht man das Pribram-Modell zu Rate...« »Karl Pribram? Das Gehirn als Hologramm?« Hans beugte sich vor und kniff Gobi liebevoll in die Wange. »Du hast ja doch noch einen Funken Wahrnehmungsvermö- gen übrig. Ja, Karl Pribram, ein simpler Neurochirurg aus Stanford, der dort weitergemacht hat, wo die Einsteinsche Relativität endete.« Hans räusperte sich und fing an zu zitieren: »>Unser Gehirn erschafft auf mathematischem Weg konkrete Realität, indem es Frequenzen aus einer anderen Dimension interpretiert...<« »>...einem Reich der bedeutungsvollen, ursprünglichen Realitäts- struktur, die Raum und Zeit transzendiert<«, unterbrach Gobi Hans und beendete das berühmte Theorem, das jeder schon in der Schule lernte. »Berühmte letzte Worte, stimmt's?« Hans lachte. »Beson- ders wenn man an unsere heutigen Vorstellungen von Realität denkt, hm? Schau nur, wohin sie uns gebracht haben. Taro- wurzel gefällig?« »Das Gehirn ist ein Hologramm, das ein holographisches Universum ausdeutet«, dachte Gobi laut nach. »War er nicht ein Genie? Ist doch genial«, sagte Hans zu- stimmend und wischte sich mit einem kleinen Tuch übers breite, gerötete Gesicht. »Und wo kommt da die Zeit ins Spiel?« forderte Gobi seinen Freund heraus. »Genau. Wo kommt die Zeit ins Spiel«, erwiderte Hans, während er sein Zeiteisen aus der Westentasche zog und draufschaute. »Also, ich muß in zwanzig Minuten ein Seminar abhalten. Wie steht's mit dir?« Gobi seufzte. Beide Männer spürten, daß dem Gespräch et- was Seltsames anhaftete. Sie teilten den Augenblick, und so war ihnen bewußt, daß dieses Seltsame durchaus dazugehörte. Es wurde langsam zum Status quo, daß das Unbekannte in ihrem Leben zu etwas Vertrautem wurde. »Seltsam«, sprach Gobi es laut aus, während Hans seine Gedanken las und grinste. Er nickte begeistert. »Ja, Zeit ist nur eine weitere Illusion, mein Freund. Wußtest du, daß es in Papua-Neuguinea einen primitiven Stamm gibt ­ sie haben gerade erst die Credit Chips entdeckt ­, der glaubt, daß das Universum schon vor Millionen von Jahren geendet hat? All dies«, Hans deutete vage im Raum umher, »ist bloß der Fallout, der Staub, der sich nach der Apokalypse setzt.« Er beugte sich verschwörerisch zu Gobi vor. »Sag mir eines, Frank. Du kannst ehrlich zu mir sein. Du bist doch ein Top- Experte in Traumzeit-Technologie. Vielleicht gibt es die Zeit ja gar nicht ­ oder aber es gibt sie und sie existiert gleichzeitig, das heißt: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind alle paral- lel zueinander auf getrennten Spuren untergebracht. Dann springt Neo-Tokio vielleicht nur von Spur 1 zu Spur 100 oder an einen Ort, von dem wir bloß nichts wissen...« Gobi fragte seinen Freund sanft: »Was willst du damit sa- gen, Hans?« Hans blinzelte ihm pfiffig zu. »Glaubst du an Wiederge- burt? Sei ehrlich.« Gobi wich der Frage aus. »Keine Ahnung. Aber an geistige Fehlgeburten glaube ich ganz entschieden. Du bist das beste Beispiel!« Er lachte. »Arbeitest du zur Zeit nicht darüber ­ über Wiedergeburt, Reinkarnation? Eh?« Frank Gobi sah auf, ohne zu antworten. »Es spricht sich manches herum, Frank«, sagte Hans, zer- knüllte die Serviette auf dem Tisch und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich bin mir nicht sicher, worauf du abzielst«, erwiderte Gobi vorsichtig. »Schon okay, wenn du nicht darüber reden willst.« Wieder grinste Hans ihn an. »Melissa meint, du verbringst viel Zeit im Arboretum.« Gobis Augenlider zuckten kaum merklich, aber seine Miene blieb ausdruckslos. »Jetzt kipp nicht gleich aus den Latschen«, piesackte Hans ihn. »Melissa ist im Vorstand. Sie ist meine Frau, Frank, sie vertraut mir.« Plötzlich rötete sich Hans' Gesicht vor Verlegenheit. »Ach, tut mir leid. Ich wollte dir nicht nachspionieren. Ich hätte es besser wissen müssen. Du darfst ja nicht über deine Arbeit reden. Schon klar. Vergiß, daß ich es jemals erwähnt habe, okay?« »Keine Sorge, Hans, da gibt's gar nichts zu bereden.« Gobi schüttelte den Kopf. »Ehrlich. Und das kannst du auch Melissa sagen.« »Ja«, meinte Hans und erhob sich. »Klar, ich sag's ihr.« Draußen in der Telegraph Avenue, wo Hans und Gobi sich trennten, wuselten Uni-Studenten wie Kaulquappen über die Gehwege, und die Vögel auf den grün belaubten Bäumen waren ungewöhnlich still. Gobi sah sich das eine Weile an. Er spürte dieses Seltsame noch immer. Er eilte die Straße hinunter zu Moes Buchladen, wo er sein Fahrrad angekettet hatte. Das Gefühl verfolgte ihn wie ein unsichtbarer Schatten. Fahrrad-Karma Gobi spürte den Wind in den Haaren, als er über den Campus radelte und dabei vorsichtig Studenten auswich, die auf dem Gehweg umhermäanderten. Sender Emmanuel, Neo-Tokio, ganz gleich, wohin mich die nächste Spiraldrehung auch führt... mit der Welt wird es weitergehen. Wenigstens war es auf die eine oder andere Weise immer so. Oder nicht? Das Sonnenlicht hatte inzwischen einen warmen, schläfri- gen Goldton angenommen; die auf dem Platz versammelten Studenten warfen sich blitzende Frisbeescheiben zu und sahen zu, wie sie wie geölt durch die Luft flitzten. Eine Atmosphäre träger Unschuld machte sich breit, als der Altweibersommer- nachmittag sich allmählich dem Ende zuneigte. Wieviel konnte Melissa überhaupt wissen? Gobi zerbrach sich den Kopf über die Frage, während er am Gebäude der Studen- tenvertretung vorbeischoß. Er war sicher, vorsichtig gewesen zu sein, aber andererseits hatte er vielleicht doch nicht alle Spuren verwischt. Jedenfalls mußte sie wissen, daß er die letzten paar Jahre als Freiwilliger im Arboretum of Light gearbeitet hatte, einer an der zerklüfteten Pazifikküste nördlich von San Francisco auf fünfzig Acre Land gelegenen Sterbeklinik. Sie gehörte dem Verwaltungsrat an. Sie sah ihn während der ganzen Zeit. Sie las die Berichte der Mitarbeiter. An zwei Wochenenden im Monat bot Gobi für unheilbar kranke Patienten Therapiesitzungen in neurolinguistischer Shiatsu-Körpersprache an. Er hatte eine Methode entwickelt, wie man zur Vorbereitung auf die Todeserfahrung Energie- zentren im Körper wieder ins Lot brachte. »Sie müssen die Verstopfungen der Chakras lösen, damit die Lebensenergie wieder so ungestört wie möglich fließen kann, ohne daß sie in frühere Konditionierungen zurückfallen«, pflegte er zu scher- zen. »Deshalb haben Sie mich doch berufen, oder? Ich bin der Roto-Anfeuerer der Seele.« Außerdem leitete er noch eine Anzahl Clear-Light- Workshops, die zum Ziel hatten, das höhere Bewußtsein und die Selbstwahrnehmung zu stärken, damit sich der oder die Sterbende des genauen Augenblicks des Todes so bewußt wie möglich sein konnte. Und sollte ihn jemand bei sich haben wollen, wenn der Zeitpunkt nahte, dann diente er auch als eine Art Hebamme, die beim Übergang aus diesem Leben ins nächste behilflich war. Aber keinem aus dem Mitarbeiterstab des Arboretums war bekannt, daß Gobis Arbeit damit noch längst nicht beendet war. Er ging noch ein Stückchen weiter, als irgend jemand sich hätte träumen lassen. Manchmal überschritt er sogar die Linie wie ein neutraler Beobachter auf der anderen Seite. Und manchmal betrieb er auch Aufklärungsarbeit ­ was er als »Bewußtseinsnavigation« bezeichnete. Das war ein Verfahren, das er nie jemandem enthüllen würde, schon gar nicht Melissa, für die Gerüchte eine holisti- sche Kunstform waren. Die Seele hacken. Das würde die transpersonale Ärzteschaft schließlich nicht gerade als spirituell korrekt erachten, nicht wahr? War es karmisch in Ordnung, bei der Seelenwanderung den Voyeur zu spielen? Beim tatsächlichen Vorgang der geisti- gen Evolution Zeuge zu sein? Er konnte bereits den entrüsteten Aufschrei der Öffentlich- keit hören, wenn sein Geheimnis jemals herauskäme. »Dr. Frankenstein, nehme ich an...?« Zweifellos würde der Mob dann sein Labor stürmen. Vielleicht würden sie dabei sogar einige der Bewußtseinsproben finden, die er archiviert hatte! Gobi war es gelungen, ein paar flackernde Astralbilder her- unterzuladen: manche wunderschön, manche erschreckend. Zum Beispiel dieses hinreißende Mädchen. Dasjenige, das kürzlich gestorben war. Wie war doch gleich ihr Name gewesen? Ingrid. Der Krebs hatte ihren zerbrechlichen Körper aufgezehrt, und sie hatte in faulig riechende Bandagen gewickelt dagelegen. Sie war so wunder- schön gewesen, so jung! Dann war ihr eigener Körper über sie hergefallen, bis sie nicht mehr wiederzuerkennen gewesen war. Doch kaum hatte sie das siebente Tor durchquert, kaum war ihr Licht durchs Schlüsselloch des tausendblättrigen Lotus am Scheitel des Sahasrara-Kanals geschlüpft, als Gobi sie wie eine betörend schöne Tänzerin wiederauferstehen sah, die sich an ihrer inneren Blöße weidete. Ihre Brüste waren jetzt voll und üppig, ihre Augen funkelten im milden Glanz der Leidenschaft, und das goldene Haar war den Rücken hinuntergeflossen, als sie sich all den angelockten Engeln zugewandt hatte, die scharenweise zu ihr strömten. Sie versetzte sie in Verzückung! Gobi hatte eine ganze Spule gebraucht, um die Freude ihrer Be- freiung aufzuzeichnen. Natürlich hatte er alles auf samskarischem »Film«. Die mentalen Impulse hinterließen auf dem ersten Negativ zarte Eindrücke, und er arbeitete gewissenhaft daran, den Traum einzufangen. Denn selbstverständlich war es nur ein Traum. Wenn die Seele des Verstorbenen erst einmal die Wahrheit hinter der Illusion er- kannt hatte ­ wie schrecklich und niederschmetternd sie auch sein mochte ­, dann bewegte sie sich zum nächsten Stadium weiter, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Der Film war zu Ende, wenn der Abspann des vergangenen Lebens am Ende der Spule auslief. O ja, sie würden ihn ganz bestimmt kreuzigen, wenn sie jemals herausfänden, was er beabsichtigte! Aber eines Tages ­ jetzt noch nicht, nein, noch war der Augenblick nicht gekom- men ­ würden sie seinen Beitrag zu schätzen wissen. Bis dahin mußte er eben weiter im Verborgenen arbeiten. Ein weiterer Pionier, der seiner Zeit voraus und auf nicht anerkanntem Gebiet tätig war. Nur ein Anthropologe, der Material über das Leben nach dem Tod sammelt. Nein, Melissa war sich über das volle Ausmaß seiner Forschun- gen definitiv nicht im klaren. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Was nicht hieß, daß nicht irgendein Sensitiver etwas mitbekom- men haben könnte. Besonders, wenn er sich irgendwo auf dem Anwesen befunden hatte, während er mit seinen Klienten diese »Reisen« unternahm. Es fanden im Arboretum weiß Gott genug andere ständige Workshops statt. Aber er müßte schon gut sein ­ wirklich gut ­, um ihn aufgespürt zu haben. Er runzelte die Stirn. Wer? Tara Verdammt! Er wich einem Trodenkopf aus, der plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen schien und seinem Blindenhund folgte. Für Gobi waren es Leithunde für Verwirrte. Technisch gesehen waren diese Typen ja nicht einmal blind. Sie litten an VR-Dyslexie ­ einer Form der extremen Koor- dinationsstörung zwischen Auge und Hand, die von zuviel VR-Trips herrührte. Sie brachten es nicht fertig, so einfache Dinge zu tun wie Schnürsenkel binden oder einen Fuß vor den anderen setzen. Sie mußten korrigierende Kopfstützen tragen und waren auf Blindenhunde angewiesen. Wer-a-a-a-a-a-a-hhh!!! Ra-a-a-a-a-a-a-a-a-a!!! Sein Fahrrad kam ins Schleudern und holperte über eine Unebenheit. Gobi riß die Lenkstange hoch wie ein Akrobat, der im Begriff war, über die Bühne zu taumeln. Auf ging's; alles stand kopf, und dann rumms! Gobi landete auf dem Rücken und stellte fest, daß er zum blauen Himmel hinaufstarrte, während sich ein Kreis aus Gesichtern bildete, ein sich bewegendes Mandala aus Augen, Nasen, Wimpern, Mündern und Kinnen. Für einen Augenblick herrschte absolute Stille, perfektes Gleichgewicht. Er wollte sich nie mehr rühren. Aber er war sich nicht einmal sicher, ob das überhaupt noch möglich war. Irgendwie war die Verbindung zwischen seinen Gedanken und seinem übrigen Körper unterbrochen. Steh auf! Pech gehabt. Panik überschwemmte ihn. Hatte er sich das Rückgrat gebrochen? »Zur Seite, bitte, lassen Sie ihm doch etwas Luft! Ich bin Ärztin!« forderte eine autoritäre Stimme. Instinktiv wich die Menge einen Schritt zurück. Dann erschien sie. Grüne Augen, von einem Wasserfall ho- nigfarbenen Haars umrahmt. Auf ihrem Gesicht lag ein Aus- druck der Wachsamkeit. Sie beugte sich über ihn, und er roch den süßen Pfirsichduft ihrer Haut und spürte ihren warmen Atem auf seinem Gesicht. Sie trug eine grüne Tibet-Jacke mit pinkfarbenen Blitzstrahlen im Vajrayana-Stil auf den Ärmeln und weite afghanische Guerilla-Hosen. Er spürte ihre sanfte Hand auf seiner Stirn. Herrgott, war sie begnadet! Warme, durchdringende Energie floß seinen Nacken hinunter in die Schultern und weiter in den Rücken. Der Schmerz und das Dröhnen im Kopf wichen allmählich. Sie musterte ihn eindringlich, und ihre besorgte Miene verwan- delte sich in ein zuversichtliches Lächeln. »Sie werden es wohl überleben«, sagte sie und strich rasch mit beiden Händen über seinen Körper, als wechselte sie die Laken auf einem Krankenhausbett. »Ihr Schädel ist noch heil, und die inneren Organe scheinen nicht verletzt zu sein. Da haben Sie ja eine saubere Landung hingelegt. Ich bin beein- druckt!« Er wollte noch immer nicht aufstehen. Er wollte hier liegen- bleiben, unter ihrer göttlichen Gestalt mit den wundervoll heilenden Proportionen. Aber mehr als alles andere wollte er unter dem Blick dieser hypnotischen grünen Augen ungestört ruhen. »Sind wir uns schon einmal begegnet?« Er brachte ein schwaches Grinsen zustande und wunderte sich, daß er jetzt wieder in der Lage war, seine Gedanken klar auszudrücken. »Vielleicht in einem früheren Leben?« Sie lachte zum ersten Mal, und er wollte es für immer im Gedächtnis behalten. Es war ein goldenes, rauhes Lachen mit dem Timbre des sonnenüberfluteten Weidelands der Sierras. »Nein, ich glaube kaum«, sagte sie. »Jedenfalls nicht daß ich wüßte. Können Sie sich setzen? Versuchen Sie's.« »Na schön, aber ­ was ist geschehen?« »Sie wollten den Hund nicht überfahren«, faßte sie den Zwischenfall zusammen, während sie ihm mit einem einzigen Ruck ihrer kräftigen Hand half, eine Sitzstellung einzuneh- men. »Aber ich glaube nicht, daß es Sie gestört hätte, den Studenten zu überrollen«, kicherte sie. »Aau!« stöhnte er, als sein Kopf sich wieder meldete. »Da haben Sie recht. Diese Trodenfreaks gefährden den Verkehr. Ganz zu schweigen von sich selbst.« »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte sie und reichte ihm die Hand. Nachdem sie an ihm gearbeitet hatte, war die Innenflä- che jetzt richtig erhitzt. »Hi, ich bin Tara. Tara Evans.« »Und ich bin Frank...« Er begann sich vorzustellen. »Frank...« »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte sie. »Sie sind Frank Gobi.« »Stimmt«, meinte er verblüfft. »Sind wir uns doch schon mal begegnet? Ich dachte...« »Sie sagten, in einem früheren Leben«, unterbrach sie ihn. »Davon weiß ich nichts. Aber ich habe ein paar Ihrer Vorle- sungen besucht. Sie sind sehr gut. Ihre Arbeit gefällt mir. Ich glaube, Sie sind da etwas auf der Spur.« »Danke«, ächzte Gobi, während er aufzustehen versuchte. »Warten Sie, ich helfe Ihnen. Das war ja ein häßlicher Sturz.« Ihr Griff war genau das, was er brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen. Er klammerte sich noch einige zusätz- liche Sekunden an sie und spürte ihre geschmeidige Taille, bis sie sich ihm entwand. »Ich glaube, Sie schaffen das jetzt allein«, lächelte Tara. »Nur zu, versuchen Sie, ein paar Schritte zu gehen.« Er warf einen Blick auf sein Fahrrad. Das Vorderrad war verbogen. »Das Ding werde ich wohl heimschieben müssen«, sagte er und hob es vom Boden hoch. »Ist es weit?« fragte sie. Gobi musterte sie erneut, diesmal aus der objektiveren auf- rechten Haltung. Jetzt, da er ihre Figur zur Gänze sah, erschien sie ihm noch schöner. Die weite Hose und die lockere Jacke unterstrichen die leichte Wölbung der Brust und den Schwung ihrer schlanken Hüften. Tara sah aus, als wäre sie etwa achtundzwanzig. Sie war mittelgroß, und die Proportionen der langen Nase mit den weiten Nasenlöchern paßten perfekt zu den hohen Wangen- knochen. Die Lippen waren voll und sinnlich, die Augen ein elektrisierendes Grün inmitten ihrer durchscheinend weißen Haut. Sie hatte den sehnigen Körperbau einer indischen Tän- zerin. Gobi blinzelte. Er mußte noch einmal hinsehen, um sicher- zugehen. War das eine optische Täuschung? Im einen Moment wirkte ihr Gesicht beinahe nordisch, aber schon im nächsten schien sie einen viel dunkleren Teint zu haben, fast afroameri- kanisch oder sogar südasiatisch. Jedenfalls hatte er eine Haut wie die ihre noch nie gesehen. Die Pigmente veränderten sich schneller, als das Auge folgen konnte. Oder war bei ihm jetzt eine Schraube locker? »Ich fragte, ob Sie es noch weit haben?« Tara begegnete seinem männlichen Blick ohne eine Spur von Unsicherheit, als täte er nichts zur Sache. Was bedeutete, daß sie sein Interesse an ihr entweder nicht ernst oder für selbstverständlich nahm. Wenn sie doch nur etwas lockerer würde, dachte er, das wäre nett! »Ähem, schauen wir mal«, sagte Gobi und blickte sich um. »Wäre das Café da drüben zu weit entfernt? Hören Sie, Sie haben mich vor einer Gehirnerschütterung und wahrschein- lich noch Schlimmerem bewahrt. Für Ihre Mühe schulde ich Ihnen zumindest einen Drink. Nein, ich bestehe darauf. Eine Tasse Tee? Kaffee?« »Ich fürchte, Sie übertreiben, Dr. Gobi«, lächelte sie und enthüllte dabei ebenmäßige weiße Zähne. »Bei Ihrer Arbeit tun Sie das doch nicht, oder?« »Bitte nennen Sie mich nicht Doktor«, bat er sie. »Das gibt mir das Gefühl, als sortierte ich optische Chips.« Sie lachte. »Na schön, künftig nicht mehr. Wenn Sie mich Tara nennen.« »Aber sagten Sie nicht, daß Sie Ärztin wären?« fragte er sie. »Was auch immer Sie getan haben, es hat wirklich geholfen. Das ist mein Ernst. Ich fühle mich schon sehr viel besser. Danke.« »Freut mich«, antwortete sie. »Eigentlich bin ich Doktor des Chi-kung, und außerdem praktiziere ich Kräutermedizin.« »Eine Heilerin«, sagte er. »Gewissermaßen. Meistens verhelfe ich den Menschen da- zu, sich selbst zu heilen. Sie machen das gar nicht schlecht, finde ich. Aber ich sollte jetzt wirklich gehen.« »Nein, bitte, gehen Sie noch nicht«, drängte er sie. »Um die Wahrheit zu sagen, ich bin noch ein bißchen benommen.« Sie stimmte sich auf ihn ein. Es fühlte sich wie ein weicher Orgonstrom an, der den knappen Meter freien Raum zwischen ihnen überbrückte. Es brachte ihn innerlich zum Schwingen. »Ich bin mit jemandem verabredet, aber er ist schon recht spät dran«, sagte sie ihm. »Na schön, wenn Sie möchten. Gehen wir.« Sie gingen auf ein Café mit Außenbedienung zu, wo Hunde ­ so würdevoll wie Staatsmänner und Dichter ­ geduldig unter den Tischen warteten, während ihre menschlichen Gegenstücke sich in der Sonne aalten und dabei an Honigtees und Algen-Cappuccinos nippten. Sie tranken beide Quellwasser aus Bhutan. Gobi tätschelte einen deutschen Schäferhund, der wie Dos- tojewski aussah. Plötzlich war seine Zunge wie gelähmt, und er kam sich fast schüchtern vor. »Braves Hundchen«, sagte er. Er hatte eine Vorliebe für die russischen Realisten. »Also«, sagte sie und spürte seinen Stimmungsumschwung, jetzt, da sie einander gegenüber Platz genommen hatten. »Was ist das für ein Name? Gobi? Klingt wie die Wüste in Zentral- asien. Die Seidenstraße. Tee und Gewürze und buddhistische Schriftrollen und all das.« Der Hund leckte seine Hand. Er sah zu ihr hoch. »Nun ja, stimmt. Aber der Name ist eine Kurzform. Ich stamme von hugenottischen Vorfahren ab, auf dem Umweg über die zent- ralasiatische Steppe. Früher war der Name viel länger. Ir- gendwas völlig Unaussprechliches, eigentlich aus dem Uygyu- rischen. Er wurde zu Gobi verkürzt.« »Das kann ich nachempfinden«, gestand Tara ein. »Mein Name ist auch eine Abkürzung.« »Ach, wirklich?« fragte er. »Dann haben wir ja etwas ge- meinsam. Wie war denn Ihr ursprünglicher Name?« »Ein ziemlicher Zungenbrecher«, sagte sie. »Mein voller Name lautet Tara O'Shaughnessy Evans-Wentz.« »Nein!« »Doch.« »Nein! Ich glaube es nicht«, sagte er. »Sind Sie verwandt mit...?« »Ja«, sagte sie. »Sie sind mit W.Y. Evans-Wentz verwandt? Dem W.Y. E- vans-Wentz?« »Ja, bin ich«, erwiderte Tara. »Walter Yeeling Evans-Wentz war mein Ururgroßonkel.« Gobi grinste. »Ich kann es kaum glauben, daß ich hier tat- sächlich einer waschechten Evans-Wentz gegenübersitze. Er war immer mein Idol. Der erste Westler, der dem Westen das Tibetische Totenbuch gebracht hat. Auch seine anderen Bücher sind Klassiker: Yoga und Geheimlehren aus Tibet. Tibets Buch der Großen Befreiung. Einer der frühen Pioniere auf dem Gebiet der ost-westlichen Bewußtseinsarbeit.« Gobi schüttelte bewun- dernd den Kopf. »Und er war gebürtiger Kalifornier«, ergänzte Tara. »Aus San Diego. Vergessen Sie das nicht.« »Sind Sie von dort?« fragte Gobi erstaunt. »Größtenteils«, erwiderte sie. »Wissen Sie, Großonkel Willy war so etwas wie das schwarze Schaf der Familie. Er ver- schwand für Jahre nach Indien und Sikkim. Er war Gelehrter, aber er hatte sich auch auf den Weg gemacht. Er hat meinen Vater sehr beeinflußt, der sozusagen nach ihm geraten ist. Die ersten Jahre wuchs ich in Tibet auf.« Tara trank einen Schluck Wasser. »Das war, nachdem der vierzehnte Dalai-Lama nach Lhasa zurückgekehrt war und Tibet wieder unabhängig wurde. Sie brauchten jede Art von westlicher Hilfe, damit das tibetische Volk sein Land wieder- aufbauen konnte. Die Chinesen hatten es völlig zerstört zu- rückgelassen. Meine Mom arbeitete bei der Gesundheitsbe- hörde. Mein Dad hat dabei geholfen, aus dem Nichts heraus die tibetische Softwareindustrie aufzubauen. Er war Pro- grammierer bei Microsoft, hat aber, wie man so schön sagt, sein Tantra gefunden.« »Was für eine wundervolle Kindheit das gewesen sein muß!« rief Gobi aus. »War es auch«, stimmte Tara zu. »In gewisser Hinsicht war es fast, als kehrte ich nach Hause zurück«, sagte sie. »Ich meine, bei Großonkel Willys historischer Verbindung zu diesem Teil der Welt. Praktisch jedermann hat uns mit offenen Armen aufgenommen, einschließlich des Dalai- Lamas.« »Sie sind noch dem letzten Dalai-Lama begegnet?« staunte Gobi. »Natürlich«, sagte Tara. »Tenzin Gyatso vergesse ich mein ganzes Leben lang nicht, auch wenn ich damals noch ein kleines Mädchen war, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Er hat mir immer kleine tibetische Leckerbissen in Form ver- schiedener Götter und Göttinnen zugesteckt.« Sie lachte. »Er hat mich Klein-Durga genannt, nach der Großen Kosmischen Göttin, weil ich so voller Energie war, ständig herumgerannt bin und alles im Potala auf den Kopf gestellt habe.« In einem Ton, den man unmöglich als gelehrsam mißverstehen konnte, sagte Gobi: »Mir scheint, Sie sind eher eine Kwan Yin ­ ein Göttin der Barmherzigkeit.« »Sie übertreiben schon wieder, Dr. Gobi!« »Frank. Sie wollten mich Frank nennen, wissen Sie noch?« »Frank.« Sie starrte ihn an, und die grüne Energie ihrer Au- gen sprühte vor Schalk. »Tja, da haben Sie sie also. Meine Lebensgeschichte. « »Wohl kaum«, sagte er. »Haben Sie auch Ihre Jugend in Ti- bet verbracht?« Er wollte nicht, daß sie aufhörte. Er wollte weiter ihrer Stimme lauschen. »Nein, nur bis ich acht oder neun war. Ich ging an die Uni von Santa Barbara. Ich studierte Energieheilung durch chinesi- sches Chi-kung und machte einen Abschluß in Kräutermedi- zin. Ich habe viel an meinen Eltern ausprobiert.« »Oh? Wie geht es ihnen?« »Sie sind beide in großartiger Verfassung, voller Energie und Lebenskraft. Sie bekamen sogar noch ein Kind, meine kleine Schwester Devi. Sie ist jetzt zwölf.« Tara schenkte sich aus ihrer Flasche Quellwasser nach. »Und wie steht's mit Ihnen? Sie sehen nicht gerade wie ein verknöcherter Akademiker aus«, spöttelte sie. »Nun ja, ich habe eine Menge zu tun, wechsle zwischen Lehren und Schreiben. Manchmal arbeite ich nebenbei als Berater für Firmen, die ein Budget für Konzernerleuchtung haben. Damit finanziere ich meine vielen teuren Hobbies ­ wie Reisen, Forschung treiben und meditieren.« »Das ist weiß Gott teuer«, stimmte Tara scherzend zu. »Be- sonders das Meditieren.« »Genau. Es ist erstaunlich, wie sehr die Kosten fürs Medi- tieren dieser Tage gestiegen sind. Ich kann es mir kaum noch leisten.« Sie lachte. »Sie sind verheiratet?« »Ich war einmal geschieden.« »Oh, dann sind Sie also verheiratet.« Sie hob eine Augen- braue. »Nein, ich bin wieder Single. Ich war zweimal verheiratet. Ich habe einen zehnjährigen Sohn, der bei mir lebt. Trevor. Ein großartiger Junge.« »Ist er Ihnen ähnlich?« fragte Tara, ein Lächeln in den grü- nen Augen. »Oh, ich hoffe nicht! Aber seltsam, daß Sie das fragen. Er hat einen Spruch drauf: >Wie der Vater, so der Sohn, nur daß der Sohn verstohlener ist.<« »Klingt recht tiefgründig für sein Alter.« »Er ist noch ein Kind, aber manchmal benimmt er sich wie ein verschrobener Zen-Meister.« Gobi grinste. »Wissen Sie, wann immer ich's brauche, zieht er mir eins über die Rübe. Natürlich bildlich gesprochen.« »Ich würde ihn gern eines Tages kennenlernen«, lächelte Tara. »Klingt nach einem gescheiten Jungen.« »Ich bin sicher, er würde Sie auch gern kennenlernen...«, begann Gobi. Er bereitete schon die nächste Stufe des Ge- sprächs vor. Gerade wollte er sie fragen: »Äh, möchten Sie nicht einmal mit uns zu Abend essen?«, als sie sich aufrichtete und jemandem zuwinkte, der von der anderen Seite des Platzes aus auf sie zukam. Als der Mann sich näherte, erkannte Gobi, daß es ein Tibe- ter war, in den Dreißigern, etwas kurz geraten, leicht unter- setzt. Er war auf studentische Weise in einen grauen Savile- Row-Anzug mit gestärktem weißen Hemd und gestreifter Krawatte gekleidet, die zu einem Oxford-Knoten gebunden war. Er trug eine Brille mit dickem Rahmen, und das schwarze Haar war aus der Stirn nach hinten gestrichen. Es hätte sich um einen Lama-Oberen auf Besuch oder um einen Austausch- studenten handeln können. Als er es in Taras Augen aufblitzen sah, kaum daß sie ihn entdeckte, sank Gobi das Herz. Verdammt! Ob er wohl ihr Lebensgefährte war? Der Mann lächelte breit. Er strahlte gute Laune, guten Willen und, ja, wenn Gobi sich nicht irrte, auch eine gewisse intime Kenntnis aus. Gobi empfand bereits einen Anflug von Eifersucht. »Das ist Dorje Rinpoche«, sagte Tara, als sie die beiden ein- ander vorstellte. »Frank Gobi.« »Wie geht's?« nickte der Tibeter und zeigte eine Reihe ma- kelloser weißer Zähne. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er mit einem leicht angloindischen Akzent. Sie schüttelten sich die Hand, und Gobi fühlte sich irgend- wie erleichtert. Dorje Rinpoches Handschlag war offen und einfühlsam. Wenn es zwischen Tara und dem Tibeter ein Tantra gab, nun, dann nahm Dorje Gobi sein offensichtliches romantisches Interesse an ihr wenigstens nicht übel. Alles in Ordnung, schien der Handschlag zu sagen. Nichts ist ausge- schlossen. Mein Gott, der Tibeter hatte ihn völlig durchschaut, und das ohne jedes negative Urteil! Peinlich berührt, errötete Gobi. Tara lachte über sein sichtliches Unbehagen, und er kam sich albern vor. »Du hast doch nicht lange warten müssen, Tara?« fragte der Tibeter mit tiefer Stimme. »Nein, Dorje, Frank und ich haben uns gerade miteinander bekannt gemacht. Nun ja.« Tara wandte sich Gobi zu und erhob sich vom Tisch. »Ich muß jetzt weiter. Hat mich wirklich gefreut, Sie kennenzulernen. Ich hoffe, Sie kriegen Ihr Fahrrad wieder hin. Und versuchen Sie in der Nähe von Fußgängern, die durch die Dunkelheit stolpern, etwas vorsichtiger zu sein.« »Augenblick«, sagte Gobi erschreckt. Sie entglitt ihm. »Sag- ten Sie nicht, Sie haben irgendwo eine Chi-kung-Praxis? Wie kann ich Verbindung mit Ihnen aufnehmen? Ich meine, um Sie aufzusuchen?« Er versuchte, nicht zu stammeln. »Um mich aufzusuchen?« fragte Tara verblüfft. Dorje Rin- poche grinste sie an. »Oh, ich glaube, mit Ihnen ist alles in Ordnung«, versicherte sie Gobi. »Ich fürchte, zur Zeit habe ich keine Sprechstunde. Ich... nehme ein Urlaubsjahr. Ich will meinen akademischen Grad verbessern«, fügte sie hinzu und wechselte einen Blick mit Dorje. »Sind Sie irgendwo online zu erreichen? Wie kann ich Sie erreichen?« Es war wirklich zu dumm. Sie wollte gehen, und er hatte keine Ahnung, wie er wieder mit ihr in Verbindung kommen konnte. »Nein, ich bin nirgends online erreichbar«, sagte sie ihm. »Jedenfalls nicht im Sinn dieses Wortes. Aber ich bin sicher, daß sich unsere Wege wieder kreuzen. Das sagt mir mein Gefühl.« »Tragen Sie denn keinen Piepser bei sich?« fragte er, und das Herz wurde ihm schwer. »Leben Sie wohl, Frank! Denken Sie daran, es gibt keinen Zufall ­ jedenfalls keinen«, und sie lächelte, »der nicht gewollt wäre.« Er sah ihr nach, wie sie mit Dorje durch die Menge der Stu- denten davonging, und das Licht verfing sich in ihrem golde- nen Haar, das plötzlich dunkler wurde, als hätte es jeglichen Sonnenschein geschluckt. Ashok »Hallo, Trevor, ich bin wieder zu Hause!« Gobi stand in der Diele seiner viktorianischen Wohnung in der Oxford Street. Im Haus war es ruhig, aber er hörte Juans Radio in der Küche, das auf einen Sender mit spanischer Musik eingestellt war. Ihr salvadorianischer Hausdiener machte gerade das Abendessen. »Oh, hallo, Mr. Frank, Sie wieder daheim«, sagte Juan, und ein Lächeln huschte über sein breites Gesicht, als er Gobi die Küche betreten sah. »Sind Tofu-Enchiladas heute abend o- kay?« »Si, muy bueno«, grinste Gobi. »Tut mir leid, daß ich jetzt erst komme, Juan«, entschuldigte er sich. »Ich wurde auf dem Campus aufgehalten.« »Nix Problem. Trevor ist auf seinem Zimmer.« Er nickte. »Macht er seine Hausaufgaben?« fragte Gobi hoffnungsvoll und schlüpfte in ein Paar bequeme Kung-Fu-Slipper mit Baumwollsohlen. Juan verzog das Gesicht. »Er sagt, daß er fertig.« »Klar.« Sie lachten. »Wieso gehen Sie nicht auch nach Hause?« riet ihm Gobi. »Sicher?« fragte Juan. »Vielleicht müssen Sie arbeiten. Dann ich machen Trevor zu essen, ehe ich gehe.« Gobi gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Wir kommen schon zurecht. Vamonos!« Juan lächelte und stellte den Teller mit Enchiladas auf eine Anrichte neben der Quartzwelle. Dann nahm er die Schürze ab und wuchtete seine Tasche vom Küchentisch. »Nur noch eine Minute im Herd«, warnte ihn Juan. »Wir. uns morgen sehen, Mr. Frank. Adios!« Gobi stand in der Küche, bis er Juan »Buenos noches, Tre- vorrr!« rufen hörte. Keine Antwort. Und dann schloß sich die Tür hinter ihm. Gobi ging zum Zimmer seines Sohns und klopfte an. Nichts. Er drehte langsam den Türknauf und stand im Ein- gang. Trevor saß im Sattel seines V-Boards, das auf der Mutter- plattform verankert war. Die Füße in den Steigbügeln und das kleine U-förmige Steuer vor ihm fest umklammert, ließ er es auf dem sich schnell bewegenden Förderband alle Gangarten machen. Er hatte seinen Helm auf, und Gobi konnte die blin- kenden roten Lämpchen auf der Innenseite des Sichtschirms erkennen. Trevors Gesicht zeigte ein wildes Lächeln, als hätte er gera- de die Triborger hinter sich gelassen und als rase er jetzt schnurstracks auf die Ziellinie in Finisterre zu. Aber was das anging, so konnte er sich gerade an jedem beliebigen Ort in Gametime aufhalten. Vielleicht war er auch mit Beowolf und Hrothgard unterwegs, um das Monster zu erschlagen, be- kämpfte in der epischen Spielewelt des Mahabharata die feindlichen Linien oder maß auf einem von König Artus' Turnieren seine Kräfte mit Freunden. Trevors Online-Name war Kundalini Kid. Das paßte zu ihm ­ »Kundalini« ­, die essentielle Lebenskraft, die vom unteren Ende der Wirbelsäule ausstrahlt und das gesamte Nervensys- tem hyperaktiviert. Wenn er sich aus dem Muttersystem ausklinkte, konnte Trevor das V-Board abkoppeln und wie jenes, das sie im Interfaceland in Berkeley hatten, manuell zum freien Surfen verwenden. Spräche Gobi nicht gelegentlich ein Machtwort, dann würde der Zehnjährige glatt siebzig Stunden die Woche mit V-Surfen verbringen. »He, Trevor, ich bin wieder zu Hause«, flüsterte Gobi, doch sein Junge hörte ihn nicht. Er wollte seine Wange berühren, um ihn wissen zu lassen, daß er da war, fürchtete aber, sich ins Programm einzumischen. All diese Nervenkontakte, die in Trevors Helm surrten, bereiteten ihm Unbehagen. Einen kurzen Augenblick lang dachte er an Sender Emmanuel, verscheuchte den Gedanken aber rasch wieder. Schließlich war diese VR hier keine modische Sektenspinnerei, sie war ein Satori-System der Weltklasse. Es war sowieso noch zu früh, um Trevor zurückzuholen. Gobi würde ihm weitere zwanzig Minuten geben und dann die Nachricht übermitteln, daß er sich ausklinken sollte. Und sich vergewissern, daß er sich vor dem Essen auch die Hände wusch. In seinem Büro am Ende des Flurs checkte Gobi seine Chi- Box auf Nachrichten. »Haben Sie heute schon Ihren Poltergeist umarmt? Das hier könnten Sie sein!« verkündete ein Sprecher überschwenglich. Es war ein Junk-Demo, das für einen Urlaub im Club Mido- ri warb. Zu Gobis Erstaunen zeigte es ihn und Trevor, wie sie den Strand von Ixtapa entlanggingen. Wie hatten die das gemacht? Dann fiel ihm das Delphin-T-Shirt wieder ein, das Trevor bei ihrer letzten Urlaubsreise nach Cabo San Lucas getragen hatte. Die Reiseagentur hier aus der Gegend mußte das Bildmaterial von Baja Holidays gekauft und einfach an Ixtapa überspielt haben. »Jetzt können Sie und Ihr Sohn einen erholsamen Familienurlaub im Club Midori von Ixtapa mit kostenloser Anreise und anderen Klub Spezialitäten genießen.« Er blätterte die anderen Coupons im Wertpack durch: Ange- lina's Café & Catering, 50% Nachlaß auf alle Salate. Bienen- Propolis gratis... Komplette interaktive Zahnuntersuchung im Komfort des eigenen Zuhauses... Wow! Kostenlose Jungsche Traumanalyse bei einstündiger Kristallheilung für 35 Dollar... Feng-shui-Geomaniker der Nordküste: Zweibettzimmer mit Diele nur 49,95 Dollar...« Das Nachrichten-Icon leuchtete auf. Ein Zeitungsjunge radel- te mit Höchstgeschwindigkeit und warf dann eine zusammengerollte Zeitung auf seine Veranda. Gobi sagte: »Kurzmeldungen.« Daraufhin setzte er sich in seinen Sessel und sah sich die New York Times an. Nachforschungen der National Telecommunications & Information Administration über Katastrophe von Sender Emmanuel laufen weiter. Bogotá in Caracas erfolglos. Staatssekretär Lanier verhandelt mit Außenminister der Republik Alaska über Virtuelle Rechte am Mount McKinley. Freie Regierung Japan erneuert Leasing-Vertrag über Bermuda-Insel. Französische Bauern laden aus Protest gegen Agrarreform im Großrechner des Landwirtschaftsministeriums Tonnen von Pixel ab. Bericht der Weltgesundheitsbehörde über Beben von Nippon vor Melbourne-Konferenz durchgesickert. Scho- ckierende Widersprüche, behaupten Wissenschaftler. Gobi klickte die letzte Meldung an. Von Sender Emmanuel hatte er vorerst genug. Zeit für ein Update über Neo-Tokio. »Für Schlußfolgerungen in bezug auf die Stabilisierung der Psycho-Ökosphäre von Neu-Nippon ist es noch zu früh«, erklärte Dr. Olaf Fluegelhorn, Präsident der amerikanischen Vereinigung der Seismoneurologen. »Die Lage befindet sich nach wie vor im Fluß, und unserem Eindruck nach sollte die Quarantäne, die die Weltgesund- heitsbehörde über die Japan-Inseln verhängt hat, noch eine Weile bestehenbleiben. Ich bin sicher, daß es diesbezüglich in Melbourne zahlreiche Gespräche geben wird, und das ist auch das richtige Forum für diese Diskussion. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt über eine Normalisierung der Beziehungen zu sprechen, wäre jedenfalls vollkommen verfrüht«, fuhr der Wissenschaftler fort. »Du meine Güte, sogar ihre Regierung operiert vorerst von Nassau aus. Es hat nicht den Anschein, als wollte sie bald ihre Sachen packen und nach Hause zurückkehren. Nein, noch sind zu viele Fragen offen«, erklärte er. »Aber meiner Meinung nach stellt niemand die wirklich schwerwiegenden Fragen. Was ist, wenn es sich um einen unbekannten Virus handelt? Was, wenn er sich auf andere Länder ausbreitet? Wir haben es hier mit einer Angelegenheit der nationalen Sicherheit zu tun. Dem Präsidenten sind unsere Befürchtungen hinlänglich bekannt, und ich bin sicher, daß unsere Delegation das nächs- ten Monat bei der WHO-Konferenz in Australien zu einem Hauptthema machen wird.« Gobi schnaubte verächtlich. Hmpff. Keiner wußte, worum es sich dabei überhaupt handelte, und doch wurde es für die extreme Rechte, die extreme Mitte und die extreme Linke zu einem Hauptstreitpunkt. Alle reagierten wie bei einem geisti- gen Kniesehnenreflex. Wieso schickten sie nicht einfach ein Spezialistenteam hin, das sich die Sache ansah? Bisher waren Reisen nach Neu-Nippon trotz Quarantäne in gewissem Umfang erlaubt. Aber niemand blieb bis nach Sonnenunter- gang. Alle nahmen brav das letzte Shuttle. »Check persönliche Botschaften«, gab Gobi Anweisung, als er das blinkende Icon bemerkte. Auf seiner Geschäftsleitung wartete eine Nachricht, die am Morgen gespeichert worden war. »Botschaft eins«, befahl er. »Moshi-moshi. Gobi-sensei? Guten Morgen, hier spricht Kiyoshi Kumura von Satori Interactive.« Der Japaner im eleganten Ralph-Yamamoto-Anzug verbeugte sich so tief, daß Gobi seinen Samurai-Haarknoten bewundern konnte. »Wir sind uns einmal beim AHBNN begegnet, als sie einen Tag der offenen Tür veranstaltet haben.« Das mußte bei der Party des Außenhandelsbüros von Neu-Nippon vor einem Jahr in San Francisco gewesen sein. »Hayashi von Toshiba-Intel hatte uns einander vorgestellt, falls Sie sich noch erinnern. Wir haben uns über das Bewußt- seinsdefizit bei der neuen Artikelreihe von Vachuru-Produkten unterhalten.« Natürlich erinnerte sich Gobi. Das war der flotte Japaner, der ein würziges After-shave aus dem dreizehnten Jahrhun- dert aufgelegt hatte; wie hieß die Duftnote doch gleich? Eau de Genji. Ja, natürlich. Wie könnte er den Burschen jemals verges- sen? Kimura hatte über viele Dinge viele Fragen gestellt, besonders was seine Arbeit an der Uni von Berkeley betraf. Es war kein Geheimnis, daß Satori die Universität mit größeren Stiftungen beglückt hatte. Pause, das Lächeln wird aufpoliert. »Hai, Gobi-sensei, es wäre mir eine Ehre, mich mit Ihnen zu treffen, um ein Bera- tungsprojekt zu erörtern, bei dem wir auf Ihre Mitarbeit hof- fen.« Er blinzelte. »Es kommt zwar ein wenig kurzfristig, aber wenn Sie frei sind, können wir uns dann morgen nachmittag im Hotel Naniwa Nob Hill treffen? Im Pflaumenzimmer im dreizehnten Stock. Wäre Ihnen halb vier recht?« Wieder ver- beugte er sich. »Bitte klären Sie doch mit meinem Büro ab, ob es Ihnen genehm ist.« Gobi lehnte sich in seinem Sessel zurück und drehte sich zur Seite. Er dachte einen Augenblick lang nach. Normaler- weise drängten einen Japaner nicht so. Sie nahmen sich gern Zeit und trafen ihre Verabredungen in aller Ruhe. Wenn Kimura ihn morgen schon sehen wollte, dann mußte es wich- tig sein. Er ging seinen Terminkalender durch. Sein letztes Seminar endete um zwei. Er konnte es schaffen. »Es wird mir eine Freude sein, Sie morgen nachmittag wie gewünscht zu treffen, Kimura-san.« Gobi setzte sein professi- onellstes Lächeln auf, während die Returnschleife seine Bot- schaft übertrug. »Also bis dann.« Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Er seufzte. Vor dem Treffen mußte er sich so umfassend wie möglich briefen. Satori war ein prominenter Klient. Gobi hatte eigentlich noch niemals direkt für sie gearbeitet, auch wenn er einmal für eine ihrer Tochterfirmen bei einem Entwicklungsprojekt etwas Intuitionsanalyse geleistet hatte. Worum war es dabei doch gleich gegangen? Ach ja, um die Einstufung von >schrecklich freier< Software. Wieder lehnte er sich zurück und legte dann seine Beine auf den Schreibtisch. »In Ordnung, Ashok, gehen wir auf die Suche«, sagte er laut. Ashok war sein Akasha-Lesegerät, ein personenbezogenes Informationszugriffssystem, das mit dem globalen Omninetz in Verbindung stand. »Wie wär's, wenn wir mit Hintergrundinformationen über den Satori-Konzern anfangen?« Ashok gab das übliche dumpfe Glucksen von sich, als er das Netz abzusuchen begann. Gobi ging durch den Flur in die Küche zurück und kam da- bei an Trevors Zimmer vorbei. Der Junge brauste noch immer auf seinem Skateboard-Chassis durch die VR-Umgebung. In Ordnung. Noch zehn Minuten, dann begann für Kundalini wieder das Fußgängerleben. Gobi machte sich einen Becher mit bengalischem Cha und schlenderte zu seinem Arbeitsplatz zurück. Er nippte an dem würzigen Gebräu, während er sich in den Sessel gleiten ließ. »Also, was hast du für mich?« Ashok hielt inne. »Wünschen Sie die Neuronentour, Dr. Gobi? Wenn ja, dann setzen Sie dafür bitte Ihre Satori-Brille auf. Andernfalls bekommen Sie eine 3D-Version des Berichts auf den Schirm. Was ziehen Sie vor?« »Schön, einen Moment, Ashok, ich schnapp mir nur rasch die Glubschäuglein.« Er kramte auf seinem Schreibtisch her- um. Irgendwann mußte er dieses Durcheinander mal aufräu- men. Bücher, Kassetten, Disketten, Krempel, von dem er schon völlig vergessen hatte, daß er ihn überhaupt besaß, Techno- Fetische, die er von seinen Reisen mitgebracht hatte. Ah, da war sie. Er hob ein stromlinienförmiges Visier mit Infrarotkon- takt für sein System hoch. »Ich gehe online, Ashok«, sagte er und setzte sich den Apparat auf. »Gib mir noch eine Sekun- de.« »Sehr wohl, Sir.« oZ! Ashok ließ bereits den Holotitel der CD-ROM vom letzten Satori-Jahresbericht aufblitzen, der den Titel »Eine Führung durch den Satori-Konzern, 2027« trug. »Sehr gut, Ashok, laß laufen«, sagte Gobi, während er sich auf Ashoks Info-Reise zu konzentrieren begann. »Die Satori-Gruppe mit Jahreseinnahmen von schätzungsweise 3,2 Milliarden Neuen Yen ist einer der größten Keiretsu- Mischkonzerne der Welt«, verkündete Ashok und präsentierte dazu eine Anzahl Bilder aus dem Bericht. »Der Zweig Multimedia-Unterhaltung und Virtuelle Information rangiert auf der Nikkei-Fortune-500-Liste unter den ersten fünfzig Unternehmen. Unter anderem betreibt der Keiretsu eine internatio- nale Fluglinie mit dem Motto >Die Erleuchtete Art des Reisens<.« Gobi betrat plötzlich ein Satori-Shuttle und wurde dann in einen bequemen Sitzplatz geladen, woraufhin sofort der Start erfolgte. Ashok bot ihm eine Führung der Economyklasse, so daß der Clip einer Achterbahnfahrt glich. Im nächsten Mo- ment schaute er auf das topographische Gitternetz einer schimmernden Großstadt herunter, dessen Wolkenlandschaft an ihm vorbeisauste. »Am bekanntesten ist Satori wohl für seinen ausgedehnten Besitz an >Irrealen Grundstücken< im virtuellen Dominion von >Satori CityTM<.« Das Licht der Großstadt erstrahlte weit über das Neon jeder Vorstellungskraft hinaus. Es glühte wie ein Buntglasbewußt- sein in seinem Geist. Das war mehr als ein Abbild, mehr sogar als ein Symbol. Es war komprimierte Gegenwart, eine Stille, die einen anbrüllte. Gobi fühlte sich, als hätte er eine ganze Stadt verschluckt. »Verlangsame, Ashok«, befahl Gobi. »Ich gerate ein bißchen durcheinander.« »Tut mir leid, Sir«, sagte Ashok und fuhr dann fort. »Satori City, besser als >Virtuopolis< oder >Virtuellopolis< be- kannt, wurde im Jahr 2017 vom Satori-Konzern als der Welt erste VR-Stadt im Online-Betrieb entwickelt. Von der tatsächlichen Tsubo-Fläche im Cyberspace her gesehen, entspricht ihre räumliche Ausdehnung jener der Insel Manhattan. Virtuopolis bietet in seiner virtuellen Realität voll ausgerüstete Bürogebäude ­ VR-Kratzer ­ mit einzelnen Zellen zur kurzfristigen und langfristigen Anmietung, interaktive Kongreßzentren und Leihlabore für Forschung und Entwicklung in allen größeren Nano-Industrien, von Desktop- Kaltfusionsanlagen bis zu Bio-Origami-Holzbetrieben, um nur einige Verwendungszwecke zu nennen.« Gobi blätterte sich seinen Weg neuronal durch breite Korri- dore, in denen es von ikonografischen Repräsentationen echter Online-Büroangestellter nur so wimmelte. Er kam an PVAs vorbei, Persönlichen Virtuellen Arbeitsplätzen, die sehr den Bürowürfeln von einst ähnelten, an Sitzungssälen, virtuellen Freizeitbereichen, Wartezimmern, chiffriergesicherten Konfe- renzräumen und Büros für durchreisende Berater sowie an freien intellektuellen Zonen mit vorkontaktierten Globalbiblio- theken und Datenspeichern. Blitz, Donner und Toshiba! In einem der neutralen Bereiche gab es sogar einen elektrischen Wasserkühler. Und den Avata- ren nach zu urteilen, handelte es sich um einen Ort für infor- melle Zusammenkünfte des Firmenpersonals, das sonst mögli- cherweise niemals Gelegenheit bekäme, sich miteinander auszutauschen. Bisher war das nicht viel mehr als die Standardtour durch Satori-Büros, um Firmen, Regierungen und Universitäten als Mieter zu gewinnen. Genug davon. »Auf der kulturellen Seite«, fuhr Ashok fort, »beherbergt Virtu- opolis die meisten führenden Museen der Welt ­ von den atemberau- benden Sammlungen des Metropolitan Museum in New York bis zum Louvre in Paris, dem Nationalmuseum von Taipei, den Uffizien in Florenz, der Tate Gallery in London, ganz zu schweigen von den bedeutsamen kleineren Ausstellungsorten wie dem Picasso-Museum im Pariser Bezirk Marais und der Groeninge Collection für flämische Kunst in Brügge.« Hier war es Gobi möglich, unter einer mehrzelligen Anzahl von Museums-Icons zu wählen. Er konnte nach Gutdünken jede beliebige Galerie betreten, um sich Gemälde oder andere Kunstwerke anzusehen. Es handelte sich um einen holovisuel- len Scan. Wenn er genug Zeit mitbrachte, dann konnte er einen ganzen Nachmittag damit verbringen, in dem Flügel herumzustöbern, der ihn interessierte. Geradezu perfekt für einen verregneten Nachmittag. »Gib mir jetzt bitte Traumzeit, Ashok«, bat Gobi und lehnte sich wieder im Sessel zurück. »Traumzeit, einer der beliebtesten Sektoren von Satori City, ent- hält holographische Rekonstruktionen von Angkor in Kambodscha und des antiken Tempels von Knossos auf der Insel Kreta, eine Neuralversion der olmekischen Tempelanlage in Teotihuacán sowie die berühmte Nachbildung der Verbotenen Stadt in Peking...« Zong! Schon befand er sich im gepflasterten Hof der Halle der Größten Harmonie und starrte zum Thron des Himmels- sohns hinauf. Dann, nach einem plötzlichen Perspektiven- wechsel, saß er auf dem Thron und sah auf Reihen von Man- darinen und hohen Beamten hinunter, die sich vor ihm in den Staub geworfen hatten und deren Pfauenfedermützen den Boden berührten. Bei Eunuchramas Geläut, er war der letzte Kaiser! »Äh, verlangsame, Ashok!« drängte Gobi sein Lesegerät. Das Tempo wechselte, doch die Bilder blieben. Er knirschte mit den Zähnen. »Jedes größere internationale Filmfest der Welt und deren gesam- te Archive sind in Satori City live online. Vierundzwanzig Stunden täglich. Teleführungen können über die Verkaufsstellen von Satori Tours und Satori Presents gebucht werden. Benutzen Sie einfach nur Visa, Rim Express, Mastercard oder Satoricard.« »Überspring den Teil«, wies Gobi an. »Für Familien, die Urlaub machen wollen, bietet Virtual Disney- land mehrere Matrix-Ebenen reinsten Familienvergnügens ­ und natürlich gibt es auch noch das stets beliebte Gametime mit jeder Menge herausfordernder VR-Abenteuer für die lieben Kleinen«, zitierte Ashok. »Wenn Sie aber den wahren Nervenkitzel suchen, dann bietet Everest Magic Ihnen den ganz persönlichen KI-Sherpa, der Ihnen hilft, jeden Gipfel der Welt zu besteigen ­ vom Mount Everest über den Annapurna bis zum Mont Blanc. Die Höhe und den Gefahrengrad können Sie nach Ihren persönlichen Vorlieben selbst bestimmen.« »In Ordnung«, sagte Gobi. »Schluß mit dem VR- Pressegesülz.« Er nahm das Visier ab und rieb sich die Augen. »Puh! Ich habe ja kapiert, wo's langgeht!« Er nahm einen Schluck Tee, um wieder festen Boden unter die Füße zu be- kommen. »Na schön, das ist also der offizielle Sermon«, sagte er. »Was ist mit der Presse? Gibt's zur Zeit irgendwelche Clips darüber, wie es wirklich um Satori steht? Vielleicht eine Ge- gendarstellung?« Einige Augenblicke verstrichen. »Scheint, als wäre Offshore Networking das richtige, Sir«, sag- te Ashok schließlich. »Da steht ein ziemlich provozierender Artikel von Bob Hoff drin. Er ist ihr führender Sensationsre- porter. Hoff hat in den letzten drei Jahren den Noam- Chomsky-Preis für Journalismus gewonnen.« »Prima, her mit ihm.« Hoffs zerfurchtes Gesicht mit den stechenden rotkehlchen- eiblauen Augen und den buschigen Brauen tauchte auf dem Würfel auf. »Guten Abend... Mr. Gobi. Danke, daß Sie mich eingeladen ha- ben. Und nun zu meinem Sonderbericht über den Satori-Konzern... Aufgrund seines einzigartigen dezentralisierten Unternehmensauf- baus fiel es dem Satori-Konzern bisher relativ leicht, sein weltum- spannendes Geschäftsimperium am Leben zu erhalten, und das trotz des offensichtlichen Nachteils, daß die Firma ihren Sitz in Neo-Tokio hat, das seit dem Megabeben fast unerreichbar geworden ist. Dort werden die gesamte Konzernstrategie und die Entwicklung neuer Produkte auch weiterhin vom visionären Gründer und Vorsitzenden des Unternehmens, Kazuo Harada, entworfen. Aber inzwischen zeichnen sich einige Problemfelder für den Sato- ri-Keiretsu ab«, fuhr Hoff fort. »Durch den Konjunkturrückgang im letzten Quartal soll Virtuopolis, das Aushängeschild des Kon- zerns, nur noch zu etwa 45 Prozent belegt sein. Anlageanalytiker haben die unbenutzten Sektoren bereits auf den Namen >Wasteland< getauft. Sie sind skeptisch, ob Satori den verlorenen Boden ange- sichts der wachsenden Konkurrenz besonders seitens ihres Haupt- konkurrenten, der Kobayashi-Gruppe, zurückgewinnen kann.« Hoff rutschte unruhig auf dem Sessel umher. »Wir haben diese Frage Action Wada gestellt, dem Vizepräsidenten für Unter- nehmensentscheidungen bei Satori. Er sprach mit uns von seinem Büro in Neo-Tokio aus.« Der Clip zeigte einen Mann wie eine Stahlrute, der einen Intel-Poweranzug trug. Eindeutig ein feiner Pinkel, aber ein Cybercrack durch und durch. Gobi kannte diesen Typ Mensch, dessen Arroganz nur unzulänglich als Effektivität getarnt war. »Mr. Wada, ich möchte Ihnen eine Frage über das Wasteland stel- len, wenn ich darf«, begann Hoff. »Das ist Ihr Ausdruck, nicht unserer«, unterbrach ihn der Ja- paner wütend. Er sprach Standardenglisch, durchsetzt mit einem leichten, jedoch wahrnehmbaren Neuenglandakzent, der auf die Forschungs- und Entwicklungsarbeit an der Route 128 zurückging. »Es ist nicht ungewöhnlich, ein paar Downsekto- ren im System zu haben«, fuhr er fort. »Übrigens ist die Zahl, die Sie gerade für den Online-Betrieb genannt haben, falsch. Unsere Nikkei-Nielsen-Analysen zeigen eine Rate virtueller Belegung bzw. Nutzung von nahezu 56 Prozent an, was sehr beachtlich ist.« »Was halten Sie von den Meldungen, denen zufolge sich im soge- nannten >Lagerhaus-Distrikt< von Virtuopolis auf unbenutzten Abschnitten der VR-Kratzer Kolonien illegaler Siedler niedergelassen haben sollen?« »Das sind unbestätigte Gerüchte und Sensationsgeschichten, die wir zutiefst bedauern«, erwiderte Action Wada, und dabei wurde seine Miene noch düsterer. »Natürlich gibt es unerlaubte Zugriffe auf Virtuopolis, aber sie halten sich in Grenzen, vielleicht ein oder zwei Prozent. Was illegale Siedler anbelangt, vergessen Sie's. Unsere Knoten werden allesamt überwacht. Satori City kann seinen Kunden versichern, daß die Online-Sicherheitsmaßnahmen von der höchsten Qualität sind, die man in einem System heutzutage überhaupt finden kann.« Er blickte fest in die Kamera. »Unsere digitalen Straßen sind sicher«, grinste er. »Nicht so wie in New York oder Los Angeles.« »Keine Übergriffe auf Daten, keine Piraterie und kein Hacken, meinen Sie das?« Action Wada nickte kurz. » Wie ich schon sagte, unser System ist narrensicher.« »Aber was ist mit den Meldungen über Terrorismus in den Fi- nanz-Vektoren?« drängte ihn Hoff. »Wir haben zum Beispiel gehört, daß kürzlich eine Niederlassung für Interface-Investment und Sicherheitspagen sabotiert und alle Aktiva abgezogen worden sein sollen.« »Lügen, Lügen, nichts als Lügen«, sagte Action Wada mit fins- terem Blick. »Das sind der Terrorismus von Gerüchtemachern und die Anspielungen der Medien, sonst nichts. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.« Hoffs Kopf tauchte wieder auf dem Bildschirm auf. »Mr. Gobi, bleiben Sie dran, um mehr über diese Story zu erfah- ren, wenn wir unsere dreiteilige Serie über die Anstrengungen des Satori-Konzerns, sich den Veränderungen des Marktes anzupassen, fortsetzen. Hier spricht Bob Hoff von Offshore Networking. Bis zur nächsten Ausgabe.« »HE, DAD!!!« Gobi fuhr herum und sah Trevors zersausten Blondschopf. Der Junge rieb sich die Augen. »Wann bist du heimgekom- men? Ich wußte gar nicht, daß du da bist.« »Hallo, Sohnemann!« Gobi lächelte und drückte den Jungen an sich. »Ich wollte dich nicht stören. Du hast ausgesehen, als wärst du ziemlich beschäftigt.« »Ich war boarden, Dad.« »Das habe ich gemerkt.« »Ich hab diesen irre coolen Ort entdeckt. Aber er liegt nicht in Gametime... ich hab trotzdem einen Weg gefunden, mich zuzuschalten.« »Augenblick mal! Damit hörst du sofort auf!« rief Gobi. »Wie oft muß ich dir noch sagen, daß du drin bleiben sollst? Du gehst nicht raus. Du bleibst innerhalb des Systems, klar? Es ist gefährlich, Gott weiß wohin zu boarden.« »Aber...«, protestierte der Junge. »Keine Widerrede! Du bleibst drinnen. Sonst ist damit Schluß, kapiert? Willst du aus der Echtzeit fallen? Es ist gefähr- lich, Trevor. Ende der Diskussion.« Sie würden wieder aneinandergeraten, doch Gobi war ent- schlossen, diesmal keinen Rückzieher zu machen. Herrje, der Sender Emmanuel machte ihn ganz kribbelig. Er spürte es schon richtig. Trevor starrte ihn mit offenem Mund an, drehte sich dann um und verließ das Zimmer. Na schön, wenn sein Dad die Sache so sah. Er hatte ihm ja nur von dem Ort erzählen wollen, über den der Typ auf dem Bildschirm gesprochen hatte. Wie hatte er ihn doch gleich genannt? Das Waste- land. Kimura »Danke, daß Sie gekommen sind, Dr. Gobi«, sagte Kimura, nachdem die in einen Kimono gekleidete Kellnerin gegangen war und die Papiertür hinter sich zugezogen hatte. Sie hatte ihnen Tee und Reiskekse gebracht. Die beiden Männer tausch- ten Höflichkeiten aus und musterten dann in respektvollem Schweigen das Meishi des anderen. Sie befanden sich in einem privaten japanischen Teezimmer im obersten Stock des Hotels Naniwa Nob Hill. Koto-Musik spielte leise im Hintergrund, während sie auf Tatami-Matten an einem niedrigen Lacktisch saßen. Durch ein großes Panoramafenster konnte man unter dem schweren Futon aus Nebel die Türme der Golden Gate Bridge erkennen. Luftkissenfahrzeuge glitten wie Weberknechte über das graue Wasser. Gobi las Kimuras Karte: Kiyoshi Kimura, Vizepräsident Marke- ting, Satori-Interaktiv Nordamerika. Unten auf der Karte fiel ihm ein Echtzeit-Display mit Satoris Aktivitäten an der 24- Stunden-Weltbörse auf. 1006793 ­ Der Kurs schien zu fallen. »Nur ein zeitweiliger Rückgang, ganz sicher«, bemerkte Gobi. Der grüne Tee war heiß und schmackhaft. Er schmatzte anerkennend. Kimura schenkte ihm etwas Tee nach. »Die Geschäfte könnten besser laufen.« Er runzelte die Stirn. »Die für den nächsten Zyklus erwarteten Buchungen von Satori City sind schon um 22 Prozent zurückgegangen. Die Sender-Emmanuel-Katastrophe hat das Vertrauen der Menschen in Vachuru erschüttert«, sagte er, wobei er das japanische Wort für VR benutzte. »So viele Menschen, die ­ äh ­ abgekoppelt wurden.« »So desu ne.« Gobi nickte. Was wollte Kimura mit ihm be- sprechen? Irgendwann würde er das Thema schon anschnei- den. Gobi fielen Kimuras Socken auf, als er seine Beine auf dem Tatami-Boden ausstreckte. Sie bestanden aus einem glänzenden hauchdünnen Material, das unnatürlich glühte. Aus irgendeinem Grund nervten ihn die Socken. »Sind Sie jemals in Satori City gewesen, Dr. Gobi?« erkun- digte sich Kimura. »Ähem, in letzter Zeit nicht«, erwiderte Gobi, weil er seinen Gastgeber nicht kränken wollte. »Aber ich habe eine Daten- führung mitgemacht.« »Ist nicht weiter gefährlich, wissen Sie«, sagte Kimura ver- teidigend. Seine nächste Bemerkung kam aus heiterem Him- mel. »Vielleicht haben Sie schon gehört, daß Protector-Gamble beabsichtigt, seine gesamte Werbung aus der >ICH BIN<-Show zurückzuziehen?« »Nein, das wußte ich nicht«, antwortete Gobi ehrlich über- rascht. >ICH BIN< bediente sich, wie er gern zugab, eines äußerst raffinierten Werbekonzepts. Jede Woche konnte man eine andere historische oder zeitgenössische Berühmtheit sein. Im Menü wurden angeboten: Einstein, Madame Curie, Mick Jagger, Lady Murasaki, Stradivarius, der junge Tolstoi, Julius Cäsar, Ronald Reagan und der Gefangene von Wenda, der angesagteste Teenie-Star aus unserer Zeit. Man verschmolz mit dem Bewußtsein der betreffenden Per- son und sah die Welt durch ihre Augen. Vielleicht schaute man sich >ICH BIN Sadaharu Oh< mit einem der historischen Zen-Baseballspieler Japans an. Dabei konnte man sogar einen Homerun erzielen. Paff! Eigentlich war das ein ziemlich heißes Konzept. »Unsere Sendung mit der höchsten Einschaltquote, und sie ist in Gefahr, abgesetzt zu werden«, brachte Kimura vor. »Sie machen wohl Witze. Wieso?« »Es gibt eine Anti-Vachuru-Reaktion.« Kimura stülpte die Lippen vor, als er erneut das japanische Wort gebrauchte. »Konsumentenfundamentalismus. Sehr gefährlich.« »Konsumentenfundamentalismus«, wiederholte Gobi. Die Vorstellung kam ihm merkwürdig vor. »Ja. Zurück zur gewöhnlichen Realität. Vor Vachuru.« »Ich verstehe«, sagte Gobi. »Wissen Sie, Gobi-sensei,VR ist zu einer Industrie herange- wachsen, die jährlich dreizehn Billionen Neue Yen umsetzt. Wenn Vachuru lahmgelegt wird, fügt das Satori ernsthaften Schaden zu.« »Alles nur wegen des Unglücks bei Sender Emmanuel?« fragte Gobi. So sah also eine der Folgeerscheinungen aus. Natürlich. Warum hatte er nicht früher daran gedacht? »Sender Emmanuel.« Auf Kimuras Gesicht drückte sich Hohn aus. »Das ist Sensulogik«, sagte er verächtlich. »Drittklas- sige Sim. Nicht viel besser als Gogglerama.« »Vermutlich nicht«, erwiderte Gobi und fühlte sich zu- rechtgewiesen. »Schauen Sie«, sagte er, ohne eigentlich genau zu wissen, wohin das führte. »Das klingt mir ganz danach, als bräuchten Sie eine aggressive Info-Kampagne. Heben Sie alle Sicher- heitsvorkehrungen hervor, die in Satori City eingebaut sind, und mit der Zeit wird die Öffentlichkeit ihr Vertrauen in VR wiedergewinnen. Alles hat seinen Kreislauf. Alles kommt wieder ins Lot. Sie werden sehen.« Er versuchte, ermutigend zu klingen. »Ich fürchte, ganz so einfach ist es nicht.« Kimura sah zu Gobi hoch. »Wenn Sie in diesem Gewerbe nicht darauf vorbe- reitet sind, sich schnell zu bewegen und den Schlag des Fein- des vorauszusehen, dürfen Sie nicht hoffen, zu überleben. Und eines wissen wir mit Bestimmtheit: daß Satori City unter Beschuß steht.« »Aber...« Kimura hob die Hand. »Uns stehen viele Informationsquel- len zur Verfügung, Gobi-sensei.« Er wechselte zu einem ver- traulichen Ton. »Darf ich offen sprechen?« »Natürlich«, entgegnete Gobi herzlich. »Seien Sie versichert, daß nichts von dem, was Sie mir mitteilen, weitergetragen wird.« Kimura verbeugte sich, vielleicht mit einer Spur Zynismus. »Dann ist es ja gut. Ich kann Ihnen nur soviel sagen. Wir haben Grund zur Annahme, daß Sender Emmanuel ein Testfall war. Das eigentliche Ziel ist Virtuopolis.« Gobi erschrak. Er war richtig benommen durch das, was er gerade gehört hatte. Meinte Kimura das wörtlich, oder ge- brauchte er eine Art Firmenallegorie? Sender Emmanuel war Teil eines gezielten Feldzugs, um VR ganz allein in Mißkredit zu bringen? »Es ist das Ziel unserer Feinde, Virtuopolis auszulöschen. Und wir haben viele Feinde, die vor nichts haltmachen wer- den, Nicht nur hier, sondern auch in unseren eigenen Keiret- sus. Kennen Sie den Kobayashi-Keiretsu?« »Der ist gleich nach Satori die Nummer zwei, stimmt's?« »Sie wollen Ichiban sein.« Kimura hob einen Finger. »Die Nummer eins.« »Wollen Sie damit sagen, daß sie dahinterstecken? Daß sie Sie zu Fall bringen wollen?« »Etwas sagen ist eines«, lächelte Kimura, »es beweisen was anderes. Ja, sie würden Virtuopolis gern übernehmen. Wenn es ihnen nicht gelingt, dann würden sie uns am liebsten auslö- schen.« Wieder lächelte er zynisch. »Stellen Sie sich das einmal vor«, fuhr er fort, »Satori City, eines der größten Online- Monumente, von einem wuchernden Algorithmendschungel verschlungen. Um vielleicht eines Tages von einem zukünfti- gen Forscher wiederentdeckt und als kläglicher Rest einer verschollenen digitalen Zivilisation bejubelt zu werden...« Kimura verdrehte die Augen. Es drückte eine gewisse Schrulligkeit aus, aber auch Gefahr. »Das ist ja unglaublich!« rief Gobi. »Wie kann jemand er- warten, bei einem Angriff auf Satori City ungeschoren davon- zukommen?« Jetzt war es an Kimura, den Überraschten zu spielen. »Oh, das ist noch nicht alles, Dr. Gobi«, sagte er. »Wir haben Infor- mationen erhalten, wonach Unglücksfälle nach Art von Sender Emmanuel sich in naher Zukunft auch in Virtuopolis ereignen könnten. Anschließend wäre es für Lobbyisten ein leichtes, auf die Schließung von Satori City zu drängen, weil es dann für die Öffentlichkeit angeblich ein >Sicherheitsrisiko< darstellt.« Gobi hörte ungläubig zu. »Wieso informieren Sie nicht die Behörden ­ oder besser noch, geben Konsumenten-Alarm?« wollte er wissen. »Wenn Sie irgendwelche Informationen über einen drohenden Terroranschlag haben, dann müssen Sie doch etwas unternehmen!« Ihn schauderte. Ein Zwischenfall in Virtuopolis wäre wie ein vieltausendfacher Sender Emmanuel. Tausende von Men- schen, vielleicht Zehntausende, wären betroffen. Gobi erstarrte bei dem Gedanken an Trevor, der in Gametime boardete. Etwas umklammerte sein Herz und ließ nicht mehr los. »Die Welt informieren? Aber genau das hätten sie doch gern«, schnaubte Kimura. »Daß wir Gerüchte über unseren eigenen Niedergang verbreiten! Daß wir dem Endbenutzer die Gefahren von Virtuopolis aufzeigen! Wie poetisch!« Der Japaner schlürfte lautstark seinen Tee. »Nein, das wäre unmöglich. Und ich fürchte, daß wir uns auch nicht an Ihre Behörden wenden können.« »Warum nicht?« »Es gibt Personen in Ihrem Land, denen nichts lieber wäre, als daß man Satori City aus >Sicherheitsgründen< abschaltet, damit sie dann eine lange und sorgfältige Überprüfung unse- rer Systeme vornehmen können, eine, zu der es zweifellos auch gehören würde, die firmeneigenen VR-Technologien von Satori auseinanderzunehmen.« Kimura schüttelte den Kopf. »Es liefe aufs gleiche hinaus. Wir wären gezwungen, dichtzumachen. Und Satori City würde einen langsamen Tod sterben, während unsere Techno- logie mehr und mehr veraltet. Nein«, seufzte er. »Ich fürchte, keines dieser Szenarien bietet uns irgendwelche brauchbaren Optionen, um unseren Feinden zu begegnen.« »Aber etwas müssen Sie doch tun?« »Wir könnten zuerst zuschlagen, Dr. Gobi.« Kimura hob eine Augenbraue. »Wie soll das geschehen?« »Sagen wir, durch einen präventiven Schachzug. Wir könn- ten die zeitweilige Schließung von Satori City selbst bekannt- geben ­ ehe man uns dazu zwingt.« »Ich verstehe nicht.« Gobi runzelte die Stirn. »Hätte das nicht genau die gleiche Wirkung wie die, von der Sie gerade gesprochen haben? Das würde eine Welle schlechter Publicity gegen den Satori-Konzern auslösen.« »Im Gegenteil«, erwiderte Kimura mit einem Lächeln. »Wir könnten umfassende Pläne ankündigen, unser System zu verbessern. Wir könnten unseren Kunden neue und technisch ausgereiftere Leistungen anbieten. Ich glaube, das ist eine sehr viel ehrenwertere Lösung. Sie ist glaubhaft, und vor allem gewinnen wir dadurch Zeit.« »Darf ich kurz den Anwalt des Teufels spielen?« unterbrach Gobi ihn. »Vermutlich sind Sie an meiner Meinung interes- siert, sonst hätten Sie mich heute nachmittag ja wohl nicht herbestellt?« Kimura verneigte sich zustimmend. »Ich bin begierig, Ihre Meinung zu hören.« »Sie haben eine mögliche Konsumentenreaktion erwähnt. Und die zunehmende Angst in der Öffentlichkeit, was die Gefahren der virtuellen Realität betrifft.« »Das ist korrekt«, nickte Kimura. »Tja, nun, ganz gleich, welche Verbesserungen Sie am Sys- tem auch vornehmen wollen, Sie stehen dann vor demselben alten Problem. Und vor derselben Gefahr. Daran ändert sich nichts. Es erwartet Sie in dem Moment wieder, in dem Sie beschließen, das Geschäft neu zu eröffnen.« Kimura hatte mit geschlossenen Augen zugehört. Jetzt öff- nete er sie. Seine Pupillen waren wie glänzende schwarze Go- Steine. »Nein, Dr. Gobi, aber vielleicht sollte ich das ein wenig näher erläutern«, sagte er sanft. »Die Verbesserungen, die wir planen, haben nichts mit vir- tueller Realität zu tun. Sie betreffen das nächste Stadium. Es geht darum, was auf die virtuelle Realität folgt. Post-Vachuru. Wakarimasuka? Verstehen Sie? Wir werden wieder einmal die ersten sein, die einen brandneuen Standard einführen. Einen technologischen Durchbruch. Und niemand ­ keiner unserer Feinde oder Konkurrenten ­ wird gegen uns bestehen kön- nen.« Gobi überlegte. Etwas fehlte hier noch. Fast wie Neo-Tokio; er grinste in sich hinein, 'tschuldigung, schlechter Witz. »Wenn ich Sie richtig verstehe«, sagte Gobi schließlich, »wollen Sie ein post-virtuelles System einführen und Satori City neu starten?« »Hai«, nickte Kimura erneut. »Dann wird von der antivirtu- ellen Lobby keine Gefahr mehr ausgehen. Es wird eine neue, saubere Technologie sein.« »Besitzen Sie diese Technologie schon?« Kimuras Stimme wurde eine Spur leiser. »Wir arbeiten zur Zeit daran. Sie ist nahezu fertig. Es gibt noch ein paar... Her- ausforderungen.« »Tja.« Gobi suchte nach den richtigen Worten, um seinen Satz zu beenden. »Was kann ich da für Sie tun? Ich meine, wie soll ich Ihnen von Nutzen sein können?« Er lachte matt. »Ich bin nicht einmal Ingenieur! Ich arbeite weder virtuell noch post-virtuell!« Kimura sah ihn nachdenklich, fast bedauernd an. »Wir brauchen keine Ingenieure«, sagte er schließlich. »Wir brauchen Sie.« Gobi hatte den Eindruck, als habe sogar der Nebel Fieber. Er wirkte irgendwie zerzaust, wie er so über die Anhöhe von Nob Hill hinwegstrich und sich in weißen Schlieren auf die California Street herabsenkte. Vielleicht hatte er ja wirklich Fieber. Nach seinem Treffen mit Kimura hatte er sich beeilt, den Trans-Bay-Maglev zurück nach Berkeley noch zu erwischen. Er hatte sich so schnell wie möglich absetzen müssen. Ihm war übel, und er fühlte sich benommen und verwirrt. Sein Herz pochte wie wild, und sein Körper war in kalten Schweiß gebadet. Das war doch nicht möglich, oder? Was Kimura ihm da gerade gezeigt hatte! Wenn es möglich war, dann hatte sich die Bedeutung von allem, was er jemals für wahr gehalten hatte, für immer geän- dert. Alle Regeln standen jetzt kopf. Korrektur: Es gab keine Re- geln mehr. Zu dieser abendlichen Dämmerstunde wimmelte es in Nob Hill nur so von Touristen. Russische Aristokraten fuhren in Pferdedroschken vorbei. Randalierende Gruppen wohlhaben- der großchinesischer Geschäftsleute irrten vor glitzernden Hotels herum, die im Hongkong-Stil mit atriumsgleich offenen Eingangshallen versehen waren, und bereiteten sich darauf vor, die Restaurants in der Grant Avenue in New Chinatown zu stürmen. Lachend und jubelnd hing eine Anzahl Latino-Amerikaner an einem Kabelwagen, der die California Street hinaufratterte. Ein Aborigine ging ­ nahezu nackt, mit langen dunklen Beinen ­ die steile Anhöhe hinauf und hielt dabei ein Didjeri- du umklammert. Als er an Gobi vorbeikam, drehte er sich plötzlich um und krächzte ihm etwas zu. Seine rot umrande- ten Augen brannten im Fieber. Verdutzt wich Gobi zurück. »Was?« Der Aborigine lachte und sagte mit starkem australischen Akzent: »Der Weg ist in beide Richtungen steil, Kumpel.« Als Gobi wieder hinsah, war die Gestalt fort. Ding-ding-ding-ding-ding! Gobi lief rasch zu einem Kabelwagen, der die California Street Richtung Embarcadero-Terminal hinunterschlingerte. Er sprang aufs Trittbrett, ergriff die Haltestange und holte tief Luft. Als er die Augen wieder öffnete, sah er unten im Ban- kenviertel das efeuüberwucherte Transamerica Pyramid Building. Der Kabelwagen wurde schneller, als er am kitschigen Neu- ronenstrudel von New Chinatown vorbeikam. Irisierende chinesische Ideogramme schwebten wie übereinanderge- schichtete Drachen über der Grant Avenue, und die Kakopho- nie aus Hubei-Pop und Synthesizer-Riffs der Peking-Oper erfüllte die Luft wie knisternde Reissuppe. Als der Kabelwagen am Embarcadero kreischend zum Ste- hen kam, sprang Gobi ab. Er eilte die Treppe zum Rapid- Transit-Terminal hinunter und kam dabei an einer Gruppe chantender Mitglieder des Hare-Nixon-Kults vorbei. Sie hatten rasierte Köpfe und trugen ihre typischen orangefarbenen Gewänder. »Hare Nixon, Hare Nixon, Hare Nixon, Hare, Hare...« Ihre Stimmen hallten im Tunnel dumpf wider. Gobi hörte das Zischen des Trans-Bay-Maglev, der auf den Gleisen höherstieg. Ihm blieb gerade noch genug Zeit, seine BART-Karte durch den Schlitz zu ziehen und ins Abteil zu schlüpfen, ehe die Türen sich hinter ihm schlossen. Der Ma- glev schoß mit einem Ruck los und folgte in der durchsichti- gen Röhre dem Verlauf einer Kurve. Wuuuusch! Das Wasser in der Bucht war von einem un- durchsichtigen, schlammigen Grün. Ein junger Seelöwe war auf der Suche nach Plankton den Unterwassergleisen zu nahe gekommen; er taumelte zurück, als der Maglev als greller Lichtpfeil vorbeiraste. Die entsetzte Reaktion des Tieres erin- nerte Gobi an den Ausdruck auf seinem eigenen Gesicht, als Kimura ihm die Zukunft gezeigt hatte. Es war eine Zukunft, die keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr hatte. Sie brauchte weder das eine noch das andere. GobisTaschen-Shiba piepste. Er ignorierte es. Ein Gefühl sagte ihm, daß Kimura ihn erreichen wollte. So leicht würden sie ihn nicht davonkommen lassen. Nicht nach alledem, was er jetzt wußte. Er sah sich in dem nahezu leeren Abteil um. Ein Pärchen saß in einer privaten Sensu-Sound-Einheit von Shikibo wie in einem kleinen Hochgebirgszelt, den Reißverschluß bis zu den Hüften heruntergezogen. Sie hatten sich dicht aneinanderge- schmiegt, und die Beine baumelten in ihrem tragbaren Amphi- theater. Ab und zu zuckten ihre Füße, als übten sie auf einem unsichtbaren Boden Tanzschritte. Neben ihnen ritt ein junger hagerer Latino mit Spitzbart seine Gehirnwellen. Die Brille war mit dem Headset verbun- den, und er befand sich anscheinend auf einem Trip. Gobi sah das nicht zum ersten Mal ­ all seine Körperbewegungen, die jene Bewegungen nachvollzogen, die anderswo im V-Raum stattfanden. Mein Gott, war sie das bereits? Die Verwandlung? Offenbar war ein wild aussehender Grenzer, der sich mit Gobi die Bank teilte, die einzige Person, die nicht irgendwo eingestöpselt war. Er trug einen breitkrempigen Cowboyhut aus Leder, und seine Brust war bis auf eine Lederweste bloß. Ach du liebe Güte! Saß da nicht ein Frettchen auf seiner Schulter? Ja, mein Herr, ganz recht. Wie jedes brave Haustier in San Francisco trug es sogar einen goldenen Ohrring. Gobi fiel auf, daß die Arme des Mannes dort, wo sich das Frettchen mit scharfen Klauen in ihnen festgekrallt hatte, lange blutige Kratzer aufwiesen. Gobi sog die Luft ein. Puh! Der Tiergestank war überwältigend. Bäh. Das würde eine lange Fahrt werden. Schließlich sprach ihn der Grenzer an. »Wollen Se denn nich drangehen, Mistah?« Gobis Shiba hatte nicht aufgehört zu piepsen. »Nein, will ich nicht.« Der Grenzer grinste. Ihm fehlten ein paar Schneidezähne, und sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen. »Die Dinger bringen bloß Ärger, was, Mistah?« Er setzte einen kleinen Flachmann an und trank. Sein Atem stank nach billi- gem Shochu-Alkohol. »Willste auch was, Norman?« Er bot seinem pelzigen Ge- fährten einen Schluck aus seinem eigenen offenen Mund an. »Das hier is mein Kumpel Norman Rockwell. Er is'n Frettchen, Mann. Gleiche Familie wie Nerz, Murmeltier un Wiesel«, erklärte er stolz. Gobi sagte nichts. Der Mann grinste wieder und deutete mit einem schmutzigen Finger auf Gobis piepsende Tasche. »Die sin ja ziemlich scharf auf Sie, häh? Was ham Se denn ange- stellt? Mit'm Weib vom Boß durchgebrannt? Hee! Hee! Hee!« gluckste er. Gobi starrte ihn bloß an. »Heilige Scheiße«, sagte der Grenzer und wischte sich mit der Hand den Mund ab. »Was glaub'n Se wohl, was die da drin machen?« Das Paar im Shikibo hatte die Beine umeinandergeschlun- gen. Plötzlich schob der Mann seinen rechten Schenkel über den Schoß der Frau. »Glaubn Se, daß die es da drin echt treiben?« fragte der Grenzer, und ein Grinsen breitete sich auf seinem unrasierten Gesicht aus. »Wow, sicher ficken sie oder so! Ist doch 'ne Won- ne, Mann!« Er nahm einen weiteren Schluck aus seinem Flachmann und feuerte das Paar an. »Gas geben, Mann! Fickt euch das Hirn aus'm Leib!« Unter zuckenden Bewegungen glitt das Paar vom Sitz und sackte zu Boden, noch immer in ihr Shikibo verstrickt. Gobi sprang auf. Etwas stimmte hier nicht. »He, kuck dir mal den an, Kumpel!« murmelte der Grenzer und wies auf den Latino, der sich auf seinem Sitz zu winden begann. »Der gibt ja wohl nicht den Löffel ab, oder? Sach mal, was is'n hier Sache, Mann?« »Anghhhhhhhh...«, stöhnte der Gehirnwellenreiter. »Mein Gott!« rief Gobi aus. »Er hat einen Anfall! Vor seinem Mund bildet sich Schaum!« Gobi kniete sich neben ihn und nahm ihm vorsichtig die Brille ab. Die Lampen blinkten noch, aber der Mann hatte schon die Augen nach oben verdreht, so daß nur das Weiße zu sehen war. Sein Körper krümmte sich und peitschte immer wieder den Boden. Gobi gab sein Bestes, ihn festzuhalten, hatte aber keinen großen Erfolg. »Helfen Sie mir mit ihm!« rief er. »Teufel, nein!« schrie der Grenzer und zog sich in den hin- teren Bereich des Abteils zurück. »Was is'n, wenn er was Ansteckendes hat, das ich mir hol?! Sieht mir nich gut aus! Den rühr ich nicht an! Sie sind ja irre, Mann!« Ein Krächzen entrang sich der Kehle des Gehirnwellenrei- ters, als ihm die Luft wegblieb. Gobi zwang ihm den Mund auf und versuchte es mit Wiederbelebungsversuchen. Er arbeitete so schnell wie möglich, wechselte zwischen kräftigem Ausat- men und harten Stößen gegen die Brust des jungen Latinos. Das Krächzen setzte wieder ein, aber die Luft entwich pfei- fend, und dann versagte die Atmung vollends. »Er ist tot, Mann! Er ist tot! Für den Kerl kannste nix mehr tun!« zeterte der Grenzer. Gobi fühlte dem Gehirnwellenreiter den Puls. Er war wie betäubt. Nichts. Er konnte es nicht glau- ben. Der Mann war tatsächlich tot. Gobi wandte seine Aufmerksamkeit dem Paar auf dem Bo- den zu. Offenbar kämpften sie noch immer in ihrem tragbaren Zelt und versuchten dabei, sich einen Weg nach draußen zu bahnen. Gobi eilte hinüber und zog den Reißverschluß der Shikibo- Einheit auf. Doch als er sah, was sich im Inneren befand, fuhr er mit einem Aufschrei zurück. Das junge Paar hatte die Augen geschlossen, als läge es in tiefem Schlaf. Ein Trodenkabel verband ihre Stirnen. Sie hatten eine Nervenverbindung unterhalten, wie Liebende, die einen Traum miteinander teilen. Aber das war jetzt nicht mehr der Fall. Mit schwarzen stecknadelgroßen Äuglein sah das Frettchen Norman Rockwell zu Gobi auf; einer der Drähte, an denen es genagt hatte, baumelte noch zwischen seinen scharfen kleinen Zähnen. Der Grenzer kam hinzu und beugte sich vor. Mit einer Flinkheit, die Gobi erstaunte, nahm er den Toten sein Haustier ab und klemmte es sich unter den Arm. »Ich glaub, Sie sollten jetzt besser drangehen, Mistah«, schlug er gelassen vor. Der Maglev fuhr in die BART-Station von Berkeley ein. Kaum schwangen die Hydrotüren auf, trat der Grenzer auch schon auf den Bahnsteig hinaus und rannte in Richtung Ausgang. Gobi hielt sich die piepsende Einheit vors Gesicht und klappte den Kompakt-Monitor auf. Das Bild grieselte, und Kimuras Konterfei tauchte auf. »Dr. Gobi«, begann der Japaner ohne weitere Begrüßung. Es war, als wäre ihr Gespräch im Teehaus kaum unterbrochen worden. »Gerade sind unsere schlimmsten Befürchtungen wahr geworden.« Sein Mund war nur ein dünner Strich im Gesicht. »Satori City ist kollabiert. Eine Anzahl von Sektoren hat schweren Schaden genommen. Es gab zahlreiche Un- glücksfälle. Wir vermuten Sabotage. Ich fürchte, daß Sie uns jetzt wirklich helfen müssen.« Alptraum Noch lange nach dem Ende des Alptraums war Gobi außer- stande, die richtige Reihenfolge der Ereignisse zu rekonstruie- ren, die sich in jener Nacht zugetragen hatten. Er versuchte vom BART-Bahnsteig aus, bei sich zu Hause anzurufen. Juan mußte schon gegangen sein. Das hieß, daß Trevor allein in der Wohnung war. »Komm schon, Trevor! Geh um Himmels willen ans Fon!« schrie er ins Shiba. »Komm schon! Komm schon! Komm schon!« Aber es ging keiner dran. Er konnte sich nur an Bruchteile des Alptraums erinnern, doch an die dafür um so lebhafter: Das Zwielicht am tiefblau- en Himmel über den Hügeln von Berkeley, als er die BART- Station verließ. Der Mann, der mit vornüber gesunkenem Kopf und zu Boden baumelndem Headset im Fenster des Cafés saß. Eine kleine Gruppe von Leuten, die wahrscheinlich ein Mul- tiplex-Shikibo miteinander geteilt hatten. Ihre Körper lagen ausgestreckt an einer Bushaltestelle, als wäre ein Jahrmarktzelt über ihnen zusammengebrochen. Ein Lieferwagen und ein Pkw, die mitten auf der Straße kollidiert waren. Der Lieferwa- gen trug einen VFF-Schriftzug. Es war ein Virtuell Ferngelenk- tes Fahrzeug gewesen. Der Fahrer des Pkw hatte den Zusam- menstoß nicht überlebt. Es war sinnlos zu versuchen, ein Taxi nach Hause zu be- kommen, also rannte Gobi, so schnell er konnte. Fünf Blocks weiter in der Shattuck Street mußte er Leuten ausweichen, die verwirrt umherirrten. Er passierte die Vine Street und wollte gerade für den Endspurt nach Hause in die Oxford Street einbiegen. An der Ecke blieb er stocksteif stehen. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Ein Blin- denhund zerrte die Leiche eines Trodenkopfs die Straße ent- lang. Die Leine hing noch am Handgelenk des Mannes. Gobi versuchte den Hund zu beruhigen, während er die Leine löste, konnte aber nicht bei dem Studenten bleiben, dem es den Verstand weggeätzt hatte. Er mußte ihn dort auf dem Gehweg liegen lassen. Was ging hier vor? Gobi kämpfte seine Panik nieder und sprintete die nächsten paar Blocks ohne Atempause. Er entriegelte das Tor und nahm drei Stufen auf einmal, bis er an der Vordertür war. Er schloß sie auf und betrat die dunkle Diele. Ein Küchenlicht brannte. Trevor saß am Tisch und aß eine Schüssel Zerealien. »Hallöchen, Dad.« Der Junge sah grinsend zu ihm hoch. »Du bist schon wieder daheim?« Gobi blinzelte. Der Tisch war leer. Ein Flashback von heute morgen. Sie hatten zusammen Witze gerissen, ehe Trevor zur Schule gegangen war. »Trevor!« rief Gobi angsterfüllt. Sein Herz hämmerte, als wollte es explodieren. Aber nicht deswegen schmerzte es, sondern vor lauter Angst. Er lief zu Trevors Zimmer und riß die Tür auf. Da saß er, sein Junge, vornübergeneigt auf dem V-Board, die Arme baumelten herab und die Füße steckten in Köpersocken. Trevor war mit seinen Socken nie zufrieden. Er war so furcht- bar pingelig damit. Gewöhnliche Baumwollsocken mochte er nicht, weil sie nach ein- oder zweimaligem Waschen innen an der Spitze kleine Röllchen bildeten. Und bei den dehnbaren paßte ihm nicht, wie sie um seine Knöchel schlackerten. Dar- um trug er das ganze Jahr über schwere Wollsocken ­ Früh- ling, Sommer, Herbst und Winter... Gobi schüttelte den Kopf, als die Flut trivialer Gedanken ihn einhüllte und ihm gelinden Trost spendete. Dann brach der Damm. »Nein, Trevor! Nein, Trevor! Nein, nein, nein, nein, nein...« Er sank auf die Knie und wiegte den Jungen in den Armen. Er schluchzte, während er den Geruch seines Sohns in sich aufnahm, den Duft der Haare und der Haut, er küßte die kalten Wangen, die jetzt von seinen Tränen naß waren. Wieder und wieder küßte er sie, und er weinte, während die Welt auf den Schultern einer Woge lebenslanger Erinnerungen rasch davongetragen wurde. Alta Bates Frank... Frank... Er spürte, wie etwas sanft an seinem Ärmel zupfte. Benommen sah Gobi auf. Einen Augenblick lang wußte er nicht, wo er war. Er erkannte das vertraute Gesicht von Hans Ulbricht. Hinter der korpulenten Gestalt seines Freundes stand Hans' Frau Melissa, einen besorgten Ausdruck auf dem abge- härmten Gesicht. Er sah sich um. Sie befanden sich im Wartezimmer des Alta Bates Hospitals außerhalb des abgesperrten Bereichs der VR- Einheit für Heranwachsende. »Frank«, wandte Hans sich leise an ihn. »Du brauchst ein wenig Ruhe. Du bist jetzt schon seit achtundvierzig Stunden hier. Komm, wir bringen dich heim.« Hans wechselte einen kurzen Blick mit seiner Frau. »Trevor ist in guten Händen«, fügte er hinzu, um Gobi zu beruhigen. Sobald Gobi den Namen seines Sohns hörte, wurde er hell- wach. In Trevors Flügel lagen mehr als fünfzig Kinder. Und Trevor hatte Glück gehabt. Einige der anderen Kinder waren erheblich hirntoter als er. Man hatte Trevor an ein Nervener- haltungssystem angeschlossen. Man hatte ihm stellenweise den Schädel rasiert, und seine Vorderhirnlappen waren durch Klemmen und Troden mit einer Einheit neben seinem Bett verbunden, die zum Netzwerk des Datensuchprogramms der Neuronalen-Notfall-Eingreiftruppe in Atlanta gehörte. Seltsam... Trevor sah aus, als träumte er. Aber irgendwo, irgendwo im tiefen V-Raum, mußte er noch boarden. Von Zeit zu Zeit zuckten seine Beine, und er verdrehte die Augen, während grellfarbige Computergrafiken aufflackerten. Am gespenstischsten war der Spielstand. Aus dem Nichts heraus tauchte er auf dem Bildschirm auf, anscheinend ein Überbleib- sel des Zusammenbruchs. Er zeigte haargenau den Stand zu dem Zeitpunkt an, als Trevor sich mitten im Spiel abgesetzt hatte. Aber von wo hatte er sich abgesetzt? Und an welchem Ort befand er sich jetzt? Acht Stunden nachdem der Wahnsinn begonnen hatte, fand Gobi sich in einer Privatlounge in Alta Bates wieder. Er warte- te mit anderen angsterfüllten Eltern und Angehörigen darauf, die Ärzte und Beamten der Gesundheitsbehörde sprechen zu dürfen. Er trug ein Namensschild an der Brust. »Ah ja, Sie müssen Trevors Vater sein. Hi, ich bin Dr. Wins- ton.« Ein schlaksiger Arzt mittleren Alters mit rotblondem Haar spähte auf seinen Aufkleber. Um sicherzugehen, warf er noch einen Blick in seine Unterlagen. »Trevor Gobi, stimmt's?« »Genau. Wie geht es meinem Sohn, Doktor?« »Der Zustand Ihres Sohns ist stabil.« Dr. Winston hob eine Hand, um jeden ungerechtfertigten Optimismus im Keim zu ersticken. »Er befindet sich noch im Koma wie die anderen Kinder auch, aber er hält sich recht gut. Sagen wir, es gibt berechtigten Anlaß zur Hoffnung.« Er nickte in Richtung Couch. »Warum setzen wir uns nicht einen Augenblick? « Die beiden Männer setzten sich. Der Doktor hantierte an VR-Brille und Neuroskop, die er um den Hals hängen hatte. »Was stimmt nicht?« fragte Gobi ängstlich. »Dr. Wolinsky hat Sie bereits gebrieft, glaube ich?« tastete Dr. Winston sich vor. »Ja, ich war da.« Gobis Stimme verklang, als ihm die Sit- zung wieder in Erinnerung kam. Bei einer Konferenz, die hastig anberaumt worden war, um die Familien der Kinder über die Sachlage aufzuklären, hatte ein Kliniksprecher einen ersten Bericht abgegeben. »Zunächst einmal muß ich eine Verlautbarung machen«, hatte Dr. Wolinsky über das Podium gebeugt gesagt. »Der Präsident der Vereinigten Staaten hat gerade den nationalen Notstand ausgerufen. Er hat die Neuronale Eingreiftruppe angewiesen, alle Anstrengungen zu koordinieren und mit ihren Entsprechungen im Ausland daran zu arbeiten, eine Speerspitze für den internationalen Erfolg dieser Anstrengungen zu bilden.« Er hatte kurz innegehalten, ehe er fortfuhr. Im Zimmer herrschte völlige Stille. »Jetzt werde ich Ihnen ein paar Details mitteilen, die wir inzwischen über die Krise herausfinden konnten. Vorläufig sind sie eher skizzenhaft, also haben Sie bitte Nachsicht mit mir. Und wir wissen auch noch nicht genau, was eigentlich schiefgegangen ist, aber glauben Sie uns, wir arbeiten daran.« Dr. Wolinsky räusperte sich und sah in seine Notizen. »Bisher ist uns folgendes bekannt. Anscheinend kam es in drei der am häufigs- ten benutzten Sektoren von Virtuopolis, das, wie Sie wissen, von der Satori Corporation betrieben wird, zu einem. systemweiten Zusam- menbruch. Am stärksten wurde um 4 Uhr 56 heute nachmittag Gametime, die Freizeitumgebung für Kinder, davon betroffen, Minuten später gefolgt von der Erwachsenenwelt und Karaokeland.« Er rückte sich die Brille zurecht, und seine Stimme brach etwas. »Bisher haben dreiundvierzig Länder schätzungsweise 8042 Neural- Unterbrechungen gemeldet. Darunter«, ächzte Dr. Wolinsky ins Mikrofon, »befinden sich 648 Todesfälle von Erwachsenen infolge von Herzinfarkt durch den Schock der Abkoppelung. Diese Zahl wurde soeben bestätigt.« Er hob die Augenbrauen. »Annähernd 3800 Kinder sind in achtundzwanzig virtuellen Spielumgebungen auf ungefähr vierzig Spielebenen gefangen.« Er schürzte die Lippen. »Bisher ist noch kein Kind gestorben.« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Wir wissen nicht, warum sie überlebt haben, während bei den Erwachsenen Todesfälle zu ver- zeichnen sind. Die Nervensysteme der Kinder funktionieren noch. Sie befinden sich in verschiedenen Stadien des Komas. Ich möchte Sie nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um eine äußerst prekäre Situation handelt. Aber es besteht nach wie vor Hoffnung, daß wir sie zurückholen können.« Die Spannung im Raum erreichte ihren Höhepunkt, als eine der Mütter zusammenbrach. »Mein Baby, ich will mein Baby!« wim- merte sie. »Ich versichere Ihnen, daß unsere Neuroprogrammierer rund um die Uhr damit beschäftigt sind, die betroffenen Sektoren zu bergen«, erklärte Dr. Wolinsky, nachdem man sich um die Frau gekümmert hatte. »Auf internationaler Ebene werden die größten Anstrengun- gen unternommen. Allein in den Vereinigten Staaten überwacht das Netzwerk der NNET in Atlanta kollektiv die Gehirnwellen sämtli- cher neurologisch betroffener Kinder. Stündlich gehen bei uns Updates über ihren Zustand ein... Wir halten Sie auf dem laufen- den.« »Sagen Sie mir die Wahrheit, Doktor.« Gobi blickte Dr. Winston fest an. »Wie stehen seine Chancen? Fünfzig zu fünfzig? Schlechter?« »Verstehen Sie doch, Mr. Gobi«, erwiderte Dr. Winston vor- sichtig. »Ich bin von Haus aus Neuropathologe, und das hier ist ein Bereich des Traumas, mit dem wir nicht besonders vertraut sind.« Er seufzte. »Mir ist klar, daß die Situation für Sie äußerst schwierig ist. Ich bin selber Vater. Gott sei Dank ist meine Tochter erst ein Jahr alt, sonst wäre sie womöglich... T-tut mir schrecklich leid, Mr. Gobi.« Der Arzt unterbrach sich mitten im Satz und errötete. »Das wollte ich nicht sagen. Ich fürchte, da bin ich gerade ins Fettnäpfchen getreten.« »Schon gut, Doktor.« Gobi winkte ab. »Vergessen Sie's. Sa- gen Sie mir einfach nur, in welchem Zustand sich Trevor befindet.« »Er ist in Theta«, antwortete Dr. Winston nach einem Au- genblick des Zögerns. »Wie bitte? Das habe ich nicht ganz verstanden.« Gobi schüttelte den Kopf. »Was haben Sie da gesagt?« »Ihr Sohn liegt im Koma, aber seine Gehirnwellen senden auf einer Theta-Frequenz. Irgendwo zwischen fünf und sieben Hertz.« »Sie tun was?« Gobi schaute verdutzt drein. »Ich erklär's Ihnen«, sagte Dr. Winston und hob die Hände, als illustrierte er damit einen Vortrag in einer Vorlesung. »Es gibt vier Frequenzbänder für Gehirnwellen.« Er zählte sie an den Fingern der linken Hand ab. »Da wäre Beta, bei dem es sich um den Normalzustand des Wachbewußtseins handelt. Da wäre Alpha, das, sagen wir mal, einem tiefen Zustand der Entspannung oder Konzentration entspricht. Und dann wäre da Theta. Das ist ein extrem verinnerlichter Zustand, Mr. Gobi. Dabei kommt es zur Produktion zahlreicher hypnagogischer Bilder.« »Hypnagogischer Bilder?« »Besser als kreative Tagträumerei bekannt«, erklärte Dr. Winston entschuldigend. »Das ist ein lichter Traumzustand genau an der Grenze zwischen Bewußtsein und Tiefschlaf. Ihr Sohn befindet sich zur Zeit an einem ungemein kreativen Ort. Wenigstens wissen wir, daß er sich nicht in Delta aufhält.« Gobi runzelte die Stirn und schüttelte erneut den Kopf. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. »Delta wird mit Tiefschlaf und anderen ähnlich unbewuß- ten Zuständen in Verbindung gebracht«, fuhr Dr. Winston freundlich fort. »Ihr Sohn erzeugt eine Anzahl reichlich inte- ressanter Grafiken auf dem Monitor«, fügte er nachträglich hinzu. »Grafiken?« wiederholte Gobi ungläubig. »Ja. Meistens Spiralen und Mandalas. Das täte er nicht, wenn er in Delta wäre, das versichere ich Ihnen.« »Moment mal. Wollen Sie mir etwa erzählen, daß Trevor sich technisch gesehen im Zustand sogenannter >kreativer Tagträumerei< befindet ­ aber im Koma liegt?« »Exakt«, nickte Dr. Winston. »Ich weiß, das klingt verrückt. Wir behaupten auch nicht, es zu verstehen... ich meine, medi- zinisch gesprochen. Wenn Ihr Sohn sich in einem gewöhnli- chen Zustand der Trance oder des Tagträumens befände, dann könnte er jederzeit daraus erwachen. Aber in diesem Fall kann er es nicht. Jedenfalls nicht von sich aus.« Dr. Winston hüstelte nervös. »Und noch etwas«, fügte der Arzt hinzu. »Wir wissen nicht, wie lange Trevor ­ und die anderen Kinder, die sich in einem ähnlichen Zustand befinden ­ ihr gegenwärtiges Niveau der neuronalen Aktivität halten können. Unser Nervenerhaltungs- system kümmert sich zwar um ihre normalen Gehirn- und Körperfunktionen, aber...« »Aber was?« »Es gibt da noch etwas, was uns sehr verblüfft«, sagte Dr. Winston und wich Gobis Blick aus. »Wie meinen Sie das, es gibt da noch etwas? Was geht hier vor, Doktor?« Dr. Winston senkte seine Stimme. »Es ist ziemlich seltsam. Höchst ungewöhnlich. Ich bin nicht sicher, ob ich es Ihnen auch nur ansatzweise erklären kann.« Er erhob sich, und plötzlich zeigte sich seine Erschöpfung. »Warum kommen Sie nicht und werfen einen Blick auf Trevor? Dann können Sie sich selber ein Bild davon machen.« Der Arzt führte ihn durch die Pendeltüren in die Notstation der VR-Abteilung. Gobi ging an einer Anzahl kleiner weißer Zelte vorbei. Er sah, wie Krankenschwestern sie durch zurückklappbare Plastikeingänge betraten und wieder herauskamen. Drinnen schienen kleine Kinder zu schlafen. Es wirkte eher wie ein Ort spiritueller Zuflucht als wie die Abteilung einer Notstation. Im Hintergrund lief sogar meditative Musik. Gobi warf Dr. Winston einen fragenden Blick zu. Das hatte er nicht erwartet ­ diese Zuflucht. Aber vielleicht war das so in der Wachstation, wenn der Tod mit blumengefüllten Händen während der Besuchszeit anklopft. »Sie hören es also auch?« fragte Dr. Winston, und zum ers- ten Mal, seit Gobi ihn kannte, entspannten sich seine Gesichts- züge. »Klingt irgendwie wie gregorianische Gesänge.« »Soweit wir das beurteilen können, handelt es sich um ein Potpourri aus irgendwelchen Andachtsliedern der Hildegard von Bingen. Ist Ihnen die Musik Hildegard von Bingens be- kannt, Mr. Gobi?« Gobi starrte ihn ausdruckslos an. Natürlich wußte er, wer Hildegard war, aber seine Gedanken liefen Sturm. Er befand sich noch im Schockzustand. »War sie nicht eine Mystikerin und Komponistin des zwölf- ten Jahrhunderts?« fragte Gobi. »Während des Mittelalters? In Deutschland?« Plötzlich blieb er stehen. »Was meinen Sie damit, soweit Sie das beurteilen können? Was hat die Musik mit dem Ganzen zu tun? Und überhaupt, wissen Sie denn nicht, was Sie in Ihrer eigenen Abteilung spielen?« Just in dem Moment schwebte eine betörend schöne musi- kalische Phrase in der Luft wie ein Buntglassplitter. Beide Männer wurden völlig von dem Klang gefangengenommen. »Das ist es ja gerade«, erwiderte Dr. Winston und warf ihm einen kurzen Blick zu. »Bei uns wird in den Abteilungen gar keine Musik gespielt. Wir haben nicht einmal ein Soundsys- tem. Es ist wie verhext. Kommen Sie, Ihr Sohn liegt da drü- ben.« Sie blieben vor einem Mann stehen, der sich mitten im Gang aufgestellt hatte. »Ah, Professor! Da sind Sie ja!« rief Dr. Wins- ton. Er war ein Zwerg von einem Mann mit einem weißen Haarkranz um den kahlen Schädel herum. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern und einen zerknitterten braunen Samtan- zug mit rundem Kragen. Er zielte mit seinem Recorder so schwungvoll zur Decke hoch, als wäre es eine Startpistole. »Tut mir leid, waren Sie gerade beim Aufzeichnen?« fragte Dr. Winston. »Schon in Ordnung«, sagte der Zwerg. »Ich habe überall Mikros angebracht.« »Das ist Professor Heinrich Müller vom Musikkonservato- rium in San Francisco«, sagte Dr. Winston. »Mr. Gobi ist der Vater eines der Kinder hier.« Müller nickte. »Eindeutig Hildegard. Ohne jeden Zweifel«, bemerkte er mit starkem deutschen Akzent. »Wie geht es Ihnen?« Er nickte Gobi zu. »Tut mir aufrichtig leid, was Ihrem Kind zugestoßen ist. Aber diese Musik, das ist fast eine Art Wunder, nicht? Das müssen wir doch alle zugeben.« »Was müssen wir alle zugeben?« wollte Gobi wissen, der noch immer ganz verwirrt war. »Professor Müller ist Experte für mittelalterliche Musik, Mr. Gobi«, erklärte Dr. Winston. »Er zeichnet diese Musik auf, seit sie uns vor einigen Stunden zum ersten Mal auffiel.« »Würde mir bitte einmal jemand sagen, was hier eigentlich vorgeht!« brauste Gobi auf. »Professor?« Professor Müller blinzelte, dann schob er die Lippen vor, als dächte er über eine schwerwiegende Frage nach. »Ach herrje«, sagte er schließlich. »Sie wissen also noch gar nichts darüber? Sie haben es ihm noch nicht gesagt?« wandte er sich an Dr. Winston. »Wir versuchen noch, uns einen Überblick über das Ganze zu verschaffen«, gab Dr. Winston entschuldigend zu. »In Atlanta bemüht man sich, Sinn in die Sache zu bringen. Wir wissen nur, daß sie überall diese Musik auffangen. Im gesam- ten Netzwerk.« Gobi starrte ihn an. »Sie machen wohl Witze.« »Wir halten es für eine Art überfließenden Datenstrom aus Virtuopolis«, fügte Dr. Winston hinzu. »Sie überprüfen das anhand der Musikprogrammabteilung von Satori City, oder jedenfalls dessen, was davon übrig ist. Doch bislang ist es ein Rätsel. Einfach verblüffend.« »Ubi tunc vox inauditae melodiae«, murmelte Professor Mül- ler, und ein Ausdruck des Entzückens huschte über sein engelsgleiches Gesicht. »Was haben Sie da gesagt?« wollte Gobi wissen, der ihn noch immer anstarrte. »Das ist eine Zeile aus einem Brief von Volmar, einem Mönch, der Hildegard von Bingen als Privatsekretär diente. An ihrem Sterbebett fragte Volmar: >Wo aber ist die Stimme zu dieser noch nie gehörten Melodie?<« »Da wären wir.« Dr. Winston hielt den Plastikeingang auf, so daß Gobi das Zelt betreten konnte. »Ihr Junge ist da drin. Nach Ihnen.« Gobis Herz setzte einen Schlag lang aus, als er auf das Gesicht seines schlafenden Sohns hinuntersah. Trevor wirkte wie ein Kind, das träumte. Seine Augenlider zuckten, und der Atem entwich seinem halb geöffneten Mund wie ein Bergbach, der über Steine springt. Der Neuronenkopfhörer war mit einem Monitor neben dem Bett verbunden, und die Troden summten hell. Auf dem Bildschirm wurden Mandalas geboren und dehnten sich aus, um dann in konzentrischen Farborgien zu explodieren. Trevors Gesicht war totenblaß. Dr. Winston schnallte seine Brille um und fühlte Trevor den Puls. Er schüttelte den Kopf, nahm das Neuroskop von seinem Hals und reichte es Gobi zusammen mit der Brille. »Hier, sehen Sie sich das an.« Gobi legte die Brille an. Trevor, selber ganz weiß, strahlte unglaubliche Farbtöne aus. Tiefe Rotabstufungen, Orange- schattierungen, Blau, Gelb, Grün und Violett entströmten seinem Körper. Der gesamte Bereich um sein Bett herum bildete ein irisierendes Lichtermeer. Gobi nahm die Brille ab und sah mit verdutzter Miene zum Doktor hoch. »Was ist das? Was geht hier vor?« Dr. Winston stand mit verschränkten Armen hinter ihm. Gedankenversunken schaukelte er auf den Fußballen. »Wirklich erstaunlich«, sagte er, während er die Brille ent- gegennahm und noch einmal das Neuroskop überprüfte. Er wandte sich Gobi zu. »Ihr Sohn befindet sich in einem Zustand, den wir als gesteigertes trophotropes Wachen be- zeichnen. Das ist anhand der parasympathischen Veränderun- gen offensichtlich ­ die Verminderung der Herzfrequenz, der Blutdruck, die Schweißabsonderung, die willkürliche Muskel- entspannung sowie der synchronisierte Kortexrhythmus.« »Doktor, bitte!« flehte Gobi ihn an. »Tut mir leid.« Dr. Winston schüttelte den Kopf. »Was ich damit vermutlich sagen will, Mr. Gobi, ist, daß Ihr Sohn sich neurologisch gesprochen in einem gesteigerten Bewußtseins- zustand befindet, wie man ihn von tiefer Zazen-Meditation und Yoga-Zuständen her kennt. Alle seine Gehirnwellen entsprechen der bestehenden Lehre vom sogenannten >er- wachten Geist<. Er zeigt alle traditionellen Anzeichen dessen, was die medizinisch-spirituelle Literatur als >Erleuchtung< bezeichnet. Natürlich aus rein klinischer Sicht.« »Was... was soll das heißen?« stammelte Gobi. »Das soll heißen, Mr. Gobi, daß wir uns wahrscheinlich, wenn Ihr Sohn jetzt bei Bewußtsein und in der Lage wäre, in der für uns üblichen Realitätsebene mit uns Verbindung aufzunehmen, in der Gegenwart eines vollständig erleuchteten Wesens befänden. Aber da er nicht unmittelbar mit uns kom- munizieren kann ­ oder vielmehr, da wir mit unseren norma- len Organen der Wahrnehmung nicht mit ihm in Verbindung treten können ­, werden wir wohl nie seinen wahren Bewußt- seinszustand kennenlernen.« Dr. Winston biß sich auf die Lippe und seufzte. »Sehen Sie, Mr. Gobi, wir müßten ebenfalls erleuchtet sein, um auch nur andeutungsweise verstehen zu können, was das bedeutet. Aber das sind wir nicht. Ich fürchte, wir sind sogar ziemlich weit davon entfernt. Wären wir erleuchtet, dann würde viel- leicht nichts von alledem, was sich gerade ereignet, geschehen. Es ist ein Paradoxon.« Sanft legte er seine Hand auf Gobis Schulter. »Kommen Sie, wir sollten jetzt gehen. Lassen Sie ihn ruhen. Wenn sich sein Zustand ändern sollte, geben wir Ihnen Bescheid.« Pausbacken und schwarze Seele »Wieso begleitest du uns nicht nach Hause, Frank?« Hans Ulbricht stupste Gobi leicht an. Sie hatten ihn in einem Warte- saal der Klinik gefunden, wo er sich auf einer der Liegen ausgestreckt hatte. »Frank!« »Oh, hallo.« Gobi blickte zu Hans und Melissa auf und lä- chelte schwach. Die letzten paar Stunden hatte er sich in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen befunden und vor seinem geistigen Auge all diese bunten Farben gesehen, die Trevors Energiezentrum entströmten. Sein eigenes Bewußtsein fühlte sich an, als schwemmte die Strömung eines mächtigen Flusses es davon. »Du hast recht. Ich sollte mir etwas Ruhe gönnen. Wäre echt nett, wenn ihr mich einfach bei mir absetzt.« »Bist du sicher, daß du allein sein willst?« Melissa ließ nicht locker. »Mir geht's gut. Macht euch um mich keine Sorgen.« Sie fuhren ihn nach Hause in die Oxford Street. Ehe er aus dem Wagen stieg, beugte Melissa sich zu ihm herüber und fragte: »Ist das wahr, Frank? Was sie sagen?« »Was soll wahr sein, Melissa?« erwiderte er, noch im Halb- schlaf. »Über die Musik«, sagte sie, »in der VR-Abteilung.« Arme Melissa. Er sah sie mitleidig an. Er konnte es nicht über sich bringen, über ihre aufreizende Neugier verärgert zu sein, auch wenn seine Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren. Er war einfach zu erschöpft. Nein, sie drückte nur ihr übliches drängendes Verlangen aus, hinter eine Sache zu kommen. Das war schon in Ordnung. Auch das gehörte zum Menschsein. Pausbacken und schwarze Seele nannten die Chinesen das. Manche waren damit geboren. Es lag in ihrer Natur. »Was ist mit der Musik, Melissa?« fragte er ruhig. Ihr Gesicht wirkte verkniffener denn je. Sie sagte: »Es heißt, daß sie wechselt. Von gregorianischen Gesängen zu etwas anderem. Zu etwas Bösem. Du hast sie doch gehört, Frank, oder? Wie ist sie? Frank?« Er stieg aus dem Wagen, schlug die Tür zu und schleppte sich die Stufen zur Vordertür hoch. Er schaute nicht zurück. Juan fing ihn an der Tür ab. »Oh, Mr. Frank!« zeterte er und umarmte Gobi. »Es tut mir so leid!« »Schon gut, Juan«, sagte Gobi zu ihm. »Ich nicht gewußt, was ich tun soll!« rief Juan tränenüber- strömt. »Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte Gobi und spürte, wie schwer sein eigener Kummer auf ihm lastete. Er kam sich wie jener Mann auf einer dieser alten Lithografien von Chinas Küste vor, die einen Verbrecher zeigen, der durch die Straßen geführt wird und dessen Kopf aus einem Holzkragen ragt. Man hatte sein Verbrechen aufs Brett geschrieben, damit alle Welt es lesen konnte: Nicht anwesend, als Sohn in virtueller Welt havarierte. »Er einfach nicht gehen wollte!« Gobi blinzelte Juan trübe an. »Wer wollte nicht gehen? Wo- von reden Sie überhaupt?« »Der andere Mister. Ich ihm zu sagen versuchen, daß Sie nicht zu Hause sind! Sie sind in Klinik. Ich ihm sagen, daß Sie ihn anrufen, aber er nicht hören! Er noch da!« »Juan, wer ist noch da?« »Er!« Juan warf einen angsterfüllten Blick durch die Diele in die Richtung von Trevors Zimmer. Gobi ging forsch die Diele entlang. Als er an seinem Büro vorbeikam, fiel ihm auf, daß der Würfel noch angeschaltet war und leuchtete. Hinten in der Küche war der Zweitwürfel ebenfalls an. Gobi öffnete die Tür zu Trevors Zimmer. Bis auf Trevors Würfel, der wie die anderen Geräte ange- schaltet war, lag der Raum im Dunkeln. Der Mann, der vor dem Bildschirm stand, wandte sich langsam um und flackerte. Er nickte kaum wahrnehmbar, als Gobi eintrat. »Dr. Gobi«, sagte er mit einer Verbeugung. »Mein Name ist Akira Wada. Bitte verzeihen Sie mein Eindringen. Ihr Diener sagte, ich dürfe hier warten.« Er bewegte sich so schnell, wie die Graphik es erlaubte. Er stand vor Trevors V-Board, das jetzt am Fußende des Bettes aufgestellt war. Der Mann nickte bedächtig. »Das ist also die Anlage Ihres Sohnes.« Er blickte zu Gobi. »Sehr hohe Qualität.« »Action Wada?« Gobi war zu verblüfft, um gegen die An- wesenheit des Holoiden in seinem Haus zu protestieren. Er hatte sich offenbar aufs Anwesen getelebeamt. »Sie kennen mich?« fragte der japanische Holoid mit mat- tem Lächeln. »Man nennt mich >Action<, weil ich die Dinge gewöhnlich wieder ins Lot bringe. Aber nicht immer, fürchte ich.« Er lachte heiter. Gobi nickte. Er kannte Wada durch seine Hintergrundre- cherchen über den Satori-Konzern. Und er hatte im Offshore Networking das Interview mit Wada aufgerufen. »Sie sind Vizepräsident für Unternehmensentscheidungen bei Satori Corporation, nicht wahr?« Action Wada blinzelte ihm zu. »Eigentlich bin ich zur Zeit geschäftsführender Direktor der Satori Corporation, Mr. Gobi.« »Was ist aus Ihrem Vorsitzenden Kazuo Harada gewor- den?« fragte Gobi hart. »Nach allem, was passiert ist, mußte er wohl seinen Hut nehmen. Damit die Firma nicht >das Gesicht verliert<. Funktioniert das nicht so?« »Nein, er hat nicht seinen Hut genommen.« Action Wadas Gestalt bekam Risse an den Gelenken und stabilisierte sich wieder. »Er ist vielmehr verschwunden.« Gobi brauchte eine Weile, um das zu verdauen. »Nun, er wird die volle Verantwortung für den Zusammenbruch von Virtuopolis übernehmen müssen. Ich verspreche Ihnen, daß ihn das noch teuer zu stehen kommt! Und ich spreche nicht bloß von Schadensersatzforderungen!« Action Wada wartete, bis Gobis Wutausbruch sich gelegt hatte. Dann fuhr er fort. »Als Sie sich in San Francisco mit unserem Repräsentanten Mr. Kimura getroffen haben, waren wir uns noch nicht sicher, ob Sie sich damit einverstanden erklären würden, für uns tätig zu werden. Bedauerlicherweise hat Mr. Kimura Sie nicht mit allen erforderlichen Tatsachen vertraut gemacht.« Gobi spürte, wie ein Frösteln seinen Körper durchlief. »Was meinen Sie damit? Er hat mir doch das Demo für Ihre soge- nannte >postvirtuelle< Umgebung gezeigt. Sie hätten mich zum Narren halten können. Aber falls das Ganze nicht ein raffinier- ter Scherz ist, war es recht überzeugend. Was hat Kimura zurückgehalten?« »Ich muß Ihnen den wahren Grund nennen, aus dem wir Sie in unsere Dienste nehmen wollen, Dr. Gobi.« Action Wada trat einen Schritt näher an ihn heran. Gobi fiel ein leichter Schönheitsfehler der Fraktale an Wa- das Kinn auf, so etwas wie Stoppeln. Seine Augen wirkten ein wenig zu kreisförmig. Trug er Turbo-Kontaktlinsen? Gobis sechster Sinn sagte ihm, daß in den Holoiden zusätzliche Wahrnehmungsorgane für das ferngesteuerte Sammeln von Daten eingebaut waren. Wertete er das übrige Haus aus, während sie hier miteinander schwatzten? »Unser Vorsitzender verschwand in Neo-Tokio kurz vor dem Zusammenbruch von Satori City«, vertraute Action Wada ihm an. »Wir haben Grund zur Annahme, daß diese beiden Vorfälle zusammenhängen. Tatsache ist, daß wir Ihre Hilfe benötigen, um ihn zu finden. Wir brauchen Ihre, äh, Erfahrung in solchen Dingen.« »Meine Erfahrung?« »Ihre Spezialität ist doch die intuitive Ermittlung, oder nicht? Sie sind als ­ wie lautet doch gleich der Ausdruck? ­ >Bewußtseinsdetektiv< bekannt. Sie gehen Phänomen nach, bei denen veränderte Bewußtseinszustände eine Rolle spielen. Nun, Bewußtsein ist unser Geschäft. Die Satori Corporation hat ihren Ruf darauf aufgebaut.« So war das also. Gobi mußte lachen. Sie sahen sich nach ei- nem Privatdetektiv um. Einem Online-Philip-Marlowe. Sie brauchten einen Schnüffler, der in einer Stadt, die die Hälfte der Zeit über vermißt wurde, eine vermißte Person für sie fand. Eigentlich war es fast eine Enttäuschung. Aber er war froh, daß er endlich wußte, was hinter der ganzen Sache steckte. »Die Art von Arbeit mache ich nicht mehr«, erwiderte Gobi vorsichtig. »Heute befasse ich mich nur noch mit akademi- schen Fragestellungen. F & R. Forschung und Rückfluß. Tut mir leid, aber ich bin wirklich nicht der richtige Mann für Sie, Mr. Wada. Sie brauchen jemand anderen. Haben Sie es schon einmal bei Kroll & Kawasaki Associates versucht? Die haben überall ihre Leute sitzen. Und soweit ich gehört habe, sind sie sehr gut.« »Nein, das glaube ich nicht, Dr. Gobi«, beharrte Action Wa- da. »Im Gegensatz zu Ihrer erklärten Meinung halte ich Sie tatsächlich für unseren Mann. Andernfalls wäre ich nicht hier. Das kann ich Ihnen versichern.« »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich meinen Beruf als Pri- vatermittler schon vor Jahren aufgegeben habe«, wiederholte Gobi. »Ab und zu mache ich Unternehmensberatung. Etwas F & R, ein wenig Produktanalyse, Planung von Szenarien. Das deckt es so ziemlich ab.« Action Wada grinste. »Ja, ich habe von Ihren kürzlichen Forschungserfolgen bei Shiseido-Dior gehört. Sie haben eine Untersuchung über ihre neue Produktpalette >karmischer Kosmetika< angefertigt. Korrigieren Sie mich, wenn ich irre: Menschen mit Hautproblemen haftet ein Stigma aus einem vergan- genen Leben an. Sie waren grausam zu Tieren, haben sie miß- braucht oder sonstwie gequält, und dieses negative Verhalten hat bei ihnen im jetzigen Leben einen Makel hinterlassen. Aber wenn sie wollen, können sie diesen karmischen ph-Faktor durch Verwendung einer revolutionären Hautcreme von Shiseido wieder wettmachen.« Wada kicherte. »Das ist wun- derbar! Einfach genial!« Gobi sah ihn eisig an. »Es prägt einen wirklich, wenn man grausam zu Tieren ist. Es sickert karmisch durch die Gene der Menschen ein. Und es beeinträchtigt die Empfindlichkeit der Haut. Dieser Umstand wird zunehmend anerkannt.« Er hielt inne. »Ich dachte, mein Bericht an Shiseido sollte vertraulich behandelt werden.« »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Dr. Gobi«, protestier- te Action Wada. »Ich habe wirklich den allergrößten Respekt vor Ihrer ­ äh, kühnen intuitiven Vorgehensweise. Das ­ das ist enorm tiefgründig. Was soll ich sagen? Außerdem verkauft sich das Produkt ja tatsächlich sehr gut, nicht wahr? Wie heißt es doch gleich ­ >Karmic Cleansernat<-Geister?« Er rieb sich die Hände. »Gut, gut.« Er wandte sich Gobi zu. »Aber ich sehe schon, worauf das hinausliefe, wenn Sie sich auf die unzuverlässigen Informationen so primi- tiver Datensammler verlassen würden. Es ist ein langer Weg bis Mandalay, Dr. Gobi.« »Spucken Sie's aus, Wada.« »Dr. Gobi. Ich wollte Sie nicht kränken ­« »Ich sagte, spucken Sie's aus.« »Na schön. Ich habe gesehen, wo Sie arbeiten. Und mein Eindruck ist folgender: >Jetzt versagen könnte erfreulicher sein, als später Erfolg haben.< Ich glaube nicht, daß Sie wirk- lich erfolgreich sein wollen.« »Und das heißt?« »Ich verstehe, wieso Ihre Suche nach Ono schließlich ergeb- nislos geblieben wäre. Ihr ­ äh, Studio ­ ist zu weit von mäch- tigen Energiekanälen entfernt. Dr. Gobi, für Sie besteht nur dann Hoffnung, überhaupt jemanden zu finden, wenn Sie nach Neo-Tokio kommen. Persönlich. Um dort anzufangen. Seit dem Erdbeben wurden unglaubliche Energien entfesselt. Sie können sie zu Ihrem Vorteil nutzen.« »Ich habe nicht die Absicht, nach Neo-Tokio zu reisen. Oder sonstwohin, was das angeht.« »Vielleicht überlegen Sie es sich noch anders. Ich habe mir die Freiheit genommen, für morgen einen Flug für Sie zu buchen. Ein Ticket erster Klasse liegt bei Satori Airlines für Sie bereit, Abflug mittags vom L. A. Metroplex nach New Narita. Einer unserer Mitarbeiter holt Sie vom Flughafen ab. Er steht zu Ihrer persönlichen Verfügung.« »Etwas sagt mir, daß wir nicht dieselbe Sprache sprechen. Ich habe nicht vor, nach Neo-Tokio zu fliegen. Ich bin nicht interessiert daran, nach Ihrem Vorsitzenden Kazuo Harada zu suchen. Mein Sohn liegt im Koma. Ich könnte...« Gobis Ge- sicht zuckte. »Ich könnte ihn jeden Augenblick verlieren. Ich bleibe hier bei ihm. Das ist mein letztes Wort.« »Aus genau dem Grund dürfen Sie keine Zeit verlieren, Dr. Gobi. Das Leben Ihres Sohnes hängt davon ab.« Gobi ging einen Schritt auf den Holoiden zu. Er starrte in die Augenhöhlen voll schnurloser teleoptischer Energie. »Was haben Sie gesagt? Das Leben meines Sohns hängt davon ab? Wovon hängt das Leben meines Sohns ab?« »Davon, daß Sie Kazuo Harada finden. Er besitzt den feh- lenden Code für das neue post-virtuelle Virtuopolis, der Satori City wieder startet. Er kann den Zusammenbruch überbrü- cken. Das stellt Ihren Sohn und all die Tausende anderer wieder her, die nur noch an einem dünnen Faden ihres Be- wußtseins hängen. Wenn Sie nicht mit uns zusammenarbei- ten... Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was dann passiert. Es liegt bei Ihnen.« »Wo ist der Haken?« »Es gibt keinen Haken.« Action Wadas Augen befanden sich auf einer Höhe mit den seinen. »Wie lautet Ihre Ant- wort?« Gobi hatte noch nie zuvor einen Holoiden geschlagen. Wa- das Abbild flackerte. Die hochaufgelösten Pixel wurden grob- körnig, und der erstaunte Ausdruck auf Wadas Gesicht war das Zugeständnis wert, doch nach Neo-Tokio zu fliegen. Gobi verfehlte ihn nur um etwa sechstausend Kilometer. Aber zum Teufel, es fühlte sich trotzdem gut an. Schlechtes Chi Gobi schaute finster drein. Melissa hatte also von Anfang an recht gehabt. Ihr »Pausbacken und schwarze Seele«-Instinkt hatte das Böse gewittert, das sich schlangengleich seinen Weg durch die Gänge der VR-Einheit für Heranwachsende in Alta Bates bahnte. Was war nur aus diesen herrlichen inneren Harmonien der mittelalterlichen Mystikerin Hildegard geworden? >De Vergini- bus.< O wundervolle Wesen, die mit verzückten Mienen Gott schau- en, erbaut von der Dämmerung, gesegnete Jungfrauen von hoher Geburt... Er verzog das Gesicht. Was war das für ein Lärm? Ließ sich der nicht abschalten? Ein schauriger Refrain von Schweinen ertönte, die so laut brünstig grunzten, schnaubten und zeter- ten, daß es wie das Ende der Menschheit klang. Er lauschte intensiver. Es waren tatsächlich Schweine! Er bildete es sich nicht ein. Es geschah wirklich! Gobi ging an den weißen Zelteinheiten vorbei, in denen die Kinder wie in Kokons aufbewahrt wurden. Ärzte und Kran- kenschwestern eilten mit leeren Mienen an ihm vorbei. Keiner blieb stehen, um ihn zu fragen, was er in dieser Abteilung zu suchen hatte. Sie waren von einer ganz eigenen Dunkelheit erfüllt ­ einer, die ihnen selbst möglicherweise nicht einmal auffiel. Ihm war das recht. Er wollte Trevor noch ein letztes Mal privat sehen, um sich von ihm zu verabschieden, ehe er am Morgen nach Neo-Tokio aufbrach. Gobi schlüpfte in das Zelt seines Sohns. Er beugte sich vor, um ihm einen Kuß zu geben, und hielt den Atem an. Er sah Trevor wie aus einer erhöht gelegenen Vogelperspektive weit unten auf dem Feldbett liegen, völlig verdrahtet, die Schläfen seines rasierten Schädels dort, wo man die Elektroden implan- tiert hatte, rauh und wund. Seine hellblauen Augen standen offen, aber sie starrten blind gegen die Decke. Das da mußten seine Gehirnwellen sein. Gobi schauderte, als er einen Blick auf den Monitor neben Trevors Bett warf. Ein farbenfroh wirbelndes Lavameer brodelte auf dem Bildschirm wie die Halluzination von etwas, was die Katze gerade her- eingeschleppt hatte. Es war eine Art kollektive Collage. Sah er so aus? Der Große Traum? Die Neuronale Notfall- Eingreiftruppe in Atlanta überwachte und versorgte überall im Land Tausende von Kindern. Und er sah wie ein schlechter Acid-Trip aus? Gab's hier ein unaufgelöstes schlechtes Karma aus dem vorigen Jahrhundert? »Trevor«, flüsterte Gobi. Er legte seinem Sohn die Hand auf die Stirn. Sie fühlte sich heiß und feucht an, als tobte ein tropi- scher Sturm unter der Haut. Der blonde Haarschopf war schweißgetränkt. »Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst. Hier ist Dad. Du sollst wissen, daß ich dich liebe. Ich gehe auf eine kleine Reise, ich bin aber bald zurück. Ich...« Er konnte nicht weitersprechen. Tränen traten ihm in die Augen, und es waren auch Tränen der Wut. Was hatten sie getan! WAS HATTEN DIE BASTARDE GETAN? Das war Völ- kermord der Seele. Sie hatten das Bewußtsein Tausender unschuldi- ger Menschen kurzgeschlossen ­ Männer, Frauen und Kinder. Nicht einmal die Sicherungen des Satori-VR-Systems hatten sie retten können. Wer auch immer dafür verantwortlich war, würde für sein Verbrechen teuer bezahlen müssen. Gobis Augen funkelten vor Wut. Er holte tief Luft und beugte sich dann vor, um Trevor ein letztes Mal zum Abschied zu küssen. »Jetzt mach's gut. Ehe du dich versiehst, bin ich wieder da. Ich versprech's. Denk dran, wo du auch bist, wir werden immer Zusammensein. Halt durch, mein Sohn! Ich zähle auf dich.« Draußen auf dem Gang lief Gobi Professor Heinrich Müller über den Weg, dem deutschen Musikologen. Der zwergenhaf- te Mann hantierte mit seinen Aufzeichnungsgeräten. Er sah nicht sehr glücklich aus. »Ach, Sie sind es, Herr Gobi«, seufzte Professor Müller. »Diese Tiere, das sind doch Schweine. Richtig?« »Was geht hier vor, Professor?« Die Schweine stürmten jetzt die Ätherwellen der VR- Abteilung, schnüffelten, schnaubten und wühlten. Ein Cre- scendo elektrischer Gitarren hallte wider, während eine Orgel einen Kontrapunkt zum grunzenden Graben setzte. Eine rauhe Stimme begann zu singen: Big man, pig man, ha ha charade you are... You got to stem the evil tide, and keep it all on the inside. Mary you're nearly a treat, Mary you're nearly a treat, but you're really a cry...« Professor Müller fluchte böse. »Das ist eine Komposition von den Rosa Fliegen... den Pink Flies, Mr. Gobi.« Er fuhr schlapp mit der Hand durch die Luft. »Fragen Sie besser nicht.« »Sie heißen Pink Floyd, Professor«, berichtigte ihn eine Frau- enstimme aus dem Hintergrund. »Das ist eine englische Rock- gruppe aus dem vorigen Jahrhundert. Ich glaube, es handelt sich um ein Stück aus einem Album, das >Animals< heißt. Ich habe es gerade aus der Bibliothek der Library of Congress abgerufen, um es in seiner Gesamtheit zu studieren.« Professor Müller blinzelte sie kurzsichtig an. »Junge Dame, Sie kennen sich mit Ihren Schweinen offenbar aus. Mehr kann ich dazu nicht sagen!« Gobi erkannte die Stimme sofort, noch ehe er sich umdreh- te. »Tara!« rief er. »Hallo, Frank«, sagte Tara, während sie seinen Arm berühr- te und ihre grünen Augen vor Wiedersehensfreude aufblitz- ten. »Wie geht's Ihnen?« Gobi fühlte sich sofort getröstet. Der Schmerz in seinem Herz wich ein wenig, langsam, aber sicher. Es gab also doch noch Licht in dieser Welt. Und es ging von einer Blondine in Tibet-Jacke, weiten afghanischen Hosen und dem hinreißendsten Lächeln diesseits der San-Andreas- Verwerfung aus. »Was machen Sie denn hier?« fragte Gobi verblüfft. In diesem Augenblick bog Dorje Rinpoche, der junge tibeti- sche Lama, um die Ecke. Anzug und Schlips, die er auf dem Campus getragen hatte, waren durch ein kastanienbraunes Gewand ersetzt worden, das an der Schulter festgesteckt war. Er las in einigen Notizen. »Ah, Gobi, nicht wahr?« erkannte Dorje ihn gleich, als er aufsah. Er wandte sich an Tara: »Was hältst du hiervon? Könnte das nicht eine Zeile aus einem Tier-Tantra sein? >Big man, pig man<... ?« Er kniff die Augen zusammen, um durch seine starke Brille die Schrift besser erkennen zu können. »Nein, Dorje, wie ich gerade dem Professor hier gesagt ha- be, ist das ein Songtext von... einen Moment.« Tara holte einen Ausdruck hervor. »Aus dem Jahr 1977«, fuhr sie fort. »Das war eine Zeit bedeutender Veränderungen in der Weltbewußt- seins-Bewegung.« Dorje dachte einen Augenblick nach. »War das nicht wäh- rend der Uranus-Neptun-Konjunktion? Eine Zwischenphase vor der Akzeleration der neunziger Jahre?« »Genau. Übergangszeit.« »Hmm, das ist ja interessant, Tara!« Der Tibeter grinste. »Mir scheint, das Bild vervollständigt sich.« Taras grünäugiger Blick wanderte zu Gobi zurück. »Ihr Sohn liegt hier, nicht wahr?« fragte sie sanft. Gobi spürte, wie wieder heftiger Schmerz sein Herz erfaßte. »Ja. Er gehört zu den Opfern der Welle.« Dorje sah ihn mit plötzlicher Aufmerksamkeit an. »Ihr Jun- ge liegt hier? In unserer Abteilung?« »Ja. Aber was machen Sie beide denn hier? Würden Sie mir das wohl sagen?« Dorje wechselte einen Blick mit Tara. »Vielleicht sollten wir mit ihm reden«, sagte er ruhig. Tara ergriff seinen Arm. »Wieso begleiten Sie uns nicht, Frank? Ich habe ganz in der Nähe ein kleines Apartment. Ich mache Ihnen etwas zurecht, dann fühlen Sie sich gleich bes- ser.« Mit zwei Fingern am Handgelenk fühlte sie seinen Puls. »Sie können etwas Chi brauchen, nach allem, was Sie durch- gemacht haben. Wir bauen Sie wieder auf, und dann reden wir. In Ordnung?« Sie fuhr sie in ihrem alten fünftürigen Toyota Garuda die heruntergekommene Telegraph Avenue entlang. »Manchmal benutze ich diese Strecke als Abkürzung«, entschuldigte sie sich bei Gobi. »Ich wohne in den Hügeln von Berkeley. In ein paar Minuten sind wir da.« Sie kamen an einer Reihe mit Brettern vernagelter Läden vorbei und verlangsamten ihre Fahrt an der Ecke des People's Park, wo zerlumpte Obdachlose ihr Lager aufgeschlagen hatten und in beiden Richtungen die Telegraph überquerten. An der Ampel trat ein hagerer Jamaikaner mit Dreadlocks an den Wagen heran: »Hasch, Gras, Acid, Meskalin, ein Six-Pack Jolt?« Tara schüttelte den Kopf und kurbelte das Fenster hoch. »Nein danke«, sagte sie, dem Dealer zugewandt. Dann nickte sie an ihm vorbei zur anderen Straßenseite. »Sehen Sie doch, Hunde«, sagte sie zu Gobi. »Hunde?« wunderte sich Gobi. Da sah er sie, eine Meute Streuner, von denen einige noch ihr Blindenhund-Geschirr trugen. Sie schnüffelten in einem Abfallhaufen herum. Einer von ihnen sprang mit etwas heraus, das wie die Reste einer Tortilla aussah; die Alufolie in seinem Maul blitzte auf. Am Randstein saß ein deutscher Schäferhund auf seinen Hinter- läufen und kratzte sich. »Offenbar sind sie nach dem Zusammenbruch von Satori City von ihren Besitzern getrennt worden«, sagte Tara. »Traurig, nicht wahr? Ich hoffe, die Leute von der Tierkon- trolle fangen sie bald ein.« »Trodenköpfe«, sagte Gobi und richtete sich auf. »Die haben sich ihre Gehirnzellen jetzt wohl endgültig weggeätzt«, stimmte Tara zu. »Der Zusammenbruch muß für sie schrecklich gewesen sein.« »Nein, Tara, da drüben.« Gobi deutete zur Ecke Channing Street. »Fahren Sie etwas langsamer.« »Was ist?« »Sehen Sie diese Gruppe von Leuten?« »Was ist mit denen?« »Das sind Trodenköpfe. Aber sie haben ihre Hunde nicht dabei.« Dorje richtete sich auf dem Rücksitz auf und schaute sich das genauer an. »Da ist was dran, Tara. Sie scheinen sich problemlos bewegen zu können. Findest du das nicht auch seltsam?« »Denkst du jetzt, was ich denke, daß du es denkst?« fragte Tara ihn. »Keine Ahnung. Vielleicht«, erwiderte Dorje. »Gut mög- lich.« Der Wagen kam zum Stehen, während der Trupp Gehirn- spender auf dem Gehweg an ihnen vorbeischlenderte. Einer von ihnen drehte sich um, als er den Toyota bemerkte, und näherte sich dem Fahrzeug. Er hinkte leicht, sein Overall war verschmiert, und die stacheligen Troden auf seinem Kopf waren nach Rasta-Art mit den Haaren verflochten. Er brachte sein Gesicht an die Windschutzscheibe und spähte ins Innere, wobei seine Hände in einem plötzlichen Schmerzreflex die Wischer umklammerten. Gobi sah die knirschenden Zähne und den Speichel, und für einen kurzen Moment glaubte er auch die Augen erkennen zu können, die wie ausgeweidete Membranen ihre eigene Dun- kelheit ausleuchteten. Plötzlich stieß der Trodenkopf ein Heulen aus, das seine Gefährten alarmierte. Sie blieben stehen, um dann ebenfalls auf den Toyota zuzuschlurfen. »Wir fahren wohl besser weiter«, sagte Tara und umklam- merte das Lenkrad. »Runter da!« schrie sie dem Störenfried zu, der auf die Motorhaube geklettert war und die Windschutz- scheibe zu umarmen versuchte. »Muuuuuhh«, brüllte er. »Herrje, sie kommen hierher!« warnte Gobi, als sich fünf oder sechs der Trodenleute mit merkwürdig staksenden Bewegungen ihrem noch immer stehenden Wagen näherten. »Jetzt reicht's!« sagte Tara und trat aufs Gas. Sie trugen ih- ren unfreiwilligen Passagier einen Block weit die Telegraph hinunter, ehe Tara scharf nach rechts einschlug und der Wa- gen quietschend zum Stillstand kam. Der Trodenkopf glitt von der Motorhaube und blieb am Boden liegen. Tara gab die ganze Strecke zur Durant über Vollgas. »Puh!« rief sie. »Das war knapp.« »Ich glaub's nicht«, sagte Gobi kopfschüttelnd. »Ich bin si- cher, daß ich den Kerl schon mal irgendwo gesehen habe.« »Nun, jedenfalls hat er sich von Ihnen angezogen gefühlt«, scherzte Tara. »Ich glaube, er wollte Sie mit nach Hause neh- men!« »Jetzt weiß ich, wo ich ihn schon mal gesehen habe!« fiel es Gobi ein. »Ich dachte, er wäre tot!« »Was soll das nun wieder heißen, Frank?« fragte Tara und warf ihm einen besorgten Blick zu. »An dem Nachmittag, als es geschah. Als alles zusammen- brach. Ich beeilte mich, von der BART-Station aus nach Hause zu kommen. Es war furchtbar. Die Leute fielen überall um wie die Fliegen.« Er verzog das Gesicht. »Dann lief mir dieser Kerl über den Weg.« »Welcher Kerl?« »Dieser Trodenkopf. Sein Hund zog ihn die Straße entlang. Die Leine war um sein Handgelenk gewickelt. Ich tat mein Bestes, um ihm zu helfen. Ich konnte ihn von der Leine befrei- en. Aber dann...« Gobi schüttelte den Kopf. »Ich hätte schwö- ren können, daß er tot war!« Tara legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht war er das ja auch«, sagte Dorje ernst. »Was? Was haben Sie da gesagt?« Gobi starrte Dorje an. »Haben Sie jemals von den >Ro-langs< gehört, Gobi?« »Wovon sprechen Sie?« Er fixierte Dorje finster. »Das ist so etwas wie ein Zombie. Es gibt verschiedene Ka- tegorien.« »Zombie? Was soll das heißen, Zombie? Wie die Zombies von Haiti?« »Nein, Gobi. Wie die von Tibet.« Tara parkte ihren Toyota Garuda vor einer schuhkartongroßen Einfahrt mit einem Schild, auf dem stand: »Denken Sie nicht einmal daran, hier zu parken.« Tara wohnte in einer schmalen Straße auf einem baumbe- wachsenen Hügel, der den Campus von Berkeley überblickte. Ihr Apartment befand sich am Ende einer schier unermeßli- chen Anzahl von Treppen. »Treten Sie ein, aber ziehen Sie erst Ihre Schuhe aus«, sagte sie zu ihm. Dorje band bereits seine Schnürsenkel auf. Gobi betrat eine winzige Atelierwohnung mit Hartholzbo- den. Neben einer Schiebetür aus Glas, die sich zu einem klei- nen Moosgarten hin öffnete, stand ein niedriger japanischer Tisch. »Ich fürchte, das ist es«, sagte sie und hielt die Führung kurz. »Da drüben auf dem Boden liegen ein paar Matten. Wieso macht ihr es euch nicht bequem?« Sie berührte seine Schulter. »Inzwischen bereite ich einen kleinen Kräutertrank für Sie zu. Danach fühlen Sie sich wie neugeboren.« »Machen Sie sich nur keine Umstände«, sagte er. »Keine Sorge, bestimmt nicht.« Wieder lächelte sie und ver- schwand hinter einem Vorhang aus Perlschnüren in eine winzige Küche. Sie war barfuß. Das bereitete Gobi ein seltsa- mes Gefühl, als hätte er sie nackt gesehen. Aber es genügte ihm, ihr einfach dabei zuzusehen, wie sie wie eine Tänzerin über den polierten Boden schwebte. Dorje legte ein paar Zabuton-Kissen auf den Boden. »Setzen Sie sich.« Er klopfte auf eines davon. Gobi fiel ein kleiner Altar in der Ecke auf. Auf einem Lotus- thron saß die goldene Darstellung einer tibetischen Göttin. Sie hielt eine Lotusblume in der linken Hand. Die offene Rechte ruhte auf dem Knie ihres rechten Beins, das ausgestreckt war, als wollte sie sich jeden Moment von ihrem Podest erheben. Gobi erkannte die Geste als Mudra der universellen Wunscherfüllung. Das Lächeln auf dem Gesicht der Göttin schien einem unsichtbaren Bittsteller zu gelten. »Tara«, sagte Gobi erklärend. »Ja?« rief sie von der Küche aus. »Nein, das ist eine Tara-Darstellung. Sie ist die Göttin der Barmherzigkeit, nicht wahr?« Dorje lachte. »Vergessen Sie nicht, daß sie außerdem die Bezwingerin des Todes und die Verlängerin des Lebens ist.« Träge setzte sich Gobi auf eine Matte. »Also«, sagte er, »er- zählen Sie mir von Ihren Wolangs.« »Ro-langs«, berichtigte ihn Dorje. »Man muß seine Ro-langs kennen, wenn man sie besiegen will, Gobi.« Gobi sah ihn argwöhnisch an. »Was für eine Art Lama sind Sie überhaupt? Die Schule der roten Hüte, der schwarzen Hüte oder was? Woher wissen Sie soviel über Zombies?« »Ich bin ein Gelbmützen-Lama.« Dorje grinste ihn breit an. »Yellow Cab, Sie verstehen? Ich fahre Taxi.« »Das meint er völlig ernst«, scherzte Tara und brachte ein Tablett herein, auf dem eine Kanne mit Chi-kung-Tonikum stand, das sie für Gobi zubereitet hatte. »Dorje ist vor allem deshalb fürs Taxifahren geeignet, weil er keinen gültigen Führerschein hat ­ der ist in einem früheren Leben abgelaufen ­, und obendrein ist er ein furchtbarer Fahrer«, zog sie ihren rundlichen Freund auf. »Wie viele Yaks hast du auf dem Freundschafts-Highway umgemäht, ehe du Tibet verlassen hast?« Dorje verdrehte die Augen. »Unfallopfer am einen Tag, Wiedergeburt als norwegischer Philologe am anderen. Das ist der endlose Kreislauf im Rad des Lebens.« Er lachte schallend, so daß sein Bauch unter dem Gewand fröhlich erbebte. »Oh, Dorje, du bist mir schon einer!« lachte Tara. Sie schenkte Gobi eine Schale voll widerlich aussehender brauner Flüssigkeit ein. »Hier, trinken Sie das«, wies sie ihn an. »Das wird Ihnen guttun.« »Puh, was ist das?« fragte Gobi und zog eine Grimasse, als er an dem Gebräu roch. »Man nennt es >Zähm den wilden Stier<, und es wird be- sonders empfohlen bei Erschöpfung, Ausgelaugtheit, Schlaflo- sigkeit und chronischer Depression. Es reguliert Ihr Chi, stabilisiert Ihre äußere Erscheinung und stärkt Lungen, Milz und Magen. Sonst noch Fragen?« »Nur eine. Muß ich das wirklich trinken?« stöhnte er. »Kann ich nicht einfach die Dämpfe einatmen?« »Ich fürchte, nein, Frank. Aber ich verspreche, daß Sie es nicht bedauern werden.« »Na dann, auf Ihr Wohl.« Gobi stürzte den bitteren Aufguß bis auf die Teeblätter auf dem Grund herunter. »Bäh!« »Also«, fuhr er fort, als plötzlich ein Lichtstrahl durch das Gewusel seines Hirnstamms zu sickern begann. »Auf ein Neues. Wo waren wir stehengeblieben?« Gobi schwirrte der Kopf. Er wurde auf angenehme Weise gestärkt. Es war eine Wohltat, keine Frage. Seine zwölf Chi- Kanäle fühlten sich an, als hätten sie sich seit Jahren nicht mehr in so gutem Zustand befunden. Er war wieder bereit, sich der Welt zu stellen. Er schaute kurz zu Tara hinüber, die in einer halben Lotus- stellung dasaß, das rechte Bein über dem linken Oberschenkel. Ihre Augen waren nahezu geschlossen. Die Öllampe, die auf dem Altar flackerte, warf Schatten, die ihre Züge noch dunkler erscheinen ließen als vor wenigen Augenblicken. Ihre Nasen- flügel blähten sich. Was für ein atemberaubendes Gesicht, dachte er. Sie schlug die grünen Augen auf, blickte ihn an, und er spürte, wie das Kribbeln in seinem Nacken stärker wurde. »Wollten Sie nicht wissen, ob ich Lama der Schwarzhüte oder der Rothüte bin?« sagte Dorje in die Stille hinein und lächelte Gobi an. »Eigentlich bin ich Programmierer. Das ist mein wahrer Beruf. Taxi fahre ich nur manchmal.« Gobi konzentrierte sich auf den stämmigen Tibeter, der mit überkreuzten Beinen vor ihm saß und behutsam an einer Perlenschnur hantierte. »Sie sind Programmierer?« fragte Gobi ungläubig. »Compu- terprogrammierer?« »Ich arbeite mit Software von Shambhala. Das ist eine kleine neugegründete Firma mit Sitz im Yarlung-Tal, in der Nähe von Lhasa.« »Dorje ist zu bescheiden«, unterbrach Tara. »Er hat eine neue Systemarchitektur namens Tantrix entwickelt. Vielleicht haben Sie davon gehört?« Gobi schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht. Was ist das?« »Ein tibetisches Bilderzeugungssystem für virtuelle Reali- tät«, erklärte Dorje gutgelaunt. »Ein was?« »Die Tibeter haben eine lange Tradition in Visualisierung, Frank«, erklärte Tara. »Naturgemäß fiel es ihnen sehr leicht, ihre tantrischen Methoden der Veranschaulichung auf VR- Anwendungen zu übertragen.« »Taras Vater organisierte um die Jahrhundertwende herum den Aufbau der tibetischen Software-Industrie. Ohne ihn würden wir noch immer Gebetsmühlen drehen.« Dorje nickte ernst. »Unsinn, Dorje«, widersprach Tara. »Mein Vater half euch nur bei den Grundlagen. Es entsprang alles eurer Initiative. Eurer eigenen schweren Arbeit. Deiner Arbeit und der aller anderen Lamas bei Shambhala Soft.« »Was für Anwendungen leistet Ihr System?« fragte Gobi. »Ich fürchte, es ist nichts für den Massenmarkt.« Dorje lä- chelte ihn an. »Sagen wir, es ist eher für den fortgeschrittenen Meditations-Endbenutzer gedacht.« »Er will damit sagen, daß man zuerst weihevoll aufgenom- men werden muß«, ergänzte Tara. »Man kann nicht einfach eine dieser Einheiten aus dem Regal nehmen und sie benut- zen.« »Von was für Einheiten reden Sie überhaupt?« fragte Gobi, noch immer verwirrt. »Bewußtseinsprozessoren«, sagte Dorje und schob eine der Perlen beiseite. »Bewußtseinsprozessoren?« »Genau«, sagte Dorje. »Was in den Anfangstagen des PC für die mündliche Kommunikation das Textverarbeitungssys- tem war, das sind heute für das Bewußtsein des Menschen die Bewußtseinsprozessoren.« Gobi wandte sich an Tara. »Er macht Witze, oder? Das ist doch ein Scherz?« »Nein, Frank, er macht keine Witze. Er sagt die Wahrheit«, versicherten ihm Taras grüne Augen. »Heißt das, daß er auch das mit den Zombies ernst gemeint hat?« forderte er sie heraus. »Den Ro-langs?« fragte Dorje und hob die Augenbrauen. »Sie haben sie vorhin doch selbst gesehen. Es gibt viele, die fürs menschliche Auge noch unsichtbar sind. Sie beginnen gerade damit, sich überall auszubreiten. Sie befinden sich im System. Man muß sie aufhalten.« »Sie befinden sich im System? Augenblick mal, Sie meinen doch nicht...« Er richtete sich bolzengerade auf. »Gibt es da einen Zusammenhang mit dem Zusammenbruch von Satori City?« »Die Ro-langs sind so was wie ein Virus, Gobi«, sagte Dorje und klopfte mit der Hand gegen seinen Fuß. »Ein VR-Virus. Aber der Virus geht aufs menschliche Bewußtsein über. Das ist unser Problem.« »Erzähl ihm von Tashi Nurbu«, riet Tara Dorje. »Es ist bes- ser, wenn wir ganz vorne anfangen.« »Na schön«, seufzte Dorje. »Aber das ist nicht sein richtiger Name. Er hat keinen richtigen Namen. Die Hölle hat so was nicht. Sie ist einfach nur die Hölle, wissen Sie. Einfach so.« Tashi Nurbu »Das ist die unglaublichste Geschichte, die ich jemals gehört habe«, rief Gobi, als Dorje mit seinem Bericht fertig war. »Tashi Nurbu ist ein Dugpa, ein Lama-Programmierer, der die Schwarzen Künste ausübt«, sagte Dorje und strich die Falten seines Gewandes glatt. »Er ist unserem Orden schon als kleines Kind beigetreten. Seine Mutter war Tibeterin und wurde von einem chinesischen Soldaten aus der Volksarmee vergewaltigt. Beim Rückzug aus Tibet begingen sie zahlreiche Greueltaten. Sein Shen, sein Geist, wurde von einer früheren Existenz heimgesucht. Aber er war enorm talentiert beim Schreiben von Codes. Er machte rasch Fortschritte. Seine dunkle Seite ist erst viel später zum Vorschein gekommen.« Dorje runzelte die Stirn. »Ich hätte es voraussehen müssen. Es war mein Fehler.« »Er war Dorjes persönlicher Assistent«, fügte Tara hinzu. »Aber er hatte bereits Pläne geschmiedet, als er bei Shambhala Soft zu arbeiten begann. Das erfuhren wir erst im nachhinein, als wir seine V-Mail nach Neu-Nippon wiederherstellten. Er dachte, er hätte sämtliche Spuren seiner Computerverbindung ausgelöscht. Und das hatte er auch. Aber Dorje gelang es, sie zu rekonstruieren. Das hat uns viel über ihn verraten.« »Wissen Sie, Gobi«, sagte Dorje wehmütig, »er hat die aus- gereifteste Tantrix-Version geklaut, die wir zu diesem Zeit- punkt besaßen, Varja 4.0. Aber das Programm war noch nicht ganz fertig. Es hatte ein paar ziemlich unangenehme Macken, aber er klaute es trotzdem. Es war sein Karma, es zu klauen.« »Wir wissen, daß er damit hausieren ging und es dem Meistbietenden verkaufte. Er hat eine Spur hinterlassen.« »Eine Spur?« »Den Virus«, sagte Dorje. »Und jetzt breitet er sich überall aus. Er mutiert.« »Auf diese Weise ist er also ins System von Satori City ge- langt? Er hat es der Satori Corporation verkauft. Wußten sie, was sie da kaufen?« »Er gab vor, daß es sich um den nächsten Schritt in Sachen virtueller Realität handelt, der weit über alles Bisherige hi- nausgeht«, erwiderte Dorje. »Und das stimmt ja auch. Genau danach hatten sie gesucht. Als Brücke zu Satori City 2.0, der Post-VR-Version.« »Aber es hat sich schon weiter ausgebreitet«, meinte Tara. »Wissen Sie, Tantrix ist unbegrenzt anpassungsfähig. Über Bewußtseinssimulation hinaus bietet es noch zahlreiche ande- re Möglichkeiten. In den falschen Händen könnte man damit die Weltherrschaft erlangen.« »Ich verstehe, warum es dafür so viele Käufer gibt«, stimm- te Gobi zu. »Ich wüßte selber einige.« »Stellen Sie sich das nur einmal vor«, sagte Dorje und brei- tete die Hände aus. »Ist dem Fisch im Ozean bewußt, daß er im Wasser schwimmt? Nimmt er bewußt wahr, daß er ganz davon umgeben ist? Natürlich nicht. Für ihn ist das sein natür- licher Zustand. Tantrix ist wie dieser Ozean. Es ist wie eine Schablone, die man der Welt aufprägen kann und die jegliches Bewußtsein und jedwede Wahrnehmung verändert. Niemand wäre deshalb klüger. Oder würde es auch nur in Frage stellen. Es wird einfach zu unserer neuen kollektiven Realität.« »Klingt für mich wie der Mythos vom Großen Bruder«, rümpfte Gobi die Nase. »Glauben Sie mir, verglichen damit ist der Große Bruder ein ziemlich kleiner Bruder«, gab Tara zurück. »Sie sind nicht einmal blutsverwandt.« »Aber wie funktioniert es?« Dorje warf Tara einen kurzen Blick zu. Sie nickte bestäti- gend. »Ich glaube, wir haben dieselbe Wellenlänge, Dorje. Los, erzähl's ihm.« »Also gut«, sagte Dorje. »Es funktioniert wie folgt, Gobi. Tantrix digitalisiert im Grunde das Bewußtsein.« Gobi ließ diesen Gedanken auf sich wirken. Er hörte das Klimpern eines Glockenspiels im Garten, als eine Windbö durch die Bäume strich. Es digitalisiert Bewußtsein, sinnierte er. Wie fremdartig und doch vertraut ihm diese Landschaft erschien. Es hat sich lange Zeit angekündigt, nicht wahr? Wie lautete die Song- zeile doch gleich? »This must be the place I waited years to leave...« Alice im Wunderland trifft auf Alice B. Toklas. Lotus Sutra trifft auf Lotus 1-2-3. Jetzt gehen wir also um den Maulbeerstrauch herum... »Wo befindet sich Tashi Nurbu zur Zeit?« »Tja, Gobi.« Dorje lächelte ihn an. »Eben das ist der Haken. Wir glauben, daß er sich irgendwo in Neo-Tokio aufhält. Natürlich unter falschem Namen. Welchen Namen trägt er dieser Tage doch gleich?« fragte er Tara. »Er nennt sich Sato«, erwiderte sie. Dann wurde sie ernst. »Frank, Tashi Nurbu muß gestoppt werden, wenn dieser Wahnsinn nicht ausufern soll. Sie sehen doch, wie ringsum alles zunehmend mehr außer Kontrolle gerät. Wir müssen den Virus neutralisieren. Können Sie uns helfen?« »Ihnen helfen? Wie denn?« Dann traf es ihn wie ein Schlag. Er spürte, wie das Kribbeln im Nacken plötzlich zum vierten Chakra in Brusthöhe wechselte. Es machte Ping!, und er wußte die Antwort, aber da war etwas, was er noch nicht ganz be- nennen konnte. Und darüber mußte er sich zuerst Klarheit verschaffen. »Einen Moment.« Gobi rutschte unruhig auf seinem Kissen herum. »Hier stimmt doch etwas nicht. Sie wissen, daß ich morgen nach Neo-Tokio abreise, nicht wahr? Darum haben Sie mich auch hierher eingeladen.« Er wollte diesen grünen Augen verzweifelt wieder trauen können, aber seine Miene blieb grimmig. »Das hier ist doch keine zufällige Begegnung, oder? Keine davon war's. Sie haben das geplant. Und Sie haben mich bereits in Ihren Plan eingebaut. Aber wie ist das möglich? Woher wissen Sie soviel über mich? Was wollen Sie wirklich?« Plötzlich schien seine Energie erschöpft zu sein, als wäre das Chi, das bisher seine Wirbelsäule hinauf- und hinunterge- schossen war, wieder verebbt. »Wenn Sie mich benutzen wollen, dann müssen Sie mir schon alles erzählen«, sagte er heiser. »Und wenn ich sage alles, dann meine ich auch alles. Andernfalls können Sie sich Ihren verdammten Virus greifen, ihn kochen und hinunter- schlingen, bis Sie daran ersticken.« »Frank«, sagte Tara. »Ich verstehe ja, warum Sie sich aufregen. Aber es ist nicht so, wie Sie glauben. Wir benutzen Sie nicht, wir...« »Wir akzeptieren Sie«, schlug Dorje vergnügt vor. »In unse- rem Team. Sehen Sie's doch so.« »Das ist vielleicht Ihre Art, es zu sehen«, sagte Gobi spöt- tisch. »Frank...«, flehten Taras Augen ihn an, aber er konterte mit einem wütenden Blick. »Woher wußten Sie, daß ich nach Neo-Tokio fliegen wer- de?« fragte er vorwurfsvoll. »Haben Sie mir nachspioniert?« »Nicht ganz«, antwortete sie. »Was meinen Sie mit >nicht ganzerforderlichen Fähigkeiten<.« »Was für Fähigkeiten?« »Anscheinend war es etwas, was sie sehr interessierte. Wir haben versucht, die Satori-Daten über Sie abzurufen, aber die waren nicht online. Was heißt, daß man sie wohl per Hand nach Neo-Tokio gebracht hat. Wenn man einen Kurier ein- setzt, um Hardcopies zu übermitteln, Frank, dann weiß man, daß es um eine heiße Sache geht.« »Hmm«, überlegte Gobi. »Ich kann mir nicht vorstellen, was das sein könnte. Gut, Sie haben also begonnen, mich zu über- prüfen. Warum waren Sie denn so interessiert?« Jetzt rutschte Dorje unruhig auf dem Kissen umher und drehte dabei einen großen türkisbesetzten Silberring am Zeigefinger. »Wir erwarteten gewisse Aktivitäten an der Tashi-Nurbu-Front. Der Virus konnte sich jederzeit manifes- tieren. Und das tat er auch. In Form der Ro-langs.« »Wie genau?« »Uns lagen Berichte über einige frühere Ro-langs- Sichtungen vor.« Dorje warf Tara einen flüchtigen Blick zu. Sie war merklich blaß geworden und wirkte niedergeschlagen. Langsam begann sie, auf ihrem Zabuton-Kissen vor und zurück zu schaukeln. »Sie tauchten in ein paar entlegeneren Spielbereichen auf«, fuhr Dorje nach einer Weile fort. »In was für Spielbereichen?« fragte Gobi, in dem bereits ei- ne Vorahnung aufstieg. »In Trek Land«, fuhr Dorje fort. »Das ist der Himalaja- Abschnitt von Gametime. Rund um die Simulation von Sikkim und Bhutan. Sie kamen vom Hochland herunter. Bald hätte man immer mehr von ihrer Anwesenheit erfahren. Wenn ihnen Trek-Gruppen begegnet wären.« »Ja, und...?« Gobi richtete sich auf und lauschte mit ange- haltenem Atem. »Das war der Augenblick, in dem Satori klar wurde, daß ihnen eine Menge Ärger bevorstand und sie schnell etwas unternehmen mußten, ehe schlechte Publicity einsetzte. Die Welt wissen zu lassen, daß sie in Satori City einen Killervirus frei herumlaufen ließen, war das letzte, was sie wollten.« »Was haben sie getan?« »Sie haben ein Viruskillerteam in diese Sektoren geschickt. Nerven-Ninjas. Sie hatten nicht gerade vor, gnädig mit ihnen zu verfahren, Gobi. Sie wollten da drin aufräumen. Rein ins System, das Problem eliminieren und dann so schnell wie möglich wieder raus.« »Und was geschah?« »Sie sind nie wiedergekommen.« »Woher wissen Sie das?« »Wir haben ihre Überreste gefunden.« »Sie?« Tara hörte auf zu schaukeln, und eine Träne lief über ihre Wange. »Nein, nicht ich, Gobi«, sagte Dorje leise. »Taras jüngere Schwester Devi. Sie befand sich auf einem Trek. Dabei hat sie erste Anzeichen für Ro-langs im System gefunden und uns darauf aufmerksam gemacht. Sie fand, was von Satoris Crew noch übrig war.« »Wissen Sie, Frank«, wandte Tara sich Gobi zu, und ihr Ge- sicht war tränennaß. »Ich weiß, was Sie wegen Ihres Jungen, der irgendwo in Gametime gestrandet ist, durchmachen. Meine Devi ist auch dort. Sie hielt sich beim Zusammenbruch dort auf, Frank. Und sie ist noch immer dort.« »Aber wieso haben Sie das denn nicht gesagt, Tara?« fragte Gobi und legte sanft seine Hand auf ihre. Sie lächelte und wischte eine Träne fort. »Dann hätten Sie mir doch sicher vorgeworfen, daß ich Sie manipulieren woll- te.« Dorje beugte sich vor. »Nichts ist jemals einfach oder direkt, Gobi. Wie der Künstler sagt: >Kann man mit einem einzigen Pinselstrich fünfhundert Bilder malen?<« »Tut mir leid«, sagte Gobi. »Ich hätte Ihnen vertrauen sol- len. Ich habe Ihnen vertraut. Ich habe wohl nur mir selbst nicht vertraut.« »Schon gut, Frank«, erwiderte Tara. »Jetzt verstehen wir uns ja. Das ist das Wichtigste.« »Also gut«, sagte Gobi und wandte sich Dorje zu. »Erzählen Sie mir mehr über diesen Virus. Sagen Sie mir, wie ich diese Ro-langs drankriegen kann.« »Wollen Sie sich dieser Gefahr wirklich stellen, Gobi? Es könnte Sie das Leben kosten.« Der tibetische Lama sah ihn an, als lese er Gobi seine karmi- schen Rechte vor. Sie haben die Wahl. Es ist Ihre Entscheidung. Sie wählen. Sie entscheiden. »Was muß ich tun?« »Sehr schön.« Der Lama verbeugte sich vor Gobi. »Wie ich sehe, sind Sie bereit. Möchten Sie jetzt die weihevolle Auf- nahme ins Vajrayana-VR erfahren? Den Weg des Virtuellen Kriegers beschreiten?« Mit einer Leichtigkeit, die Gobi erstaunte, sprang der Lama auf die Beine und ergriff eine schwarze Ledertasche, die einer altmodischen Arzttasche ähnelte. Er öffnete den Schnapp- verschluß und holte einen in Samt eingeschlagenen Gegens- tand heraus. Neugierig sah Gobi zu, wie Dorje eine kleine handliche Gebetsmühle an einem Holzgriff auspackte. Am Zylinder war eine Lederschnur mit einem kleinen Bleigewicht befestigt, damit sie sich leichter drehte. Dorje zwinkerte Gobi zu, setzte sich wieder an seinen Platz auf der Matte und verschränkte die Beine. »Das ist ein >Ma- ni<«, sagte er. »Es ist mit der neuesten Tantrix-Version gela- den, Varja 4.2, die ich gerade beendet habe. Keine Sorge, die Version hat keine Macken mehr. Halten Sie bitte Ihren Geist rein. Der Rest geschieht ganz von allein. Dank der Bilder, die Sie sehen, werden Sie alles wissen, was Sie wissen müssen. Mehr ist nicht nötig.« Gobi warf Tara einen Blick zu. Sie hatte bereits die volle Lo- tusstellung eingenommen und die Füße auf den Oberschen- keln verankert. Ihre Augen waren geschlossen. Die Finger bildeten das Mudra der Anrufung des Nichts. Sie atmete tief und gleichmäßig. »Fertig, Gobi?« fragte Dorje. Er nickte und machte es sich so bequem, wie das bei einem halben Lotussitz möglich war, dann spürte er, wie allmählich das Fließen einsetzte. Dorje begann die Gebetsmühle zu drehen und zu chanten. Gobi war sofort klar, daß das kein gewöhnliches Mani war. Der Festantrieb war in den Zylinder eingebaut, der die heili- gen Silben des Om-Mani-Padme-Hum-Sutra enthielt. Als Dorje die Mühle schneller drehte, bootete das Programm, erfaßte ihn und raste los. Gobi schloß die Augen. Schon brannten sich lebhafte Erin- nerungsbilder von schneebedeckten Bergen und einem kobalt- blauen Himmel in sein Gehirn. Zapp-zapp-zapp. Sein drittes Auge öffnete sich wie eine V-Mailbox und füllte sich mit visuellen Nachrichten. Irgendwo weit hinten in seinem Kopf hörte er Dorjes guttu- ral vorgetragenen Bericht von den Ro-langs und dem Virus ­ beides ein und dasselbe ­, der sich vor der Geschichte des Bewußtseins, durch die Geschichte des Bewußtseins hindurch und über die Geschichte des Bewußtseins hinaus entfaltete. »Rgyal po gau pa la 'di'am de wa pa la'i mtshams su / dpal o tan- ta pu ri'i gtsug lag khang yang bzhengs te / de ni ma gadha'i phyogs cig na mu stegs byed kyi rnal 'byor pa sngags kyi nus pa grub cing drang po'i rang bzhin can na ra da zhes zer ba zhig yod cing / de ro langs kyi dngos grub sgrub pa la grogs lus stobs che zhing nad med la lus la dpa' bo'i mtshan ma dgu yod pa...« Er stand am Rand eines großen und gewaltigen Klosters und starrte in die Schwärze eines Tals hinunter, das mit Geröll und Gebeinen übersät war. Er sprach Tibetisch. Vor ihm stand Dorje. Aber er sah nicht aus wie Dorje. Es war ein schrumpliger alter Mönch, der eine zerschlissene, häufig geflickte Kutte trug, die durch das Lodern der vielen Butterlampen, die in den Hallen des Klosters brannten, mit lauter Fettflecken bedeckt war. Sich selber erkannte Gobi genausowenig wieder. Er war jung, gutaussehend, hatte langes schwarzes Haar und trug Filzstiefel und eine Peitsche. Wie ein Feuersturm war er auf seinem Roß zum Kloster geprescht, kaum daß ihn der Alte zu sich gerufen hatte. Auch Gobis Gedanken loderten. Er stand in den Diensten von... welcher König war es doch gleich? Gau-pa-la oder De-wa-pa-la? Jedenfalls ähnelte er in keiner Weise diesem Alten, der ihn unentwegt angrinste wie einer dieser Pokale aus Menschenschädeln, aus denen die Mönche ihr Gerstensaftgebräu tranken. »Du bist ein Ketzer«, wandte der alte Mönch sich an ihn. »Den- noch lade ich dich ein, bei einem Exorzismus mein Gehilfe zu sein.« »Was für ein Exorzismus?« fragte der junge Krieger, während er wahrnahm, wie der Wind scharf über sein Gesicht fegte und die Gebetsfahnen am Mast über ihm heftig flattern ließ. »Bei der Austreibung eines Ro-langs.« Er erschauerte, als er den Namen hörte. Es war allgemein be- kannt, daß die lebenden Toten von den Gdon beseelt waren, den Urgeistern der Finsternis, die einst über das Dach der Welt ge- herrscht hatten. Dri-gum-btsan-po, der siebte in der Ahnenreihe der alten Könige, war von einem bösen Gdon-Geist besessen gewesen, der ihn in den Wahnsinn getrieben und dazu gebracht hatte, gegen seinen Minister Long-ngam zu kämpfen. In seinem eigenen Dorf, nicht weit von Skye-rgu-mdo in Khams entfernt, gab es ein Haus, in dem einmal eine wohlhabende Familie gelebt hatte. Das Oberhaupt dieser Familie war sehr beliebt gewesen, ein herzensguter und geistreicher Mann. Bei seinem Tod hatte seine Familie so lange getrauert, daß sie es versäumte, ihn rechtzeitig zu bestatten. Da tiefster Winter herrschte, verstaute man seinen Leich- nam in einer Hütte hinter dem Hauptgebäude. Zwei Wochen später hörte der Sohn des Mannes Geräusche in der Hütte. Er spähte hinein, und siehe da, der Leichnam seines Vaters bewegte sich langsam. Der Junge lief zu einem Nomadenlager ganz in der Nähe und erzählte, wovon er Zeuge geworden war. Als sie bei der Hütte eintrafen, war die Tür aufgebrochen. Der Ro-langs stakste breitbeinig auf sie zu, wobei seine Zunge zuckte und er ihnen mit der Hand bedeutete, ruhig näher zu kommen und sich nicht zu fürchten... Die Nomaden bewarfen den Ro-langs mit buddhistischen Heili- genbildern und Taschentüchern, doch er ging weiter. Sie zogen ihre Kurzschwerter und schlugen auf seine Gliedmaßen ein. Auch das machte den Zombie nicht langsamer. Sie schlugen ihm beide Arme an den Schultern ab, und er zuckte noch immer mit seiner bösen Zunge. Erst als einer der Nomaden sein mächtiges Schwert schwang und ihn köpfte, stürzte der Ro-langs endlich vornüber. Die Nomaden gingen, nachdem sie dem Jungen versichert hatten, daß das Monster wahrhaft besiegt war. Aber dem war nicht so! Kaum waren sie fort, erhob sich der Ro-langs wieder, ohne Kopf und ohne Arme. Haut, Blut, Fleisch und Knochen waren zwar aufs heftigste angegriffen, und doch bewegte er sich weiter voran. Der Junge, nicht dumm, dachte sich: »Das muß ein Geburtsmal- Ro-langs sein! Nur wenn sein geheimes Geburtsmal durchstoßen wird, findet er schließlich Ruhe!« Er lief zu seiner Mutter und fragte, ob sein Vater irgendwo am Körper ein Geburtsmal habe, und wenn ja, an welcher Stelle? Die Mutter entsann sich, daß ihr Mann auf dem Rücken, gleich unter dem linken Schulterblatt, ein unge- wöhnliches Mal gehabt habe. Der Junge nahm ein Messer und umkreiste den Ro-langs vorsich- tig, der auch jetzt noch auf ihn zuschlurfte, wobei sein Atem in einem Blutstrahl aus dem enthaupteten Rumpf schoß. Der Junge wartete und schlug dann zu. Er stieß ihm die Klinge in den Rücken, genau dort, wo sich nach den Worten seiner Mutter das Mal befand. Der Ro-langs kippte vornüber, zuckte und ging in die Leere ein. »Weil er schon eine Leiche ist«, erklärte der alte Mönch dem jun- gen Krieger, als hätte er gerade seine Gedanken gelesen, »kann man einen Ro-langs nicht töten. Man kann ihn nur dazu bringen, daß er >Brgyal-ba< ­ nach vorne umfällt.« Der Alte unterwies seinen auserwählten Gehilfen. »Du darfst nicht vergessen, daß es verschiedene Arten von Ro-langs gibt. Zunächst einmal gibt es den Lpag-langs oder Hautzombie. Dann gibt es den Khrag-langs, den Blutzombie. Dann den Sha-langs oder Fleischzombie. Und dann noch den Rus-langs, den Knochenzombie. Alle diese Ghoule kann man fällen, indem man ihnen die Hand auf den Scheitel legt. Nur beim Rme-langs, das ist der Geburtsmalzom- bie, ist es nötig, das Mal zu durchstoßen. Der Rme-langs hat auch einen besonderen Namen. Wir nennen ihn Rimi.« »Wieso bittest du mich, einen Ketzer, dir beim Exorzismus zu helfen?« fragte der junge Mann. »Weil du die neun Eigenschaften des Dge-bsneyn besitzt. Das sind die Kennzeichen für den perfekten Eleven des Nagspa.« »Welche Kennzeichen sind das?« »In erster Linie Wahrheitsliebe, Geistesschärfe, das Fehlen von Lug und Trug, körperliche Stärke und ein umfassendes Wissen der Künste. Das macht dich für das mantrische Reich geeignet.« »Und was bekomme ich dafür, wenn ich Euch hei der Zeremonie helfe?« fragte der junge Tibeter und musterte die lebende Mumie in der Robe eines Lama. Der alte Mönch lachte gackernd. »Du bist ein Ketzer. Du darfst den Leichnam des Ro-langs behalten, der zu Gold werden wird. Schneide das Fleisch bis auf die Knochen herunter. Gib das Gold nicht für unanständige Sachen wie Gerstenbier oder Huren aus! Wenn du es für dein eigenes Auskommen und tugendhafte Taten verwendest, dann wird jedwedes Fleisch, das du dem Leichnam tagsüber abschneidest, sich nachts erneuern, und es wird ewig halten!« »Und war habt Ihr davon, o gelehrter Nagspa?« Der alte Mönch kicherte. »Das geht dich nichts an! Bist du mit goldenem Fleisch als Belohnung nicht zufrieden? Oder verlangt es dich nach Reichtümern, die über dein Wissen hinausgehen? Willst du mir nicht als Dge-bsneyn beistehen, mein Sohn?« Der junge Mann warf einen Blick auf die Dunkelheit, die übers Tal hinwegritt und die Gipfel der Götter in die Satteltaschen packte, während der Wind mit wildem Peitschenschlag die Erinnerungen an den Tag vertrieb. »Wann werdet Ihr meine Dienste als Dge-bsneyn denn benöti- gen?« fragte er schließlich. Der alte Mönch gluckste erfreut, und seine Stimme erhob sich im Wind. »Nicht in diesem Leben! Das Rad wird sich noch viele Male drehen, ehe ich dich herbeirufe! Du wirst es erfahren, wenn die Zeit gekommen ist!« Der junge Mann erschauerte, als er in die Schlucht hinabsah. Der Wind heulte und vervielfachte das Gelächter des alten Mönchs, das ihm jetzt wie klingende Glöckchen, gemurmelte Gebete und Tausen- de gedrehter Gebetsmühlen gleichzeitig vorkam. Weder er noch der Mönch sahen die dunkle Gestalt im Türrah- men, die aufmerksam den Worten gelauscht hatte, die der Alte und sein neu angeworbener Dge-bsneyn gewechselt hatten. Zufrieden damit, alles gehört zu haben, was es zu hören gab, stahl sich der Dugba lautlos davon. »In welchem Leben mag es wohl geschehen?« fragte sich Tashi Nurbu. Er würde sich darauf einstellen müssen. Gobi schlug die Augen auf. Dorje hatte aufgehört, die Gebets- mühle in seiner Hand zu drehen. Jetzt öffnete auch Tara die Augen. Sie waren von einem durchscheinenden Grün, die Färbung der Schneealge, die auf den Felsen oberhalb der Schneegrenze des Mount Kailas wächst. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht wickelte Dorje das Ma- ni wieder ins Samttuch ein und legte es vorsichtig ins Innere der Tasche zurück. »Also, Gobi«, fragte Dorje ihn augenzwinkernd. »Hast du etwas gesehen?« Gobi ließ sich Zeit und kostete die Gegenwart aus, als hätte er sie gerade erst zufällig entdeckt, eine einzelne Perle in einem Rosenkranz, der sich durch die Ewigkeit erstreckt. »Ich... weiß nicht. Ich bin mir nicht sicher. Was sagten Sie doch gleich, welche Tantrix-Version das war?« Dorje lachte. »4.2.« »Erstaunlich. Was auch immer das gewesen sein mag.« Go- bi rieb sich mit den Händen das Gesicht. Er blickte zu dem tibetischen Lama hoch. »Und Sie bringen das alles einfach dadurch zustande, daß Sie dieses Ding dre- hen?« Wieder lachte Dorje. »Man muß das richtige Händchen da- für haben.« »Was für ein Trip!« Gobi rieb sich die Augen. »Sehen Sie, Gobi, Sie und ich sind dazu bestimmt, zusam- menzuarbeiten. Das ist eine Vereinbarung, die vor sehr langer Zeit getroffen wurde.« »Kommt mir immer noch unglaublich vor. Ist das wirklich möglich?« »Ah«, sagte Dorje. »Sie wundern sich über das Rad. Seine vielen Speichen. Und die Drehung der Nabe. Sie wissen doch, was Krishna im Bhagavadgita zu Arjuna sagte? >Du und ich, Arjuna, wir haben schon viele Leben gelebt. Ich erinnere mich an alle, du jedoch nicht.<« Jetzt war es an Gobi zu lachen. »Manchmal kommt's mir so vor«, stimmte er zu. Dann wurde er ernst. »Sie erwarten von mir, daß ich irgendwo in Neo-Tokio Tas- hi Nurbu aufstöbere. Oder mich von Angesicht zu Angesicht diesem Virus stelle. Diesem... >Rimi<.« Da, er hatte ihm einen Namen gegeben. »Aber wie soll ich ihn vernichten?« »Ganz einfach, Gobi«, sagte Dorje und langte tief in die Fal- ten seiner Lamarobe hinein. »Mit einem Phurbu.« Er reichte Gobi einen rituellen tibetischen Dolch mit dreischneidiger Klinge. »Hiermit.« Taxi »Kommen Sie, Gobi, es ist schon spät. Ich fahre Sie jetzt nach Hause. Mein Taxi steht draußen«, riet ihm Dorje. Tara begleitete sie hinaus. Sie stand barfuß in der Tür, die Arme um den Körper geschlungen, und zitterte. Nebel senkte sich herab. »Passen Sie auf sich auf, ja?« bat sie Gobi. »Ich versuch's«, sagte er und machte einen Schritt auf sie zu. Sie bot ihm die Wange dar, doch er küßte statt dessen ihren Mund. Der Kuß dauerte an. Es war nicht gerade der leidenschaftlichste Kuß, den er jemals erlebt hatte, aber ehe er endete, begann sich etwas wie Wärme zwischen ihnen auszu- breiten. Dorje wartete auf dem Treppenabsatz. Tara seufzte. »Sie sind sehr nett, Frank«, sagte sie zurück- haltend. »Ich habe von Anfang an gespürt, daß Sie eine sehr starke sexuelle Seite haben.« »Allerdings«, gestand Gobi. »Wenn ich sie zeigen dürfte...« Er sah sie hoffnungsvoll an. »Mmm«, murmelte sie. »Es schmeichelt mir, daß Sie mich für anziehend halten.« Wie aufs Stichwort kam er wieder auf sie zu, doch sie brem- ste seine Annäherung mit erhobener Hand. »Sind... sind Sie mit Dorje befreundet?« fragte er. Sie lachte leicht. »O nein. Das bin ich nicht. Nicht so, wie Sie denken. Dazu stehen wir uns zu nahe.« »Tut mir leid, ich wollte es nur wissen.« »Es braucht Ihnen nicht leid zu tun, es ist nur, daß ­« »Daß was?« »Sie müssen Ihr Yang bewahren, Frank«, lachte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn schnell auf den Mund. Kurz und knapp. »Wie bitte?« »Kommen Sie schon, Gobi«, rief Dorje, wobei er die Schlüs- sel hochhielt und damit klimperte. »Sie werden es brauchen, dort, wo Sie hingehen.«Tara schob Gobi von der Tür fort. »Mein Yang? Meine männliche Energie?« »Genau«, sagte sie. »Ihr Yang, Ihr Yin und alles, was dazwi- schen liegt.« »Du meine Güte, danke«, sagte er. »Ich muß mir auf dem Flugplatz unbedingt etwas Ginseng kaufen.« Sie drückte ihm einen kleinen Umschlag in die Hand. »Hier sind einige Fo-Ti-Tabletten. Gut gegen Jetlag, zuviel Liebe und verschwenderischen Umgang mit Ihrer männlichen Essenz.« »Sie denken wohl an alles, was?« »Gehen Sie jetzt besser, Frank. Sieht aus, als würde Dorje ungeduldig.« Der tibetische Lama kam die Treppe herunter, um ihn ab- zuholen. »Schon unterwegs, Dorje«, rief Gobi ihm zu. Er wog den Umschlag in der Hand. »Sind Sie sicher, daß hier genug drin ist gegen Jetlag und zuviel Liebe?« »Hängt ganz davon ab, wie weit Sie gehen«, spöttelte Tara. »Kommen Sie gesund zurück, Frank.« »Bye, Tara.« »Bye, Frank.« Er lief die Treppe hoch. »Na endlich«, rügte ihn Dorje, als er die Straße erreichte. »Steigen Sie ein«, sagte er. »Willkommen in Dorjes tantrischem Taxi.« Dorjes Finger trommelten auf das Armaturenbrett. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Musik anmache?« fragte er und musterte seinen Fahrgast im Rückspiegel, während er den Spiegel neu einstellte. »Nein, machen Sie nur«, erwiderte Gobi geistesabwesend. Er saß gedankenversunken auf dem Rücksitz und hüpfte gelegentlich auf und ab, wenn der dreißig Jahre alte Chevy Isuzu seine Stoßdämpfer auf der gewundenen Straße einer Belastungsprobe unterzog. Er versuchte noch immer, sich auf alles einen Reim zu machen. Dorjes tragbare Gebetsmühle war qualitativ weitaus besser als das Demo, das Kimura ihm gezeigt hatte. Bei Kimuras Post-VR- Programm handelte es sich offenbar um die Variante einer früheren Tantrix-Version. Derjenigen, die Tashi Nurbu an Satori verkauft hatte. Optischer und gefühlsmäßiger Eindruck waren gleich, aber sie hatte nicht die innere Auflösung und Echtzeit-Transzendenz von Varja 4.2. Und außerdem hatte Satori die Anwendung verändert. An Ge- betsmühlen zu drehen war nicht sehr benutzerfreundlich. Zuviel blieb dem Glauben überlassen. Kimura hatte ihm ein Päckchen mit etwas übergeben, das wie ein zusammengelegter japanischer Yukata aussah. »Bitte ziehen Sie ihn an«, hatte Kimura gesagt. »Haben Sie schon einmal einen Yukata getragen?« »Natürlich habe ich das«, hatte Gobi gesagt, als er mit den Armen in die weiten Ärmel des blauen Yukata mit Wellenmuster geschlüpft war. Er hatte sich wie ein Gast gefühlt, der sich gerade in einem japanischen Wirtshaus einmietet. »Hier«, hatte Kimura gesagt und ihm einen Obi-Gürtel gereicht. »Wenn Sie ihn zuschnüren, werden die Bio-Schaltkreise aktiviert, und das Herunterladen beginnt. Die Sensoren sind mit dem Material verwoben. Wir nennen den Stoff >Neurayon<. Selbstverständlich beabsichtigen wir, ihn in verschiede- nen Formaten anzubieten: Strickjacken, Freizeitsakkos, eigentlich eine komplette Kollektion Post-VR-Sportkleidung.« Die Flut der Bilder war atemberaubend gewesen, aber sie waren nichts gegen Dorjes tragbare Einheit. Sie hatten einen entschieden kommerziellen Anstrich. Kimura hatte erklärt, daß es sich um Ausschnitte aus mehreren sich in Vorbereitung befindlichen »ICH BIN«-Folgen handelte. Albernes Zeug aus anspruchslosen Comedys wie »ICH BIN Jimmy Durantes Nase«, was wenigstens noch eine gewisse gogolhafte Schrulligkeit aufweist; aus historischen Phantas- tereien wie »ICH BIN Napoleons Hand«, in dem die Schlacht von Waterloo durch die offenen Knöpfe des Uniformrocks des französi- schen Eroberers gesehen wird; oder aus dem kuscheligen Softporno- Kitzel von »ICH BIN Madonnas BH«. Wirklich arg zugesetzt hatte ihm jedoch der »ICH BIN im schwarzen Loch von Kalkutta gefangen«-Clip aus der Folge »Be- rühmte historische Massaker«. Das Geschiebe und Gestöhn und der Gestank der aufgehäuften Leichen war einfach zuviel für ihn gewe- sen. Er hätte fast das Bewußtsein verloren. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir das freigeben sollten«, gestand Kimura. »Es bedient eigentlich nur eine Minderheit.« »Was ist das für Musik, Dorje?« fragte Gobi und richtete sich abrupt auf. »Oh, das?« erwiderte Dorje und hantierte an der Einstel- lung. »Schauen wir eben mal.« Graues Flirren überzog den Bildschirm, und der Ton prasselte gleichzeitig aus mehreren Lautsprechern im Taxi. »Du bist meine I-Ging-Liebe, Baby, veränderst dich alle Zeit. Du bist meine I-Ging-Liebe, Baby, veränderst dich alle Zeit. Ich dachte, ich könnte deiner sicher sein, doch mit Knete ist's nicht mehr weit. Nun, ich liebe dich noch dreimal, Baby, es ist schwer, aber ich bin's leid. Ich liebe dich noch dreimal, Baby, es ist schwer, aber ich bin's leid. Ich weiß, ich muß mir was einfallen lassen, denn entweder geh ich drauf oder bin gescheit...« Gleich darauf war der Troden-DJ zu hören. »Und das war für euch Gespenster dort draußen, ein Smash-Hit aus der Vergangen- heit, Huey & die Hexagramme, vom Wasteland NetFM live zu euch rübergebracht, keine Panik! Und meine Wenigkeit ist euer ghulhafter King Alfonso Aserioso, der, wie ihr seht, trotz Lebenserhaltungssys- tem alles noch ganz gut im Griff hat, vielen Dank... (kicher, ki- cher)... Hier bei uns im Studio gibt's ein paar Troden, die noch funktionieren, aber natürlich haben wir nichts gegen ein paar freiwil- lige... Gehirnspenden! Nur ein kleiner Scherz! Nein, war's nicht. Jeder, der seine paar übriggebliebenen Neuronen mit uns teilen möchte... wir akzeptieren alles, was ihr uns schickt, jedes Almosen, sogar von euch durchgeknallten Freaks da draußen! Wir nehmen sogar Leihgaben! Und wenn wir schon dabei sind, he, würde irgend- eine barmherzige Seele uns mal etwas Vasopressin hochladen, es ist verdammt einsam hier, wenn nur noch ein paar Gehirnzellen rumschmurgeln. Okay, schauen wir jetzt doch mal, was die Katze uns ins Haus geschleppt hat. Es ist Anrufzeit bei Mailbox Central.« Der Nachrichten-DJ trug eine Narrenkappe mit Schellen. Auf seiner Stirn war eine Spirale eintätowiert, und er trug eine dicke Unagi-Neurobrille. Beim Sprechen zischelte seine Zunge aus dem Mund hervor, und der Mund selber entließ Laute, die aus einer erschöpften Kehle zu kommen schienen. Als er sich über den Vordersitz beugte und den Monitor im Armaturenbrett genauer in Augenschein nahm, erkannte Gobi, daß die Lippen des Troden-Jays bis auf eine kleine knospenartige Öffnung, durch die seine Zunge hervorkam, mit Spiralringen zusammengenäht waren. »Das ist King Alfonso Aserioso«, erklärte Dorje, wobei er Gobi einen Blick zuwarf. »Ein echtes Original. Nein, das nehme ich wohl besser zurück. Ich bin mir doch nicht ganz sicher, wie echt er ist.« Er sieht aus wie ein Wiesel, dachte Gobi. Man konnte sehen, daß Alfonso ein Hybride war. Die eine Hälfte entstammte dem Werkzeugkasten eines postmodernen Primitiven, während der Rest von ihm aussah, als hätte man ihn aus einem alten inter- aktiven Stachelschwein-Sonic-Chipset zusammengeschustert. »Ja, aber von wo aus sendet er? Was soll das sein, das Waste- land NetFM? Davon habe ich noch nie was gehört.« »Das ist ein Piratensender. Aus Satori City«, erwiderte Dor- je. »Satori City?« Gobi war verblüfft. »Aber wie ist das mög- lich? Satori City müßte doch abgestürzt sein! Es ist zusam- mengebrochen.« »Ein paar Pockets gibt es noch«, informierte ihn Dorje. »Verbotenerweise. Sie haben sich vor dem Zusammenbruch eingegraben. Es sind größtenteils Leute, die sich illegal an einem Ort namens Wasteland niedergelassen haben. Anschei- nend haben sie Vorsorge getroffen und sich von vornherein darauf eingestellt. Wissen Sie, so wie man sich für Erdbeben rüstet. Keine schlechte Idee in einer Virtuellen Verwerfungs- zone wie Satori City.« »Wissen die Behören etwas darüber?« »Schwer zu sagen.« Dorje griff sich einen Kaugummi. »Wol- len Sie auch einen?« Er hielt Gobi einen Streifen hin. »Bachs Blumenkur. Nehmen Sie einen. Er hat Melissengeschmack. Das hilft beim Fahren. Verhindert Unfälle auf der Straße.« »Nein, danke. Beantworten Sie meine Frage, Dorje. Weiß jemand, daß eine Gruppe Überlebender von Virtuopolis aus sendet?« »Auch wenn sie es wüßten, gäbe es keine Möglichkeit, sie zu erreichen. Der Funkverkehr geht eindeutig nur in eine Richtung. Und in den letzten Tagen haben sie Energie verlo- ren. Ihre Signale werden schwächer.« »Das glaube ich nicht!« rief Gobi und sah zu, wie King Al- fonso seine Narrenkappe zurechtrückte. »Okeydokey, entschuldigt die nichtkommerzielle Unterbrechung.« King Alfonso strahlte. »Oder wie man in Neuro-Nippon sagt: >Ich bin in Ordnung, ihr seid karaoke.< Also dann, wer ist in der Leitung?« »Hi, Alfonso, hier spricht Phil.« Ein pickeliger Jugendlicher mit rötlich-grünem Haar erschien auf dem Bildschirm. Er hatte eingefal- lene Wangen und schien mit dem Atmen Schwierigkeiten zu haben wie ein online geschalteter Asthmatiker. »Hi, Phil, was können wir heute abend für dich tun?« fragte Al- fonso. »Ich meine, nach Hause ins Vereinte können wir dich offenbar nicht fliegen, aber was wäre denn das nächstbeste Ding?« »Ich möchte gern... meiner Freundin Norma einen Song wid- men?« »Okay, Junge. Wo, sagtest du gleich, lebt sie?« »In Cleveland. Wir waren gemeinsam in V-Town unterwegs, wurden aber beim Zusammenbruch getrennt. Sie hat's zurück geschafft. Aber ich bin noch hier...« »O Mann, das ist hart, Kumpel. Nicht durchhängen«, bedauerte King Alfonso ihn. »Das müßte sie hören, wir sind ja immer noch euer liebster Radio aktiv-Sender! Wie lautet die Botschaft an dein Darling Norma, Phil?« »Norma, du fehlst mir, Baby. Wo immer du bist, paß auf dich auf. Ich liebe dich.« King Alfonso wischte sich mit einem bunten Taschentuch eine Träne aus dem Auge. »Ich hätt's nicht besser sagen können, Freund. Und he, Norma, he, Norma! Ein dicker Kuß an dich von allen gestrandeten Freaks hier unten. Also, welcher Song soll's denn sein, Kumpel?« »Nun ja«, sagte Online-Phil, »wo du doch heute abend Oldies spielst, wie wär's da mit >Monkey Me, Monkey You< von Goin' Ape?« »Kriegst du, Toyota, wir legen die Scheibe für dich auf, und dann sind wir mit einer Menge anderer Botschaften von einem Haufen Heißgeliebter an ihre Heißgeliebten, die sich gerade in anderen Zeitzonen, anderen Gedankenzonen, ganz zu schweigen von anderen erogenen Zonen, aufhalten, wieder da. Für Geschmack übernehmen wir keine Gewähr, klar? Wie ich sehe, sind unsere Leitungen knall- voll. Okay, Phil, das hier ist von dir für Norma in Cleveland...« »You got a monkey mind but I don't mind 'coz I'm a monkey too...« »Das ist ja unglaublich, Dorje«, staunte Gobi. »Das ist ein- fach unglaublich!« Der Tibeter hupte, als ein streunender Blindenhund jaulend quer über die Straße lief und dabei sein Geschirr hinter sich herzog. Am Straßenrand vor seinem Haus hielt Dorje Gobi die Tür auf. »Danke fürs Herbringen, Dorje«, sagte Gobi. »Passen Sie auf sich auf.« Dorje packte ihn an den Armen. »Machen Sie's gut, Dge- bsneyn!« »Ich weiß nicht einmal, wie man dieses Wort ausspricht«, widersprach Gobi, »geschweige denn, was man von mir erwartet.« »Zweifeln Sie nicht an sich, Gobi«, riet ihm der Lama ernst. »Das wird schon. Haben Sie Vertrauen.« »Sie sollten Versicherungsvertreter werden«, sagte Gobi munter, während er die Stufen zu seinem Haus hinaufging. Das Licht auf der Veranda war aus, und es war dunkel im viktorianischen Haus. »Gute Nacht und viel Erfolg, Sir.« Dorje verbeugte sich, stieg wieder ins Taxi und fuhr davon. Das Haus wirkte völlig verlassen. Juan war schon weg. Auf dem Küchentisch stand ein Satori-Kurierpäckchen mit Gobis Ticket nach Neo-Tokio. Er öffnete es und überflog die Reise- route. Er bemerkte ein Lämpchen am Würfel. Gobi drehte sich um und befahl: »Nachrichten.« Dann ga- ben beinahe die Knie unter ihm nach. Unter Trevors Augen waren dunkle Ringe, und sein Mund bewegte sich lautlos, bis die Worte aufholten. Sie kamen von sehr weit weg. Die Nachricht war ungefähr zu der Zeit auf seiner Einheit hinterlassen worden, als Gobi Trevor im Kran- kenhaus besucht hatte. Wie war das möglich? »Hi, Dad! Ich weiß, daß du dir wahrscheinlich echt Sorgen um mich machst, aber das brauchst du nicht. Mir geht's prima. Ich weiß, daß ich im Augenblick nicht zu dir kann. Aber das ist schon in Ordnung, ich komme ja bald heim. Ich versprech's. Ich muß nur noch ein paar Ebenen packen, dann mache ich hier den Abgang. Du glaubst ja nicht, was für ein irres Spiel das ist, Dad! Da stürmen all diese Wahnsinnsteile auf einen ein. Dämonen, Zombies, Gdons, Oger, alle möglichen hungrigen Gespenster. .. So was hast du noch nicht gesehen! Ups! Ich muß jetzt Schluß machen! Das kostet mich ein Vermögen!« Auf Trevors Gesicht lag ein wissendes Lächeln, das Gobi sehr vertraut war; es war seine Inkasso-Miene. In Buchfüh- rung war Trevor schon immer gut gewesen. »Du schuldest mir zwei Blitze, Dad! Ich liebe dich! Tschüs! Ich klinke mich aus!« BARDO ZWEI »Das Orchester ist klein und spielt die Rolle des Doppelgängers.« Wolfgang Rihm Butoh Während seine Ray-Ban-Kamera vor sich hin klickte, zählte Gobi siebenundzwanzig Passagiere in der Chrysanthemen- Klasse. Die Maschine nach Neo-Tokio war nicht einmal zur Hälfte besetzt, dafür aber reich an Flora und Fauna. Vorwie- gend Spekulanten und Keiretsu-Typen, folgerte Gobi, nachdem er sich in der Kabine umgesehen hatte. Seine Ray Ban war darauf programmiert, alle interessanten Clips, die in seinen interaktiven Leitfaden über die neue Rim- Kultur hineinpaßten, aufzuzeichnen. Bei dem Tempo würde er bald eine neue Patrone einlegen müssen. Mit Ausnahme der reizenden Miss Claudia Kato, der Flug- begleiterin, die sich mit dem Getränkewagen einen Weg durch den Mittelgang bahnte, gab es an Bord fast nur Yangs. Bei zwei Passagieren handelte es sich um Waffenhändler aus Großchina, zu erkennen an ihren Sharkskin-Anzügen aus grauer Shantung-Seide. Durch die protzigen Jaderinge in der Größe von Kowloons und Seiko-Rolexes mit den neuesten Hsinchu-Park-Schaltkreisen an den wulstigen Handgelenken sahen die GCs eher wie reiche Onkel aus Singapur auf Urlaub aus als wie Kaufleute des Todes. Auch eine Abordnung amerikanischer Retsu-jins befand sich an Bord. Sie trugen diese übertrieben dezenten Ralph- Yamamoto-Anzüge, wie Konzernangehörige sie bevorzugten, das Modell mit eingebautem Reißwolf in der einen und Satelli- tenverbindung samt Kom-Center in der anderen Tasche. Die Anzüge waren wohl von AT&T geleast. Miss Kato war damit beschäftigt, den Fluggästen Getränke zu servieren. Gobi sah fasziniert zu, wie sie sich in ihrem engen Latex-Kimono vorbeugte und sich beim Gehen in den Hüften wiegte. Ihm war klar, daß ihr angesichts dieser Meute eine schwere Zeit bevorstand. Einer der Nordkoreaner an Bord ­ seiner toupierten Frisur im Stil von Kim Jong Il. nach zu urteilen ein Handelsreisender aus Pjongjang ­ war schon betrunken und wurde zusehends rot im Gesicht. Er konnte sich jetzt jeden Augenblick bis auf die langen Unterhosen ausziehen und sein Karaoke verlangen. In der Zwischenzeit waren seine Finger eifrig damit beschäf- tigt, die Kombination von Miss Katos Obi herauszufinden. Sie lächelte ihm höflich zu, während sie seine Hand von ih- rem Gesäß entfernte, und ging dann weiter. »Mian hamnida«, sagte sie auf koreanisch zu ihm. »Tut mir leid.« Nicht alle Fluggäste entsprachen diesem merkantilen Durchschnitt. Es gab zum Beispiel auch zwei kalifornische Heiler. Sie trugen schneeweiße Parkas und hatten langes goldenes Haar, einen Rauschebart und ein engelsgleiches Lächeln. Ihre zollfreien Taschen waren vermutlich mit Räu- cherkerzen, Kristallkugeln und Tarotkarten angefüllt. Tja, dieser Tage gab es in Neu-Nippon weiß Gott genug zu heilen und zu lenken. Und dann war da noch dieser häßliche Cowboy, der Gobi unmittelbar gegenübersaß. Er nickte und grinste Gobi schon seit einer ganzen Weile an. Es war nicht nur der Umstand, daß er mit einem billigen weißen Issey-Miyake-Anzug von Sears und Stiefeln aus Eid- echsenleder bekleidet war; auch daß er eindeutig zur mexika- nischen Yakuza einer von Widerstandskämpfern bevölkerten Grenzstadt ­ höchstwahrscheinlich einem Tijuna-gumi- Syndikat ­ gehörte, verursachte Gobi keine Gänsehaut. Nein, es war sein Gesicht. So eine Körperveränderungsarbeit hatte Gobi noch nicht gesehen. (Seine Bans machte klick-klick-klick.) Diesem Hombre hing ein Kettengeflecht quer über die gan- ze linke Gesichtshälfte. Wie ein auf die Haut getackerter Schleier reichte es von der linken Augenbraue bis hinab zur Unterlippe. Der häßliche Kerl grinste Gobi an. »Carlos Morales. Freut mich, Sie kennenzulernen, Mann«, sagte er. »Möchten Sie eine Nase voll?« Er bot Gobi ein paar Körner weißer Shabu- Kristalle aus seinem Rotgußkoffer an. »Der Scheiß bringt Sie schneller ans Ziel als jeder Flieger«, prahlte er. »Nein danke«, lehnte Gobi höflich ab. »Mein Name ist Gobi, Frank Gobi«, stellte er sich vor. »Fliegen Sie rüber nach Neo- Tokio?« Silbergesicht nahm eine Prise Shabu. »'tschuldigung... pffuuuhh...«, sagte er und grinste, während er die Kristalle durchs rechte Nasenloch sniffte. »Yokohama-Mama, Mann... irres Zeug.« Er streckte Gobi die Hand entgegen. Gobi bemerkte ein blutrotes Mal auf der Hand wie ein aufgeklebtes Tattoo, aber es war ein Hologramm. Entschieden Tijuana-gumi-Machart. Und seine Zähne waren goldüberkront, ein sicheres Zeichen für die Arbeit von Yakuza-Zahnärzten. »Angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Morales. »Yeah, ich habe da etwas Shobai zu tun. Bi-zhi-nesu, wie man dort sagt. Und Sie?« »Ich bin in der Marktforschung tätig«, entgegnete Gobi. Morales konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Yeah, klar.« »Und was treiben Sie so, Mr. Morales?« »Das hier«, sagte Carlos und holte einen Koffer hervor, um noch etwas Shabu einzufahren. Er wedelte mit der Tabakdose in der Luft herum. »Entschuldigen Sie mich bitte kurz, wäh- rend ich meinen Cortex pudere. Sind Sie sicher?« Erneut bot er Gobi seine Ware an. »Völlig. Ab und zu rauche ich etwas Spirulina, aber das ist auch alles.« »Ich steh drauf. Yeah, also«, sagte er und schob mit einer gezierten Geste seiner linken Hand den Silbervorhang beiseite. Die Ketten klirrten. Sein rechtes Auge war weit aufgerissen, fixierte aber die Bühne im Mittelteil der Kabine. Er nickte. »Offenbar ist Butoh-Zeit.« Das war die Bordunterhaltung. Unbemerkt war der Butoh- Tänzer auf die Bühne gehuscht. Er hing bereits mit dem Kopf nach unten auf dem Hauptpodium, und ein Scheinwerfer war auf ihn gerichtet. Die Füße des Butoh waren fest in den Bügeln über ihm ver- ankert. Sein Kopf war rasiert und sein glatter Körper bis auf einen Latex-Lendenschurz nackt. Den ganzen Körper bedeckte weißer Kalk. Gobi sah im Programm nach. Das Stück hieß »Stumme Körpersprache«, eine klassische Butoh-Studie in Bewegungs- losigkeit. Es würde ungefähr zwei Stunden dauern, schätzte er, oder wenigstens so lange, bis sie in den Luftraum von Neu- Nippon eintraten. Die Fluggäste nickten bereits ein. Wie medizinische Tests gezeigt hatten, hatte Butoh diese spezielle beruhigende Wirkung. Gobi sah dem von der Decke hängenden Butoh vielleicht zwei Minuten lang zu, wobei es durchaus auch erheblich länger gewesen sein konnte. Die glänzenden schwarzen Au- gen waren netzartig geädert wie die eines Chamäleons aus der alten Welt. Man konnte einfach nicht sagen, worauf sein Blick gerade gerichtet war. Aber Gobi hatte das seltsame Gefühl, daß der Butoh ihn anstarrte. Es war wirklich seltsam. Der kalkweiße Mund öffnete sich wie eine Knospe und enthüllte die schwarze Mundhöhle. Dann explodierte das Gesicht des Butoh. Was als nächstes geschah, glich einem Standbild, das in Schnellzeit auftaut. Gobi spürte quer durch die Kabine den deutlichen Stoß ent- fesselter Chi-Energie, wie geölte Moleküle, die außer Kontrolle geraten. Die Köpfe der chinesischen Waffenhändler ruckten hoch ­ eine Reihe Lucky-Fatty-Puppen, die auf ihren Spiralfe- dern hüpfen. Claudia fuhr auf dem Absatz herum. Erst begut- achtete sie den Schaden auf der Butoh-Bühne, aber im nächs- ten Moment starrte sie bereits in seine Richtung. Um zu schau- en, ob mit ihm alles in Ordnung war? Was ging hier vor? Carlos ging in Deckung, als die Chi-Welle sie erreichte. Das Licht in der Kabine flackerte und erlosch dann. Verwirrte und verängstigte Stimmen begannen in der Dunkelheit zu schreien. Das Shuttle erbebte und stöhnte, und plötzlich neigte sich die Kabine vornüber, als es wie auf eine entgleisende Achter- bahn in den freien Fall überging. So sah also das Ende aus? Mit schreienden Menschen, deren Schreie noch einmal ihr ganzes Leben zusammenfaßten, bis die Schwärze sie schließlich einholte? Seltsam, aber Gobi fühlte einen Strudel der Ruhe im dritten Chakra in Höhe des Hara. Ganz gleich, wie plötzlich es geschieht, man ist immer bereit, erkannte er und begann, sich aus dem siebten Chakra in Stirnhöhe zurückzuziehen. Nur, um es sich bequemer zu machen. Da... ... ging das Licht genauso schnell wieder an, wie es erlo- schen war, und die Halogenperlen verbreiteten knisternd Helligkeit. Das abstürzende Shuttle landete in einem unsicht- baren Netz. Es stabilisierte sich. Ein kollektives »Ah!« erhob sich von jedermanns Lippen. »Sind Sie okay, Hombre?« Gobi spürte eine Hand auf seiner Schulter. Es war der Latino-Yakuza. Inmitten des ganzen Geschreis und Gestöhns war er cool geblieben, der Mann mit dem Silbergesicht. »Ich... glaube schon«, antwortete Gobi, während er sich ins Körperbewußtsein zurückbrachte. »Was... ist geschehen?« Sein Atem, eben noch regelmäßig, paßte sich jetzt dem Schlag seines Herzens an, das wie das eines Hasen wummerte, der über eine Straße läuft und plötzlich Scheinwerfer auf sich gerichtet sieht. »Vermutlich ein Systemfehler.« Gobi setzte sich unbehaglich auf. »Des Shuttles?« »Richtig. Von seinem System auch, schätze ich«, erwiderte Carlos und deutete auf den Butoh, der wie eine verdrehte Lunte über der zündholzgroßen Bühne hing. Claudia Kato ging energisch auf die Bühne zu. Einer der Amerikaner schloß sich ihr an. Der Art nach, wie er den Scha- den begutachtete, mußte es sich um einen Techniker handeln. »Sehen Sie doch, er ist ein Droide!« erklärte er. »Das verstehe ich nicht«, wandte er sich mit verdutzter Miene an Claudia. »Der Kerl ist ein Droide? Haben Sie das gewußt? Was geht hier vor, Miss?« Einen Moment lang war sie durcheinander, faßte sich aber schnell wieder. »Das Management hat bei bestimmten Flügen eine Anzahl Unterhaltungsdroiden eingeführt«, erwiderte sie zögernd. »Aber gewöhnlich treten sie nur im Karaoke- Cabaret-Bereich auf. Hierüber war ich nicht informiert. Es muß in letzter Minute eine Änderung gegeben haben. Ist mir unbegreiflich, was passiert ist.« »Scheint, als wäre Ihr Droide in die Luft geflogen. Wir kön- nen froh sein, daß wir noch am Leben sind«, sagte der Ameri- kaner wütend. »Was hältst du von der Sache, Harry?« fragte einer der Kol- legen des Technikers. Eine kleine Gruppe hatte sich um die Bühne herum versammelt. Der Techniker kniete sich neben den Butoh und musterte das Loch im Kopf des Droiden. »Schwer zu sagen, Jack. Sieht so aus, als wäre sein Gehirn durchgeschmort. Aber wieso sollte es derartig explodieren? Vielleicht ein fehlerhaftes Teil. Keine Ahnung. Das wird man wohl untersuchen müssen«, sagte er. »Dieses Modell habe ich noch nie gesehen. Ich kann nicht erkennen, aus welcher Droiden-Werkstatt es stammt.« Mit fest zusammengepreßten Lippen studierte Claudia Kato die Flugkontrollanzeige, die an ihrer Hüfte festgeklemmt war. Sie brauchte eine Minute, um die Daten auf dem Bildschirm zu verdauen. Schließlich hob sie den Kopf und wandte sich an die Passa- giere. »Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, daß es an Bord eine Fehlfunktion des Systems gegeben hat. Satori-Flug 023 setzt die Reise jetzt aber ohne weitere Schwierigkeiten fort«, verkündete sie. »Allerdings hat die Flugkontrolle einen Kurs- wechsel angeordnet. Wir werden nicht wie vorgesehen auf New Narita landen. Statt dessen machen wir einen Umweg über Raumstation Sieben. Die Fluggäste werden den Einreise- formalitäten unterzogen, und Sie übernachten dort auch. Morgen früh wird Ihnen ein Shuttleservice nach New Narita zur Verfügung stehen. Wir landen in ungefähr fünfzehn Minuten auf Station Sieben. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit und Ihr Verständnis.« »Station Sieben, Mann!« Carlos zwinkerte Gobi mit seinem weit aufgerissenen rechten Auge zu. »Das wird sicher ein Mordsspaß.« Gobi hatte natürlich schon von Station Sieben gehört. Aber er hätte sich nie träumen lassen, daß er einmal dort vorbei- kommen würde. Der Latino beugte sich mit einem Taschentuch zu Gobi vor. Einen lächerlichen Moment lang glaubte Gobi, daß er ihm einen Schmutzfleck von der Nase reiben wollte. Statt dessen rupfte er etwas aus der Kopfstütze, nur Zenti- meter von Gobis Gesicht entfernt. »Ich nehme nicht an, daß Sie sich damit antörnen wollten?« Er legte das Taschentuch aus- einander und zeigte ihm, was er darin hatte. »Was zum Teufel ist das?« fragte Gobi und starrte auf den winzigen Pfeil. Für das menschliche Auge war er fast unsicht- bar. Carlos schnüffelte daran, als genösse er das Bouquet. »Hmm«, seufzte er schließlich. »Sie würden es >Schneegöttin< nennen. Das ist >fukiya<, wie man fachmännisch sagt. Verleiht einen garantiert netten und unbeschwerten Schlaf. Es funktio- niert so, daß es Ihr System stillegt, bis die alte Pumpe... Sie wissen schon, Ihr Herz, für sehr lange Zeit aufhört zu schla- gen.« Er kicherte. »Kennen Sie jemanden, der Sie so gern auspus- ten möchte, daß er einen Droiden mit einer Vorliebe für Tetro- dotoxin an Bord schmuggelt? Er hat nicht schlecht gezielt. Etwas weiter nach unten rechts, und Sie wären jetzt Sashimi.« Er hielt inne. »Ich würde sagen, der zweite Schuß hätte Sie erledigt, wenn sein Mund nicht explodiert wäre. Daraus hat er ihn abgefeuert, wissen Sie.« »Wer sind Sie, Mr. Morales?« fragte Gobi im Flüsterton, weil Claudia Kato gerade auf sie zukam. »Sagen wir doch einfach, wir haben möglicherweise ge- meinsame Interessen«, erwiderte Carlos geheimnisvoll. »Ge- nießen wir jetzt den Rest des Flugs, ja?« »Stimmt etwas nicht?« wollte Claudia Kato wissen, sah da- bei aber Gobi an. Sie warf einen kurzen Blick auf das zusam- mengelegte Taschentuch in Carlos' Hand. »Nur etwas Nasenbluten, Miss.« Carlos hielt sich das Ta- schentuch vors Gesicht und schneuzte hinein. »Nichts Ernstes. Ich bin noch heil. Nicht wie unser Freund da vorn, eh?« Station Sieben Gobi stockte der Atem, als das Satori-Shuttle sich dem rotie- renden weißen Zylinder von Raumstation Sieben näherte. Vor der reichverzierten Schwärze des tiefen Alls zeichneten sich deutlich sichtbar die von Scheinwerfern erhellten achtund- zwanzig Ebenen ab. Er hatte in seiner Ray-Bans-Datenbank den Baedeker- Eintrag aufgerufen. Die Kobayashi Corporation, einer der größten und mächtigsten postindustriellen Konzerne, hatte den Raumhafen im Jahr 2018 aus Prestigegründen erbaut. Die oberen Ebenen stellten eine genaue Nachbildung des Allerheiligsten von Osaka-jo dar, jener berühmten Burg, die der allmächtige Kampaku Toyotomi Hideyoshi, der Japan im sechzehnten Jahrhundert regiert hatte, erbauen ließ. Es gab dort ein Hotel, das Station Sieben Intercontinental, im Suntory-Buch der Rekorde als erstes Luxushotel im Erdorbit verzeichnet. Zu den dreihundertfünfzig Zimmern gehörten auch drei Konferenzräume. Besonders beliebt war es bei japanischen Hochzeitsreisenden, die sich durch die Quarantä- ne, die man über Neu-Nippon verhängt hatte, nicht davon abhalten ließen, ins Ausland zu reisen. Am bemerkenswertesten war aber vielleicht, daß Station Sieben einen legalen Zugang zu Neu-Nippon ermöglichte. Es war das einzige Entrepot, zu dem japanische Bürger tagsüber während der Matrix-Stunden Zugang hatten. Zu den Hauptattraktionen gehörten ein Weltraum- Golfkurs, heiße Quellen, die die Station umkreisten, und das Matsu, ein japanisches Restaurant im Country-Stil, dem der Michelin-Seibu vier Sterne verliehen hatte. Die Raumstation befand sich im geosynchronen Orbit, vier- hundertfünfzig Kilometer über Neo-Tokio. Der Wiedereintritt in die Erdatmosphäre per Raumtaxi dauerte fünfundvierzig Minuten. Vermutlich war das sogar noch kürzer als der Weg mit dem Maglev-Taxi von New Narita in die Innenstadt von NeoTokio. Gobi zwinkerte, und die Seite im Baedeker wurde umge- blättert. Station Sieben hatte noch eine Besonderheit. Als '26 das Megabeben zuschlug, hatte es den Direktoren von einigen der größten Keiretsus von Neu-Nippon, zumindest denen, die mit der Kobayashi Corporation verbündet waren, als Zufluchtsort gedient. Sechs Monate lang hatte ein Elitekorps aus Konzern- Daimyos und deren engsten Mitarbeitern ihre globalen Inte- ressen per Fernsteuerung von ihrer Fluchtburg im All aus wahrgenommen. Als man es für sicher befand, waren sie an Bord ihrer Flotte aus überlangen Weltraumlimousinen Marke Mitsubishi- Galaxy wieder nach Hause zurückgekehrt. Alle bis auf einen. Angeblich hatte er sich geweigert, jemals wieder den Fuß auf die Erde zu setzen. Ryutaro Kobayashi, der vierundachtzigjährige Gründer und oberste Leiter des Kobayashi-Keiretsu, war Gerüchten zufolge schon vor langer Zeit ernsthaft erkrankt. Der Kobayashi- Konzern hatte auch weiterhin einen ganzen Trakt für seinen Herrn und Meister bereitgehalten, der sich aus dreißig Suiten in den ersten drei Ebenen von Weltraumstation Sieben zu- sammensetzte. Es gab einen plötzlichen Ruck, als das Satori-Shuttle auf der Landeplattform aufsetzte. Gobi schaute durchs Bullauge und stellte fest, daß sie zum Innendeck der Raumstation abgesenkt wurden. Carlos Morales sah ihm über die Schulter. »Ganz schön großes Schiff, was?« meinte er. »Groß genug, um sich darin zu verlaufen. Ich rate Ihnen, sich unauffällig zu verhalten, solan- ge Sie hier sind. Streunen Sie nicht herum.« Er blinzelte. »Es soll schon vorgekommen sein, daß Menschen einfach ver- schwinden, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Die Türen der Luftschleuse öffneten sich, und die künstliche Luft der Raumstation durchflutete die Kabine. Claudia Kato stand an der Shuttletür und verbeugte sich auf die bei Satori Airlines vorgeschriebene Weise. Sie entbot jedem Passagier beim Hinausgehen eine Verbeugung im exakten Fünfundvierziggradwinkel. »Danke, daß Sie mit Satori Airlines geflogen sind. Wir bedauern, wenn es zu Un- annehmlichkeiten gekommen ist. Domo arigato.« Als Gobi die Tür erreichte, verbeugte sie sich wieder und flüsterte ihm etwas zu. »Bitte passen Sie auf sich auf, Dr. Gobi. Ich nehme bald Verbindung mit Ihnen auf.« Beim Aufrichten schenkte sie ihm ein mechanisches Lächeln. »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt auf Station Sieben. Ich hoffe, Sie bald wieder einmal an Bord begrüßen zu dürfen.« »Vielen Dank«, nickte er und trat aufs Deck hinaus. Er be- gab sich schnurstracks zur Warteschlange für Einreisende. Dort standen drei Männer und musterten die Passagiere, die gerade ausgestiegen waren. Einer davon trat vor, als er Gobi kommen sah. Mit seinen hohen slawischen Wangenknochen und den Mongolenaugen wirkte er wie ein Eurasier. Er war Mitte bis Ende Dreißig, schlank gebaut, und sein Teint wirkte wie verbranntes Elfen- bein, das wie japanisches Papier auf einem Shoji-Schirm aus- sah, den man zu lange der Sonne ausgesetzt hat. Seine schwarzen Augen musterten Gobi nachdenklich durch eine randlose Brille. Er trug ein maßgeschneidertes Mao-Gewand aus glänzendschwarzer Ramieseide. Seine zwei japanischen Begleiter spielten die Rolle der Muskelprotze, das war deutlich zu erkennen. Unwillkürlich folgte ihr Blick dem ihres Bosses. Einer hatte kurzgeschnitte- nes schwarzes Haar und flüsterte etwas in eine am Kragen festgesteckte Datenbank. »Dr. Gobi? Dr. Frank Gobi?« wandte der Eurasier sich mit einem Akzent an ihn, der irgendwie unbestimmbar war. Sibirisch-japanisch? Austro-vietnamesisch? Er konnte ihn einfach nicht einordnen. »Ja?« antwortete Gobi. »Den Paß, bitte.« Das war ein Befehl, keine Bitte. Schnell, knapp, methodisch. Die Annehmlichkeiten ­ oder ihr Gegen- teil ­ hatten Zeit bis später. Gobi reichte ihm seinen amerikanischen Smartport, und der Eurasier hielt ihn kurz in der Hand. Es summte positive Iden- tifizierung. Er mußte ein Strich-Code-Lesegerät in der Hand- fläche versteckt halten. Gobi bemerkte das pulsierende grüne Licht auf einem Siegelring, der das Hoheitszeichen von Station Sieben trug, das ihm schon auf dem Schiff mehrmals aufgefal- len war: ein verschlungener Drache, der die Perle der Weisheit jagt. »Ich muß Sie bitten, sich dorthin zu begeben.« Der Mann deutete zu einem nicht besetzten Zollschalter. Seine beiden Begleiter schlossen hinter Gobi auf und eskortierten ihn durch den Ausgang, dessen Türen sich automatisch öffneten. »Darf ich fragen, was das zu bedeuten hat?« erkundigte Gobi sich bei dem Eurasier. Sie waren auf einen Hof mit Stein- löwen und künstlichem Oberlicht hinausgetreten. Das Lächeln des Mannes war so kalt wie der weiße Mar- morboden. »Mein Name ist Axel Tanaka. Ich bin Sicherheits- chef hier auf Station Sieben. Ich möchte Ihnen in meinem Büro gern ein paar Fragen stellen.« »Bitte setzen Sie sich.« Axel Tanakas Büro war sauber, wirkte aber überfüllt. In ei- ner Ecke welkte ein Topffarn vor sich hin und empfing die Letzte Ölung von einer darüber angebrachten Infrarotlampe. Eine Video-Landschaft an der Wand zeigte den Mekong vor dem Hintergrund eines dichten Dschungels, der nur so von Insekten, Vögeln und kreischenden Affen wimmelte. Durchs Bullauge konnte Gobi einen Teil Ostasiens mit dem Meer von Neu-Nippon und den japanischen Inseln sehen, umrahmt vom tintenschwarzen All. Wie viele Stunden noch, fragte er sich, bis dieses Motiv wechselte? Bis auf weiteres hatte das Trugbild Bestand. »Also dann«, sagte Tanaka. Die Oberseite seines Schreibti- sches bestand aus Rauchglas. Als er sich dahinter niederließ, wurde ein Teil des Glases durchsichtig, und unter seinen Fingerspitzen erschienen mehrere Icons. Er wählte eines aus, berührte es und schob die Lippen vor, während er zu lesen begann. Er sah zu Gobi hoch. »Dr. Francis Gobi. Professor an der University of California in Berkeley, Zweigstelle Tokyo Uni- versity.« Er hob eine Augenbraue. »Para-Anthropologie? Das ist ja interessant.« »Ein neues Gebiet.« Gobi zuckte mit den Achseln. »Aber ich glaube nicht, daß Sie sich für meine akademischen Referenzen interessieren.« Der Eurasier hob die Hand. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, griff nach einem perlmuttverzierten Kästchen und hielt es Gobi hin. »Zigarette gefällig? Das sind Marlboro-Faux', >doppelt soviel Tabak, kein Nikotin<. Auf einer Kobayashi- Weltraumplantage biogenetisch gezüchtet, nur eines unserer zahlreichen Unternehmen. Falls Sie es nicht wissen sollten, Kobayashi zählt zu den zehn größten Keiretsus der Welt.« »Nein danke. Ich rauche nicht. Ich trinke nicht. Und ich kaue nicht. Wenn Sie also nichts dagegen haben...« »Geht mir genauso«, sagte Tanaka, schloß das Kästchen wieder und verstaute es. »Scheint, als hätten wir einen ähnli- chen Geschmack.« »Wo habe ich das nur schon einmal gehört?« überlegte Gobi laut. »Mr. Tanaka, ich finde, Sie sollten mir lieber sagen, was Sie auf dem Herzen haben. Ihr Büro gefällt mir. Die Aussicht ist großartig. Aber ich bin sicher, Sie haben noch genug ande- res zu tun.« »Bitte, Dr. Gobi... Es geschieht nicht oft, daß jemand von Ihrem Format unsere Raumstation besucht.« Sein Tonfall war plötzlich zuvorkommend. Er neigte den Kopf, las aber weiter in der Akte. »Ich sehe, daß Sie vor Ihrer Laufbahn als Professor...«, er sah lächelnd auf, »... Privater- mittler waren, Dr. Gobi? Stimmt das?« »Das ist ewig her«, erwiderte Gobi trocken. »Ich will nicht lange drum herum reden, Dr. Gobi. Kobay- ashi möchte Ihre Dienste in Anspruch nehmen.« Machte er Witze? Auf Tanakas Gesicht lag noch immer ein Lächeln, aber seine Miene war so ernst wie die eines Go- Spielers, der sich den nächsten Zug überlegt. Gobi lächelte zurück. »In welcher Sache soll ich denn für Sie tätig werden?« Tanakas Blick war kühl. »Man könnte es Mord nennen«, sagte er. »In manchen Kulturen würde man es so auffassen.« »Mord?« »Ja, Dr. Gobi, Mord an einem Droiden. Wissen Sie, dieser Droide im Space Shuttle... das war einer von unseren. Aus der Kobayashi-Droiden-Werkstatt in Todos Santos, Baja, Kalifor- nien. Ein fortgeschrittenes Modell, könnte man sagen. Wir sind über das, was geschehen ist, verständlicherweise beunru- higt.« »Der Droide hatte einen Kurzschluß«, entgegnete Gobi. »Der Energiestoß hat zu einem Stromausfall im Shuttle ge- führt. Eine Weile sah es ziemlich mau aus.« »Kann ich mir vorstellen«, feixte Tanaka. »Das muß ziem- lich haarig gewesen sein. Aber der Droide erlitt keinen Kurz- schluß.« »Was?« »Sehen Sie einmal hier. Das ist ein Teil der Daten, die ein Gerät an Bord aufgezeichnet hat. Sie wurden unmittelbar nach der Energieentladung automatisch an uns weitergeleitet.« Tanaka schwang sich samt Sessel herum und zielte mit ei- nem Infrarot-Beamer auf das Wandvideo. Der Mekong ver- schwand, und Gobi blickte auf die verschwommenen weißen Konturen der Kabine des Space Shuttles. War seit den Ereig- nissen wirklich erst eine Stunde vergangen? »Das ist der Augenblick des Energiestoßes«, erklärte Tana- ka. »Sicher, die Details sind nicht ganz deutlich. Aber unserer Analyse nach hat sich folgendes zugetragen.« In einem Insert erschienen einige Zahlen, gefolgt von Quer- schnitten durch das Satori-Shuttle, das sich um eine dreidi- mensionale Achse drehte. »Das ist das Bild eines Neuronenstoßes, der sich durch die Kabine bewegt«, sagte Tanaka. Er klickte zweimal auf seinen Infrarot-Pointer. »Das Epizentrum des Strahls liegt eindeutig im Kopfbereich des Droiden. Sehen Sie?« Gobi sah einen elektromagnetischen Wirbel, der wie eine orange-braune Wolke über dem weißen Schädel des Butoh- Tänzers schwebte. »Aber die eigentliche Quelle der Emission ­ das, was den Neuronenstoß auslöste, Dr. Gobi ­ befindet sich woanders in der Kabine.« »Und das heißt?« wollte Gobi wissen. »Jemand hat den Droiden gezappt. Seinen Kopf zur Explo- sion gebracht. Mit einem ferngesteuerten Chi-Blaster.« »Sie meinen, er wurde neutralisiert?« »Neutralisiert, Dr. Gobi? Eine sonderbare Formulierung, die Sie da verwenden.« Tanaka sah ihn seltsam an. »Das Eigenar- tige ist, daß der Strahl, soweit wir feststellen können, irgend- wo zwischen der siebten und zwölften Sitzreihe ausgelöst wurde.« »Ach ja?« »War das nicht der Bereich, in dem Sie saßen?« Er stand unter der Dusche, deren Strahl heftig auf ihn herab- prasselte. Seine Gedanken wirbelten durcheinander wie wech- selhafte Strömungen. In Ordnung, Gobi, sagte er sich und schüttelte das Wasser vom Gesicht. Zeit, sich was einfallen zu lassen. Spül die linke Gehirnhälfte aus. Jemand hat dich zu töten versucht. Beweisstück A: der Pfeil mit der Giftspitze. Wie hat dieser silbergesichtige mexikanische Yakuza ihn doch gleich genannt, einen >fukiyaChadu-wicku< nach, meine Liebe, dann haben Sie vielleicht mehr Glück.« Die Hosteß zog ein spitzenbesetztes Taschentuch aus dem Ärmel ihres Kimonos und fuhr sich damit über die Stirn. Der Engländer schien Anfang Sechzig zu sein. Mit seinen ein Meter neunzig stand er leicht vorgebeugt da. Sein Teint wirkte sonnengebräunt, und die weißen Koteletten wuchsen ihm wie ein Paar Mokassins aus den Schläfen. Sein ergrauen- des Haar war achtlos nach hinten gekämmt und enthüllte eine gefurchte Stirn, eine lange Adlernase und braune Augen, die einen mit dem traurigen Blick eines Cockerspaniels an- schmachteten. Als er lächelte, kam eine Lücke zwischen seinen gelb ver- färbten Zähnen zum Vorschein. Nikotin aus dem vorigen Jahrhundert, folgerte Gobi. Wahrscheinlich stammte auch seine Safarikluft aus der Zeit. »Mein Name ist Chadwick«, sagte der Engländer und streckte Frank Gobi die Hand hin. »Simon ­ für Sie und die junge Dame. Alles paletti, meine Liebe?« Er nickte Claudia zu. »Ich finde diese Vier- und Fünf-Sterne-Lokalitäten immer so schrecklich versnobt, Sie nicht auch? Wenn man nicht mindes- tens fünfzehn Stunden im voraus reserviert, machen sie einen unglaublichen Aufstand, und ständig erwarten sie, daß man >angemessen gekleidet< erscheint, was immer das heißen mag.« Chadwick schnaubte verächtlich. »Ich persönlich weiß ja immer erst in letzter Minute, wo ich essen will. Und lieber stoße ich mir einen Knochen durch die Nase, als daß ich eine schwarze Krawatte trage. Ich finde, alle Restaurants sollten einen Bereich für Nudisten haben. Ich meine, wieso nicht? Es gibt auf der Welt immer mehr nackte Menschen. Das ist dis- kriminierend.« Chadwicks Augen weiteten sich. »Sagen Sie, Sie beide sind wohl auf Hochzeitsreise? Eine ganze Schiffsladung von Ihres- gleichen ist mit dem Mittagsshuttle von... Sie wissen schon«, flüsterte er, »von da unten gekommen.« »Oh, ich bin übrigens Reiseschriftsteller«, fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Chadwicks Besonderer Reiseführer und die Lobby Review. Das ist eine Zeitung, in der Kritiken über die ungewöhnlichsten Hotelfoyers der Welt erscheinen. Darum bin ich auch hier oben auf Station Sieben. Ein Auftrag, verstehen Sie? Vielleicht haben Sie schon mal die eine oder andere meiner Sonderausgaben zu Gesicht bekommen? Hier, bitte.« Locker holte er einige Ausgaben im Westentaschenformat aus seiner Safarijacke und reichte Claudia mehrere Broschü- ren. Eine trug den Titel Die Verwendung der Tundra als Motiv im Foyer des Hilton Irkutsk. Eine andere hieß Fetische im Togo Sofitel. »Ich bringe sie noch auf die altmodische Art heraus«, er- klärte Chadwick. »Desktop-Publishing. Ich fürchte, ich bin der letzte einer aussterbenden Zunft. Heutzutage ist alles so ver- dammt virtuell. Virtuell hier, virtuell da. Die Leute scheinen immer mehr dazu zu neigen, schlechterdings alles zu ver- menschlichen.« Er spuckte aus. »Man könnte meinen, ein Taschenbuch wäre nichts weiter als eine gebundene Ausgabe in kurzen Hosen!« Er erhitzte sich sichtlich. Claudia wechselte mit Gobi einen amüsierten Blick. Gobi verdrehte die Augen. »Vielen Dank«, sagte Claudia, als sie die Exemplare entge- gennahm. »Das sieht ja wirklich sehr interessant aus. Ich bin mit Ihrer Arbeit nicht vertraut, Mr. Chadwick, aber ich werde es wohl bald sein.« Claudia sprach in schnellem Japanisch mit der Hosteß, die daraufhin nickte und sich verbeugte. Zwei Speisekarten erschienen in ihrer Hand, als sie die bei- den an einen Tisch führte. »Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis man Ihnen einen Platz zuweist, Mr. Chadwick ­ auch ohne Reservierung.« Claudia lächelte ihm im Vorbeigehen zu. »Ich habe die Sache für Sie erledigt.« »Alle Wetter!« Der grobklotzige Engländer stellte sich auf die Fersen. »Erstaunlich.« Bald hatten Claudia und Gobi in einem abgeschiedenen Win- kel dessen, was ursprünglich einmal ein japanisches Restau- rant aus dem zwanzigsten Jahrhundert war, auf alten Tatami- matten an einem klapprigen Tisch Platz genommen. Auf der Rückseite der Speisekarte stand in englischen und japanischen Schriftzeichen die Legende des Matsu, derzufolge das Mobiliar einmal Stück für Stück von einer Insel im Bin- nenmeer hierhergebracht worden sei. »Stell dir vor, daß es all das hier im Weltraum gibt, Hunder- te von Kilometern über Neo-Tokio«, sagte Claudia und ließ die Beine unter den Tisch gleiten. Ihre Füße berührten sich, und sie lächelten einander an. »Wirklich unglaublich«, stimmte Gobi zu. Eine Kellnerin mit roten Wangen, die wie ein Mädchen vom Land in weite blaue Mompei-Hosen gekleidet war, brachte dampfende Handtücher. Gobi atmete die Wärme ein, als das aufgelegte Tuch die Poren seines Gesichts öffnete. Er sah zu ihr hinüber. »Nun, Claudia. Willst du es mir jetzt nicht sagen?« Claudia zog eine der Haarnadeln aus ihrem Haar und legte sie auf den Tisch. »Uns liegen Informationen vor, wonach Harada, der Vorsit- zende der Satori Corporation, irgendwo hier auf der Station festgehalten wird«, sagte sie. »Möglicherweise in einer Suite auf der achtundzwanzigsten Ebene, das ist Ryutaro Kobayas- his privates Stockwerk. Diese Bereiche sind für die Öffentlich- keit verboten.« »Gibt's eine Möglichkeit, das zu klären?« »Hier kommst du ins Spiel.« »Was erwartest du von mir?« »Wir möchten, daß du diese Information bestätigst, indem du Verbindung mit Mr. Harada aufnimmst.« »Wie?« »Durch telepathischen Kontakt.« Claudia musterte ihn. »Kannst du das?« Er sah sie fest an. »Ich bin mir nicht sicher.« Ungeduldig trommelte Claudia mit den Fingern auf den Tisch. »Aber du gehörst zu den Besten. Darum hat Satori dich doch angeworben, oder?« »So einfach ist das nicht«, sagte Gobi. »Ein solcher Kontakt hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zum Beispiel von seinem geistigen und körperlichen Zustand. Ob er unter Beruhigungsmitteln steht oder nicht, und falls ja, welche Art Drogen sie bei ihm verwenden. Das hätte bestimmte Auswir- kungen auf seine Gehirnwellen. Manche Drogen sind leichter zu durchdringen als andere.« Er fuhr fort, laut zu denken. »Außerdem ist die physikali- sche Umgebung wichtig. Wo man ihn festhält ­ und ob es um ihn herum ein aktives Störfeld gibt.« Gobi hielt inne. »Wenn ich bestätigen kann, daß es sich bei der Person in dieser Suite wirklich um Harada handelt, wie wollt ihr ihn dann herausholen?« »Frank«, sagte sie sehr ruhig. »Es gibt noch etwas, was du wissen solltest.« »Und das wäre?« »Wenn man Mr. Harada hier gefangenhält, dann könnte es schwierig werden, ihn rechtzeitig herauszuholen. Das müßte vielleicht bis später warten.« Sie spielte mit dem Oshibori-Waschlappen, der inzwischen kalt geworden war, legte ihn zusammen und faltete ihn wie- der auseinander. »Was soll das heißen, es könnte schwierig werden, ihn rechtzeitig herauszuholen? Rechtzeitig für was?« Sie blickte auf. »Uns bleiben wahrscheinlich keine achtund- vierzig Stunden mehr, um die abgestürzten Sektoren von Virtuopolis wieder in Schuß zu bringen. Wenn das System bis dahin nicht wieder läuft, riskieren wir, daß die Benutzer, die noch online sind, für immer abgetrennt werden. Zur Zeit hält ein Backupsystem die Neuronenverbindung noch aufrecht. Sie befinden sich jetzt in Warteposition. Aber das System hält nicht lange durch.« »Nur achtundvierzig Stunden?« Gobi sah sie blöde an. »Tut mir leid, Frank«, sagte sie leise. »Ich weiß, daß zu den Personen, die in Gametime festgehalten werden, auch dein Sohn gehört.« »Was können wir schon tun?« erwiderte Gobi mit harter Stimme. »Mir scheint, daß achtundvierzig Stunden uns nicht besonders viel Zeit lassen. Oder?« »Etwas können wir tun, Frank«, flüsterte sie und beugte sich zu ihm vor. »Das heißt, nur du kannst es tun.« Gobi hatte das Gefühl, zu wissen, was jetzt kommen würde, und er konnte nichts dagegen tun. Sie hatten ihn genau da, wo sie ihn haben wollten. »Bon appetit auch!« ertönte die Stimme mit dem englischen Akzent. »Ihr zwei Turteltauben seid gerade mittenmang, was? Tut mir leid, wenn ich störe.« Gobi und Claudia blickten erschreckt auf. Simon Chadwick folgte gerade der japanischen Hosteß, die ihn zu einem Tisch im hinteren Bereich des Restaurants führte. »Danke, daß Sie ein gutes Wort für mich eingelegt haben.« Der Engländer lächelte Claudia an. »Man hat mir einen bezau- bernden Tisch am Fenster versprochen. Angeblich soll die Sicht auf Neu-Nippon von hier oben aus absolut unvergeßlich sein. Viel Spaß auch noch!« Das Allerheiligste Auf der vierzehnten Ebene von Station Sieben öffnete sich die Lifttür, und Claudia und Gobi traten auf eine lichtüberflutete Teermakadamfläche hinaus, die von einer riesigen durchsich- tigen Blase umgeben war. Grüne Netze warfen wie interstella- re Spinnennetze gewaltige Schatten auf das hellerleuchtete Deck der Hallen-Drivingrange. Ungefähr ein Dutzend Hoch- zeitsreisende in grüner Koyabashi-Freizeitkleidung übten in den Schlagbuchten ihre Schwünge. Der Klang ihrer weite Parabeln beschreibenden Golfbälle war ein langgezogenes Whack!, das in der klimatisierten Umgebung widerhallte. An der Sportbar schlürften Gobi und Claudia ein Mineral- wasser und sahen mehreren Golfern in Raumanzügen zu, die sich hinter der Riesenblase ruckartig bewegten. An ihren Gürteln waren kleine Sauerstofftanks befestigt, und ihre weißen Gesichter in den Helmen waren beleuchtet. Weltraum- caddies folgten ihnen mit Reißverschlußtaschen, die die Schlä- ger enthielten. Sie hörten ein Plopp!, wenn die hydraulischen Schläger auf Hochgeschwindigkeitsbälle trafen und sie auf die schweben- den schwarzen Löcher zuschleuderten. »Ein Wunder der Ingenieurskunst«, erklärte Claudia. »Das hier ist der erste Golfkurs, der jemals im Weltraum angelegt wurde. Diese Löcher sind kreisende Müllverdichtungseinheiten, die schwarze Löcher simulieren sollen. Sie verzehren alles, was man in sie hineinwirft, auch Abfall.« »Daß wir uns richtig verstehen«, sagte Gobi grimmig und wechselte das Thema. »Du willst also, daß ich Haradas Be- wußtsein herunterlade und es anschließend auf ein anderes Medium übertrage?« »Das hast du doch schon mal getan. So schwierig dürfte es nicht sein.« Claudia drehte sich auf dem Barhocker zu ihm um und sah ihn an. »Oder?« »Wie gesagt, es hängt ganz davon ab, wieviel Material her- untergeladen wird. Das Bewußtsein eines Dorftrottels dürfte nicht weiter kompliziert sein. Bei Harada bin ich mir nicht so sicher. Er soll ein Genie sein.« »Uns interessiert nur eins.« »Und das wäre?« »Wir brauchen den Ordnungsbegriff, der verwendet wurde, um den Quellcode für Satori City 2.0 zu entschlüsseln. Vorsit- zender Harada hat ihn. Er ist unser >missing link<, Frank. Besorg ihn uns, und wir können Virtuopolis durch einen Sprungbefehl starten. Auf die Weise kommen alle frei. Auch dein Sohn. Alle.« Claudia ließ das Eis in ihrem Glas klirren. »Der Ordnungs- begriff umfaßt sechzehn Zeichen. Wir haben schon jede er- denkliche Kombination ausprobiert. Aber es klappt nicht. Wir müssen ihn aus erster Hand bekommen.« Gobi starrte sie an. »Das wäre, als wollte man eine Nadel in einem Heuhaufen suchen.« »Du kannst es schaffen, Frank.« Gobi sah zu, wie die Golfer und ihre Caddies wieder zum Raumschleusenbereich schwebten. Sie kehrten ins Innere zurück. Hinter ihnen umschloß ein riesiges grünes Netz den schwerkraftfreien Zehn-Acre-Kurs und verankerte ihn am Mutterschiff. »Wie habt ihr es herausgefunden?« fragte er sie. »Was herausgefunden?« »Worüber ich forsche. Es sollte eigentlich geheim sein.« »Die Satori Corporation hat sich schon immer für DNI inte- ressiert. Direct Neural Interfacing ist der nächste Schritt. Du warst eine der Personen, die es zu beobachten galt, ein auf- strebender Experte auf dem Gebiet. So lang war die Liste nicht. Vielleicht verleiht man dir für deine Verdienste um die Meta- wissenschaften eines Tages sogar den Nobelpreis. Würde dir das nicht gefallen?« Gobi ignorierte die Schmeichelei. » Wie seid ihr hinter mei- ne Forschungsergebnisse gekommen?« Claudia lächelte. »Wenn ich's dir verrate, kooperierst du dann mit uns?« Sie hielt kurz inne. »Na schön, ich spanne dich nicht länger auf die Folter. Wenn du's wissen willst, sag ich's dir.« »Ich bin ganz Ohr.« »Schon mal was von einem Fujimura gehört?« Der Groschen fiel nicht. Gobi schüttelte den Kopf. »Nein, wer ist das?« »Ich fürchte, er weilt nicht mehr unter uns«, erwiderte Claudia. »Er ist ins Große Jenseits eingegangen.« Fujimura? Natürlich. Ein junger japanischer Student, der an fortgeschrittener Leukämie gelitten hatte. Er war ins Arbore- tum gekommen und hatte eigens darum ersucht, Gobis Hei- lungszirkel beitreten zu dürfen. Und als es schließlich soweit war, hatte er Gobi gebeten, ihm auf der Reise durch die Bardos der postmortalen Ebene behilflich zu sein. Fujimura war einer der ersten gewesen, die Gobi erfolgreich heruntergeladen hatte. »Wie ich sehe, erinnerst du dich jetzt an ihn«, bemerkte Claudia. »Er hat für uns gearbeitet, Frank. Er war Freiwilliger. Du hast bei ihm gute Arbeit geleistet. Er läßt dir danken.« »Wie habt ihr davon erfahren? Ich war bei seinem Tod bei ihm. Er kann euch nichts gesagt haben.« »Primitive Technologie, fürchte ich«, erwiderte Claudia. Wir haben eine Ouija-Platine verwendet, um mit ihm zu kommunizieren. Er hat uns bestätigt, daß du ihn herunterge- laden hast. Nun weißt du's. Los, trink aus. Wir sollten besser anfangen. Es sind keine Golfer mehr auf dem Kurs. Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, um zu tun, weswegen wir gekommen sind.« »Schau, Frank«, wandte Claudia sich gutgelaunt an ihn. Sie hatte einen Arm bei ihm untergehakt, eine Touristin, die ihm von der Aussichtsplattform aus die Sehenswürdigkeiten von Station Sieben zeigte. »Ryutaro Kobayashis Privatbüros befinden sich auf Ebene sechsundzwanzig und siebenundzwanzig. Seine Privatapart- ments befinden sich auf Ebene achtundzwanzig. Siehst du die rosa erleuchtete Fensterreihe? Dort wohnt er. Er soll da oben eine ansehnliche Kunstsammlung haben.« Claudias Gesicht strahlte, doch ihre Stimme blieb leise. »Wir nehmen an, daß man Harada auf Ebene achtundzwanzig festhält. Siehst du die vierte Suite von hinten auf der linken Seite des Zylinders? Das ist sie. Suite 2802.« Sie machte eine Pause. »Dorthin geht's also, wenn wir erst in den Anzügen stecken.« Gobi wurde plötzlich blaß. »Augenblick mal. Wir verlassen doch wohl nicht den Golfkurs, oder?« fragte er entsetzt. »Ich hatte dich so verstanden, daß wir versuchen wollten, die Neuronenspuren aus dem Inneren des Bereichs heraus aufzu- fangen?« »Keine Sorge, du wirst nicht ins All abgetrieben«, versicher- te ihm Claudia. »Dagegen werde ich was unternehmen.« Sie tätschelte ihm die Hand. »Entspanne dich, Frank. Das hier ist ein Urlaubsort, kein Gefängnis. Es gibt hier keine Stangen oder Mauern mit Natodraht obendrauf. Wir können uns ganz leicht an der Peripherie absetzen, ohne entdeckt zu werden. Wir zwängen uns am anderen Ende durch, wo das Netz am Schiff verankert ist. Es wird fast genauso sein, als schlüpfte man unter einem Volleyballnetz hindurch«, strahlte sie. »Du wirst schon sehen.« »Ich bin noch nie mit Flaschen getaucht, geschweige denn, daß ich einen Raumspaziergang gemacht hätte.« »Alles wird gutgehen, ich versprech's dir. Du lädst Harada herunter, übergibst ihn mir, und von da an übernehme ich.« Sie ergriff seine Hand. »Anschließend verbringen wir einen herrlichen, entspannten Abend zusammen, Frank. An Bord gibt es ein wunderbares Spa mit kreisenden heißen Quellen. Ich massiere dich sogar. In Massagen bin ich ganz groß.« Er spürte ein vertrautes Kribbeln im zweiten Chakra. Dort hatte sie sich ihm eingeprägt. »Na komm«, sagte sie und schlang den Arm um seine Hüf- te. »Wieso spielen wir nicht eine Runde Golf?« Sie lächelte. »Wer weiß, vielleicht schlägst du sogar einen Ball direkt ins Loch?« Gobi und Claudia wurden beide mit ultraleichten blauen Kobayashi-Raumanzügen ausgestattet. »Ich gehe zum ersten Mal raus«, gestand Gobi dem Mann hinterm Schalter, der ihnen die Tasche mit den Schlägern aushändigte. »Ich habe noch nie Raumgolf gespielt.« »Anfängerglück!« versicherte ihm der junge Japaner in wei- ßem T-Shirt und weißer Hose. »Befolgen Sie nur die Vorschrif- ten. Bleiben Sie innerhalb des Kurses. Schalten Sie das Funkge- rät nicht aus. Taucht ein Problem auf, dann schicken wir Ihnen sofort einen Rettungsastronauten. Heute ist Kondo-san dran.« Der junge Mann nickte in Richtung eines athletisch wirkenden Japaners im schwarzen Raumanzug mit zweizehigen Tabi- Fußenden. »Er ist unser bester Lebensretter. Neh, Kondo-san?« Der junge Mann lachte. Kondo grunzte etwas auf japanisch, dann drehte er sich um und ging davon. »Netter Bursche«, meinte Gobi. Der Mann hinter dem Schalter lachte. »Er ist die Nummer eins unter den Schwarzgurtträgern im All. Null problemo!« »Ich glaube, wir sind soweit«, sagte Claudia und nickte zur Schleusenluke. »Gehen wir, Frank.« Der Japaner rief ihnen etwas nach. »Bitte denken Sie daran, daß der Sauerstoff im Tank nur für fünfundvierzig Minuten reicht. Bleiben Sie nicht länger als eine halbe Stunde, okay? Viel Vergnügen.« Nachdem der Weißgekleidete sie ermahnt hatte, legte er einen Hebel hinter dem Schalter um, und zischend öffnete sich die Raumschleuse. Claudia und Gobi setzten ihre schwarzge- färbten Kugelhelme auf, verriegelten sie und gingen in die Wartekammer. Claudia gab dem Mann ein Zeichen mit dem Daumen. Die Schleusentür öffnete sich, und sie traten in die funkelnde Schwärze des Weltraums hinaus. Claudia schwebte zuerst. Gobi folgte ihr. Plötzlich war er ungemein aufgeregt. Ein merkwürdiges Gefühl der Erinne- rung stieg in ihm auf. Schwerelosigkeit muß sehr buddhistisch sein, entschied er. Man kann darin navigieren wie in der Leere. Er kicherte. Wer weiß, vielleicht war ich in einem früheren Leben ja einmal Kosmonaut? Claudia wandte sich um. »Alles in Ordnung, Frank?« Sie musterte seine Bewegungen. »He, du bist ein Naturtalent!« »Bereit zum Surfen.« Gobi grinste und trieb neben sie. »Wir üben erst einmal ein paar Schläge im Aufwärmbereich da drüben bei zwei Uhr«, sagte Claudia für jeden, der mögli- cherweise gerade auf ihrem Kanal mithörte. Dann deutete sie in die entgegengesetzte Richtung, dorthin, wo das grüne Netz am Schiff verankert war. Gobi blickte auf. Hinter dem riesigen treibenden Netz nah- men sich die zylindrischen Speichen von Station Sieben wie ein Überseeschiff aus, neben dem sie wie Überlebende in einem Rettungsboot wirkten. Er sah das sanfte Leuchten von Kobayashis Privatapartment in der achtundzwanzigsten Ebene. Und da geschah etwas in ihm, ein Prozeß, den er nicht erklären konnte. Es war neu für ihn. Ein unangenehmer Adrenalinstoß begann durch sein Nervensystem zu rasen. Er fühlte sich grau und klebrig an, wie Spinnengewebe, das von einem Ast baumelt und sich einem übers Gesicht legt. Dann begriff er. Das waren Daten. Sie sickerten in sein Be- wußtsein ein. Er empfing von irgendwoher ein Signal, aber es war zu schwach, um es entschlüsseln zu können. Versuch's mit Hibernationsatmung, sagte er sich. Er fing an, sehr flach und tief zu atmen, wie Meister Yang es ihn gelehrt hatte. Unwillkürlich begann sich sein Herzschlag zu verlang- samen. Seine Energien sammelten sich zusehends an einer winzigen Stelle im Solarplexus. Absolute Erhaltung des Chi, Gobi. Dann kann dein Shen den Körper verlassen und reisen. Nun befand er sich in einem veränderten Arbeitsmodus. Sein Bewußtsein ging ihm voraus wie ein Indianerscout auf einer astralen Ebene. Er sah sich um. Dann hörte er die Stimme, anfangs noch lei- se, aber sie klang vertraut, und er erkannte sie wieder. Es war die Stimme seines Shen. Der Weg ist frei. Aber vor dir liegt das Böse. Welches Böse? fragte Gobi sein Shen. Aber sein Shen, das ihm inzwischen weit voraus war, antwortete nicht. Das war eines der Probleme bei dieser Art Yoga. Es gab einen Raum- zeitunterschied zwischen den höheren und den niedrigeren Ebenen. Meister Yang hatte ihm gesagt, daß man zwölf Jahre angemessenen Trainings brauchte, um das Kata zu perfektio- nieren. Claudia winkte ihn weiter. Es erstaunte ihn, wie leicht er bereits mithalten konnte. Anfangs war er immer in die falsche Richtung abgetrieben, aber er lernte schnell, wie er im Meer der Leere navigieren mußte. Nicht lange, und sie erreichten die äußere Begrenzung des Kurses. Eine rasche Überprüfung ergab, daß das Sicherheits- netz relativ einfach konstruiert war. Es wurde von einem Drahtseil gehalten, das zu Ringen führte, die über die ganze Länge und Breite des Schiffs hinweg in die Hülle von Station Sieben eingelassen waren. Wenn man das Netz anhob, dann konnte man leicht mit dem ganzen Körper drunter durchschlüpfen ­ und schon war man draußen. Claudia befestigte ihre Golftasche an einem der Ringe. Dann holte sie tief Luft, zog ihren Körper zusammen, zappelte wie ein Fisch im Netz und flutschte zur anderen Seite hin- durch. Als sie sich erhoben, verschmolzen ihre Körper mit dem Schatten des Weltraums. Gobi folgte Claudias Beispiel und aktivierte die magneti- schen Handgelenk-Skates, die sie ihm gegeben hatte, und führte sie über die Oberfläche des Schiffes. Was für ein seltsa- mes Gefühl! Es war, als hätte man Maglev-Schienen, die es einem ermöglichten, in jede beliebige Richtung zu skaten, ohne den Kontakt zu verlieren und in die Tiefen des Welt- raums abzudriften. Als sie halb oben waren, begann er das Signal wieder aufzu- fangen, jenes, das er schon einmal gehört hatte. Sein Shen leitete die Stimme an ihn weiter. Es war der Laut einer Sirene, die ihn von einem fernen Ort jenseits des Weltraumwindes aus rief. Ihn lockte. Er spürte ein Kribbeln in den Armen und Beinen, im Rumpf. Die Kopfhaut prickelte im Innern des schwarzen Kugelhelms. Auf Claudias Gesicht lag ein Ausdruck der Verblüffung, als Gobi sie auf dem Weg nach oben überholte. Er glitt an mehre- ren Etagen von Hotelzimmern vorbei. In einem davon sah er ein nacktes Pärchen, das sich auf dem Bett liebte, in einem anderen einen traurig dreinblickenden Mann, der allein in einem Louis-XIV.-Stuhl saß. In einer Suite hatte man das Holoset angelassen, obwohl der Raum leer war. Die Spielfigu- ren schwebten im Raum wie lebende Bilder, wie eine Familie von Geistern, die darauf warteten, daß die Bewohner zurück- kehrten. Gobis Pulsschlag beschleunigte sich. Es brach sich allmäh- lich Bahn. Er hörte die Musik schon ganz deutlich. Sie stand am Fenster und erwartete ihn mit ausgestreckten Armen. Eine Frauengestalt, ganz in Weiß. Ihre Augen waren wie gläserne Vakuumröhren, die lebhaft blitzten. Ihr Haar hatte die Farbe von Kupfer, und auch ihr Gesicht war kupferfarben. Ihr Ge- wand floß in tiefen griechischen Falten um ihre Schultern. Gebannt verharrte er auf der anderen Seite des Glases. Als ihre Augenfarbe zu Grün wechselte, wurde ihr Gesang zu einer Botschaft, die sich spiralförmig durch die Ewigkeit bewegte. Die Musik bestand vollständig aus pastellfarbenen geometrischen Symbolen, die schlagartig in seinem Hirn- stamm aufblitzten. Etwas wurde heruntergeladen. Eine enorme Datenflut, die irgendwo tief in seinem Schädel explodierte. Welche Informationen der Gesang auch enthalten haben mochte, zur Zeit konnte er sie nicht einmal ansatzweise erfas- sen. Sie waren entschieden nonverbal. Es gelang ihm nicht, sie auf eine sprachliche Ebene zu bringen, geschweige denn rational zu verstehen. Aber er wußte, daß man sie aktivieren konnte. Korrektur: Er wußte, daß sie sich zum richtigen Zeitpunkt selbst aktivieren würden. Claudia war neben ihm. Sie spähte ins Fenster, um zu erfah- ren, was ihn so sehr in seinen Bann gezogen hatte. Die Frau in Weiß war verschwunden, das Zimmer leer. Claudia verzog das Gesicht, was soviel hieß wie: Vergeuden wir nicht unsere Zeit! Dann warf sie ihm einen erstaunten Blick zu, als sie den entrückten Ausdruck in seinen Augen sah. Alles in Ordnung? Aber Gobi folgte inzwischen seinem Shen. Er war bereits dort und näherte sich den oberen Ebenen der Raumstation, in denen Ryutaro Kobayashi sein Keiretsu-Hauptquartier unter- hielt. Er hörte, wie sein Shen mit innerer Stimme sprach: In denen dich das Böse erwartet. Sie hatten das Allerheiligste von Kobayashis Burg erreicht. Anders konnte man es nicht ausdrücken. Es gab hier sogar eine Art Burggraben. Dabei handelte es sich um eine breite, ausgezackte Vertiefung, die streunende Meteore, die Kobayashis Allerheiligstes zu zerstören drohten, abfangen und umlenken sollte. Das geschwungene Gesims des Turms mit seinen vergolde- ten Ziegeln vermittelte den Eindruck einer japanischen Burg des sechzehnten Jahrhunderts im All. Die Fenster von Kobay- ashis Apartment waren von befestigten Eisenkeramikbalken geschützt, die nicht nur einem Meteoritenschauer, sondern auch massivem Laserfeuer standhalten konnten. Oben die Burg, unten das Dorf mit seinen Hotelsuiten, Lä- den und Restaurants. Es handelte sich um eine mittelalterliche Stadt dreihundert Kilometer über der Erde. Gerade wollte Claudia den Burggraben in Richtung sechs- undzwanzigste Ebene überqueren. Gobi packte sie an der Schulter und schüttelte den Kopf. Verdutzt schüttelte sie den ihren. Was ist denn jetzt schon wieder? Gobi deutete auf den Hauptturm. Zu beiden Seiten des Gie- beldachs warteten mit höhnisch verzogenem Mund zwei koreanische Wasserspeier darauf, daß ihnen Eindringlinge in die Falle gingen. Hateya. Söldnerwächter eines alten und mächtigen Bestiariums, teilte Gobis Shen ihm mit. Gefahr. Aber noch nicht das Böse. Dem begegnest du erst auf der anderen Seite. Wieder schüttelte Claudia den Kopf. Sie begriff nicht. Gobi bedeutete ihr: Paß auf. Er griff in die Velcro-Tasche seines Raumanzugs, in der sich die Ersatzgolfbälle befanden. Er holte zwei davon heraus und aktivierte die Sprengzünder. Dann visierte er das Hauptfens- ter von Ryutaro Kobayashis Apartment an und warf die bei- den Bälle mit aller Kraft. Claudia erschrak. Was machst du da? Die Bälle flogen ins Umfeld von Kobayashis Palast. Einen Augenblick später verpufften sie zu rauchenden Wölkchen. Ganz klar, die Hateya-Wasserspeier waren in Aktion getreten und hatten durch die offenen Münder Laser abgefeuert. Zum ersten Mal loderte Entsetzen in Claudias Augen auf. Mehrere Schichten unter der lackierten Coolness erfüllte sie Angst. Gobi empfing inzwischen Daten aus einem anderen Be- reich. Eine pastellfarbene geometrische Scherbe tanzte vor seinen Augen. Er erkannte sie als Teil der Daten, die die Frau in Weiß zu ihm heraufgeladen hatte. Er studierte sie. Es war das Hologramm eines Infrarotbeobachtungsinstruments. Damit konnte er analysieren, wie der Mechanismus der beiden Hateya-Wächter funktionierte. Er sah die Laserauslösung in den verzerrten Mündern. Gut, man konnte sie also entwaffnen. Jetzt wußte er, was zu tun war. Er brach Teile des Hologramms ab. Es war digital form- bar. Rosafarbene, aufgedunsene Teile flüssigen Gels lösten sich und trieben dahin wie Quecksilber. Er formte zwei Bälle daraus. Den Blick auf die Bestien gerichtet, schickte Gobi die Ku- geln hastig zu den Hateya. Sobald sie dort ankamen, zerfielen sie wie spröde Spachtelmasse und verstopften die Abschuß- mechanismen. Aus Claudias Sicht wirkte Gobi, als vollführte er eine lä- cherliche Pantomime. Ein Noh-Tanz zur Unzeit. Wieder schüttelte sie den Kopf. Was machte er da nur? Das unsichtbare Hologramm, das vor Gobis Gesicht tanzte, wurde allmählich größer. Dann bildete es zwei parallele Linien, nach denen er griff. Entsetzt sah Claudia, daß Gobi den Sicherheitsverschluß seines Haltestricks öffnete und über den Burggraben hinweg zu Kobayashis Ebenen hinübertrieb. Sie erwartete, daß das Laserfeuer seinen Körper jeden Mo- ment in seine Atome auflöste. Aber die Waffen der Hateya schwiegen, und Gobi schwebte über den Graben hinweg. Jetzt befand er sich auf der anderen Seite des Burggrabens im inneren Bereich der Burg, unmittelbar vor den langen, vergit- terten Fenstern von Kobayashis Apartment. Das Hologramm knisterte. Er folgte der Anweisung und wandte sich nach links. Seine Augen befanden sich auf einer Höhe mit der Fensterbank. Nichts. Ein leeres Büro mit einer Wand voll blinkender Computer. In einem anderen Raum, einer Lounge, sah er mehrere Techniker von Kobayashi sitzen, grünen Tee trinken und miteinander schwatzen. Als er sich weiterbewegte, erspähte er lange dunkle Korri- dore mit Scheinwerfern, die Gegenstände in gläsernen Schau- kästen beleuchteten. Die Rüstung eines Samurai, komplett mit Schwert, Helm und Schutzmaske, auf der ein Schnurrbart aus weißem Roß- haar prangte. Ein blaßgrüner Krug aus der Tang-Dynastie. Eine zweitausend Jahre alte Plastik aus der Jomon-Zeit, deren leere Augen starr geradeaus schauten. Andere, moderne Kunstgegenstände. Gemälde. Ein Matisse. Ein de Kooning. Ein Jackson Pollock. Picasso. Halt mal. Dieser Kasten genau dort am Fenster, nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Damit stimmte doch etwas nicht. Einen Augenblick lang war er sich unschlüssig. Er enthielt drei Glasregale mit Reihen von Netsukes, kleinen Figuren aus Elfenbein. Nur daß die hier gar nicht aus Elfenbein bestanden. Es han- delte sich um kleine Speichergeräte für Archivdaten, die Netsukes nachempfunden waren. Hier ein Oni, ein Dämon mit Krabbenscheren, dem das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand. Dort ein Asket auf einem Lotusblatt mit einem Dämon. Ein Wildschwein, das in einer Falle festsaß. Eine Ratte. Ein im Netz zappelnder Fisch... Plötzlich begriff Gobi. Mein Gott, das sind ja menschliche Psy- chen, die man ausgestellt hat! Jetzt sprach sein Shen, ruhig und unvoreingenommen. Gobi mußte sich in Erinnerung rufen, daß Objektivität für das Shen von höherer Priorität war. Es bedeutete nicht mangelnde Sensibilität. Es spiegelte bloß die Distanz zwischen den astra- len und den mentalen Ebenen wider. Bei dem hologrammatischen Algorithmus, den du auf dem Weg hierher empfangen hast, handelt es sich um ein subatomares Dienst- programm. Verwende es dazu, um dieses Böse zu entschlüsseln. Ja, das Böse hat seinen ganz eigenen Algorithmus... Auf einmal wandte sich das Shen an ihn, als wäre es ein Reiseführer, der ihn durch das Museum der Verdammten geleitet. Wenn du jetzt bitte hierher schauen möchtest. Beachte den Auf- bau des Dramas. Es handelt sich um eine karmische Narretei. Das sind die Seelen von Menschen ­ nicht ihr Shen, also ihr Geist ­, sondern ihre Seelen. Der Unterschied ist dir doch klar? Man hat sie in der Zeit eingefroren. Hier im Innern eines jeden Netsuke findest du genügend Spei- cherraum, um jeden komprimierten Gedanken darin unterzubringen, der in den vergangenen zwanzig Jahren möglicherweise gedacht wurde... Schluß! Gobi erschauerte bis in den Kern seines Wesens hin- ein. Wer dachte sich so einen Wahnsinn aus? Wer sammelte diese Figuren? Das war wahrhaftig eine Finsternis von mega-karmischen Ausmaßen. Erneut schauderte ihn, dann erinnerte ihn Claudia, die ihm von der anderen Seite des Burggrabens aus hektisch zuwinkte, an die verstreichende Zeit. Gobi warf einen Blick auf die Uhr: Noch zweiundzwanzig Mi- nuten. Ich muß zu Suite 2802. Der Sauerstoff wird knapp, mir bleibt nicht mehr viel Zeit... Gobi skatete zum Ende des Laufstegs, wo er einige Lichter brennen sah. Claudia hatte erklärt, daß es sich um die vierte Suite von hinten handelte. Er trieb darauf zu und schwebte über der Etagenebene. Die Suite war groß. Das Licht war herunterge- dreht. Ein Tablett auf einem Nachttisch, das mehrere Arzneien enthielt, erweckte Gobis Aufmerksamkeit. Im Nebenzimmer, das hell erleuchtet war, saß ein stämmi- ger Mann mit Bürstenschnitt auf einem Stuhl und spielte ein tragbares Game. Ein Leibwächter. Gobis Blick wanderte zum verdunkelten Raum zurück. Er konnte nicht besonders gut hineinsehen, aber da lag eine Person auf dem Bett. Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob es ein Mann oder eine Frau war. Handelte es sich um Kazuo Harada? Er versuchte etwas aufzufangen, vielleicht eine zufällige Schwingung. Dann ging die Tür auf, und Gobi bekam einen Schock. Die beiden Heiler aus Kalifornien betraten den Raum. Gobi erkannte sie vom L. A. Metro-Flug wieder. Sie trugen noch ihre schneeweißen Parkas, das lange blonde Haar und die Rauschebärte. Der zweite Heiler hatte eine Aktentasche un- term Arm, die er jetzt auf den Nachttisch legte und aufschlug. Er holte zwei Kristallstäbe heraus und strich damit über das Bett, als wären es Geigerzähler. Dann bekam Gobi einen zweiten Schock. Hinter den beiden Heilern stand mit ausdrucksloser Miene Axel Tanaka, der Sicherheitschef von Station Sieben. Er hielt einen Elektrokasten. Plötzlich drehte sich einer der Heiler zu dem Fenster, durch das Gobi hereinsah. Gobi duckte sich instinktiv, gerade noch rechtzeitig. Er spürte, wie der kritische Blick des Mannes das Fenster passierte und sich im Weltraum verlor. Neben dem Fenster an die Außenhülle der Station gepreßt, ging Gobi alle Möglichkeiten durch. Er mußte schnell handeln. Durchaus denkbar, daß die beiden gedungene >Büchsenöffner< waren. Vielleicht hatten sie das gleiche wie Gobi vor ­ Hara- das Psyche zu sondieren und so viele Bewußtseinsbereiche wie möglich anzupieksen, als prüfte man mit der Gabel Ana- nasscheiben in der Dose. Andererseits befand sich die unbekannte Person auf dem Bett in sehr schlechtem Zustand. Gobi war es jetzt nicht mög- lich, herauszufinden, ob er unter Drogen stand. Die Lebenszei- chen, die er auffing, waren praktisch gleich Null. Der Mann lag im Sterben. Das war klar. Aber die beiden Heiler konnten ihm nicht einfach das Bewußtsein entnehmen. Zunächst muß- ten sie ihn stabilisieren. Und das taten sie gerade mit den Kristallen. Noch außer- halb des Zimmers spürte Gobi ihr mächtiges Summen. Sobald sie ihn stabilisiert hatten, würden sie ihn öffnen. In dem Augenblick mußte er zuschlagen. Gobi schwebte wieder zur Fensterbank hoch. Über Kazuo Haradas Körper glühte ein Strahlenfeld, und eine Lichtschnur ging vom oberen Kopfbereich aus. Jetzt oder nie! Wie einen mächtigen Strom schickte Gobi sein Chi durch jedes einzelne der zweiundsiebzigtausend lebenswichtigen Nadis, diese spinnwebartigen Leiter der Lebensenergie. Blut, Luft und Prana rasten jetzt den Zentralkanal hinauf, schossen durch den Scheitel und stellten eine Verbindung mit dem weichen, flüssigen Licht her, das vom siebten Chakra des Sterbenden ausging. Selbst wenn Gobi gewollt hätte, wäre eine Umkehr nicht mehr möglich gewesen. Schnell und brutal lud er ihn herunter. Keine Zeit für leise Zwischentöne. »Jetzt!« Die Lampen im Zimmer erloschen. Im Handumdrehen war Gobi wieder verschwunden. Die koreanischen Wasserspeier waren friedlich, ihre Laser schwiegen. Kaum hatte Gobi den Graben überquert, als Clau- dia auch schon aus dem Schatten heraustrat und zu ihm schwebte. Sie machte große Augen. Hast du das mitgekriegt? Sie hatte den Lichtblitz in der achtundzwanzigsten Etage gesehen. Gobi nickte müde. Er fühlte sich gleichermaßen ausgelaugt und gestärkt ­ erfüllt vom heruntergeladenen Bewußtsein eines Fremden. Zu diesem Zeitpunkt hatte es noch den Verstand eines Neugeborenen. Es begriff die Welt, in der es sich bewegte, noch nicht. Gobis Chi bewahrte das fremde Bewußtsein in seinem na- belschnurartigen Licht auf. Nicht mehr lange, und es wird gebo- ren, dachte er. Claudia klopfte ihm auf die Schulter. Gratuliere. Dann deutete sie auf die Sauerstoffanzeige an seinem Tank. Sie zeigte bereits die rote Gefahrenzone an. Nur noch für acht Minuten Sauerstoff. Er nickte. Sie befestigten ihre Handgelenk-Skates an einer Furche in der Wand und stießen sich ab. Als sie das riesige grüne Fangnetz erreichten, hielt Claudia es auf, während Gobi hindurchschlüpfte, als glitte er eine Rut- sche hinunter. Er hatte es noch nicht zur Hälfte geschafft, als ihm klar wur- de, daß etwas nicht stimmte. Ein gewaltiger Druck quetschte seine Brust zusammen. Die Schmerzen waren so stark, daß er für einen Augenblick das Bewußtsein verlor. Als er wieder zu sich kam, sah er, daß er schonungslos durchs Netz gezwängt wurde. Flüchtig fragte er sich, ob er wohl einer Maschine in die Quere gekommen war. Vielleicht einer Winde? Andererseits dämmerte ihm allmählich, was geschah. Der Schraubstock, der ihn so unbarmherzig im Griff hatte, bestand aus einem Paar kräftiger Beine. Er wurde wie von einer mäch- tigen Schere festgehalten. Jetzt sah er auch das Gesicht des Mannes. Es war der japa- nische Rettungsastronaut Kondo. Seine Augen waren so schwarz wie polierte Go-Steine. Er schaute kurz zu Gobis Brust, und schon rissen seine Hände den Sauerstofftank weg. Aargh! Gobi begann wieder das Bewußtsein zu verlieren. Plötzlich tauchte Claudia auf. Sie hielt einen der hydraulischen Golf- schläger umklammert. In Zeitlupe sah Gobi, wie sie ihn wie ein japanisches Katana-Schwert nach unten durchzog. Whack! Kondos Kopf ruckte nach hinten, und Gobi gelang es, wie ein leerer Luftballon davonzutrudeln, den jetzt nutzlosen Sauerstoffschlauch im Schlepptau. Kondo hechtete auf Claudia zu, wobei seine Hände zu- schlugen wie ein Paar Hackmesser. Sie parierte mit beiden Unterarmen und antwortete mit einem Low-Kick in den Unterleib. Einen Salto schlagend trieb er zur Seite und setzte beim Rückprall seinerseits zu einem Tritt an. Er traf ihre Rippen. Claudia wurde nach hinten ins Netz geschleudert. Jetzt zog Kondo ein Shuriken aus dem Ärmel und zielte damit auf sie. Die winzige Kreissäge fraß sich durchs Netz. Einen Moment lang war Claudia in eine Zwangsjacke aus grünen Netzfäden eingesponnen, dann verschwand sie drau- ßen in der Schwärze. Gobi hatte kaum noch wiederaufbereiteten Sauerstoff übrig. Atme wie bei der Hibernation, drängte Meister Yang ihn. Don Main Far! Er hörte den Befehl wie in einem fernen Traum. Dein Körper muß für den Chi-Fluß völlig durchlässig werden. Kondos ausdrucksloses Gesicht spähte in die rauchschwar- ze Kugel von Gobis Helm. Der Rettungsastronaut begann jetzt, ihn zum Golfkurs hinüberzuziehen. Wo brachte er ihn hin? Aus den Augenwinkeln sah Gobi, wie sich trudelnd ein Ge- genstand näherte. Trotz der Entfernung konnte er den raffi- nierten Mechanismus eines der kreisenden kleinen schwarzen Löcher erkennen. Gobi spürte das Sieden seines Anzugs, als der Verdichter sein Saugelement aktivierte. Kondo hatte ihn in einer Kopf- zange und zog ihn auf das schwarze Loch zu. Nur noch weni- ge Zentimeter. Plötzlich war alles vorbei. Kondo ließ ihn los. Er schien sich sogar huldvoll vor Gobi zu verneigen, wie der Türsteher eines billigen Nachtclubs. Erst saugte das schwarze Loch nur ein pfenniggroßes Stück aus Kondos Helm heraus. Dann bekam die restliche Glaskugel Risse. Claudia war in Höchstform gewesen. Sie hatte den voll ge- ladenen Golfball auf dem geosynchronen Tee plaziert, das hydraulische Eisen geschwungen und kontaktet. Der Ball war durchs All gerauscht und ungefähr einen halben Zentimeter unter Kondos Kortex explodiert. Die Wucht hatte ihn auf dem Absatz herumgewirbelt. Er war auf die Knie gesunken, das Gesicht im Loch. Mehr als die Hälfte von ihm war bereits verschwunden. Er war jetzt ein Schwarzes-Loch-Sandwich. Claudia schwebte zu Gobi hinüber und schob ihn sanft vor sich her, eine Hand unten am Rücken, während die andere ihn an der Schulter festhielt. Dann hielt sie inne, verband ihren Sauerstoffschlauch mit seinem Helm, und er atmete pure Erlösung ein, soviel er nur konnte, ohne zu husten. Sie trafen an der Raumschleuse ein, und sie bugsierte sich und ihn in die Druckkammer. Gobi schaute von der Bank, auf die er sich mit ihrer Hilfe gelegt hatte, müde zu ihr hoch. In diesem Moment erschien ihm Claudia einfach wunder- schön. Wie eine Kendo-Lehrerin am Ende der Übungsstunde nahm sie den Helm ab, schüttelte das lange schwarze Haar und strich mit beiden Händen durch den seidigen Wasserfall. Sie blickte aus Augen zu ihm herab, die gleichermaßen süße Sorge und große Erleichterung verrieten. »Ruh dich aus«, drängte sie ihn sanft. Gierig sog er einige Minuten lang die nach Limonen duf- tende Luft ein. »Mir geht's schon wieder prächtig«, sagte er dann und erhob sich von der Bank. »Danke, Claudia. Sie küßte ihn zärtlich auf die Stirn. »Gobi, ich liebe dich«, flüsterte sie. »Hat Ihnen das Spiel Spaß gemacht?« fragte der Mann hinter dem Schalter, nachdem sie ihre Ausrüstung zurückgebracht hatten. Kommentarlos starrte er Gobis aufgerissenen Anzug und den zerbrochenen Sauerstofftank an. »Es war so, wie Sie gesagt haben«, erwiderte Gobi. »Anfän- gerglück.« Onsen Alle paar Minuten starteten vom Spa-Deck aus kreisende Gondelbäder, und andere trafen wieder ein. Die heißen Quel- len reisten auf einem festgelegten Luftweg um den Zentralzy- linder von Station Sieben. In ein rosafarbenes Yukata-Gewand gekleidet, erwartete Claudia ungeduldig Gobis Ankunft. Er war spät dran. Jetzt entdeckte sie ihn, wie er sich in einem dunkelblauen Happi-Mantel über einem grünen Yukata der Plattform näher- te. An den Füßen trug er Zori. Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Du siehst wie ein Pilger aus«, sagte sie. »Oder wie ein Yakuza.« Er hatte seine dunkle Ray-Ban-Brille wieder hervorgekramt und aufgesetzt. »Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht«, sagte sie. »Wo hast du gesteckt?« »Oh, ich bin nur hoch auf mein Zimmer, um die hier zu ho- len.« »Eine Sonnenbrille? Habe ich etwas verpaßt?« Sie sah sich um. »Das hier ist nicht gerade Miami Beach.« »Wie wär's mit Guam?« grinste er. »Oder den Solomon Is- lands? Waikiki?« »Geht's dir auch gut, Frank? Ich komme nicht ganz mit.« Ein verwirrter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. »Als ich im Umkleideraum war, bin ich am Dampfbad vor- beigekommen und habe ein paar Yakuzas drin sitzen sehen.« »Und?« »Nichts und. Sie trugen dunkle Brillen, das war alles. Hat mich an meine erinnert. Ich schätze, die fühlen sich auf dieser Raumstation wie zu Hause, eh? Sie kommen vom Goldenen Dreieck hier rauf, um Urlaub zu machen.« Ihre Hand glitt in einen seiner weiten Ärmel und umfaßte den Oberarm. »Laß dich nicht so leicht beeindrucken, Frank. Was sind schon ein paar Yakuzas gegen dich?« »Offenbar wecken sie in mir den bösen Buben, Claudia.« »Du bist wirklich seltsam!« Der Spa-Angestellte kam auf sie zu und verbeugte sich. »Konbanwa. Wir schließen die heißen Quellen um elf Uhr. Sie sind die letzten Kunden, neh?« Er griff nach ihrer Gondel. Sofort kam sie schaukelnd zum Stehen. »Hai, dozo.« Sie stiegen ein. Als die Raumschleuse sich öffnete, setzte sich die Gondel ruckartig zu ihrem vierzigminütigen Freizeitflug um die Raumstation in Bewegung. »Nur die Japaner konnten sich so eine Spielerei ausden- ken«, meinte Gobi bewundernd. »Ein kreisendes o-furo. Ein Stern-Onsen. Das ist wirklich genial.« »Oh, schau!« rief Claudia. Eine Sternschnuppe zog hell auf- blitzend vorbei wie ein juwelenbesetzter Fächer, der plötzlich auf- und wieder zugeht. »Dachte ich mir doch, daß das eine gute Idee ist.« Claudia beugte sich vor und küßte ihn auf den Mund. »Zieh deinen Yukata aus.« »>Aye, aye, Käpt'n.<« Er gehorchte. Sie hatte ihren Yukata schon an einem Haken aufgehängt. »Komm, ich seife dich da drüben ein«, sagte sie und deutete auf einen kleinen Stuhl auf dem Kachelboden neben der vertieft angebrachten Badewanne. Ihr Körper war eine perfekte Skulptur aus Elfenbein, schlank, aber mit Kurven, die sich genau an den richtigen Stellen befanden. Sie beugte sich vor, um den Plastikeimer mit Wasser aus dem o-furo zu füllen, und ihm stockte der Atem. Sie war so wunderschön. »Oh, Frank«, sagte sie, als sie sich umdrehte und ihn er- blickte. Sie umarmten sich. Sie spürte seine Härte und spielte mit ihm, während er ihren Hals küßte. »Du bist ein böser Bube.« »Und das gefällt dir, was?« »Ich liebe es!« lachte sie. »Ich werde dich vermissen.« »Wirst du das, eh?« sagte er, als er ihr den Rücken einseifte. Seine Hände strichen die Wirbelsäule hinunter und fanden die Rundungen ihres Gesäßes. »Wie sehr?« »Mehr als sonst etwas«, hauchte sie ihm ins Ohr, während seine Finger zu ihrer rasierten Vulva glitten. »Setz dich«, befahl er. Er ließ sich auf dem kleinen Stuhl auf dem Kachelboden nieder. Das Wasser schwappte über den Wannenrand, als die Gondel weiterruckte. Sie setzte sich auf ihn, und er war wieder in ihr. Gott! Er knabberte an ihrem Hals. Wie würde er sie vermissen! »Du bist gern ein böser Bube, stimmt's, Frank?« Sie biß zärt- lich in sein Ohr. »Wenn du damit meinst, daß ich's dir gerne so besorge, dann ja«, erwiderte er. »Oh!« »Und so.« Er legte noch eins drauf. »Oh!« Sie trieben es ein paar Kilometer weit. Obwohl die Fenster im Innern der Gondel vom o-furo beschlagen waren, bemerkte er, daß ein japanisches Pärchen den Kopf reckte und zu ihnen herüberstarrte, als sie auf der neunten Ebene der Raumstation an einer Cocktailbar vorbeikamen. »Ich wußte gar nicht, daß man in diese Dinger hineinschau- en kann«, meinte Gobi leicht erstaunt. »Mmm«, seufzte Claudia, als sie von ihm herunterglitt. »Das macht doch erst das Ambiente aus.« »Scheint mir auch so.« Sie spülte sich ab, füllte dann einen Eimer mit heißem Was- ser und bespritzte damit seine Schultern. »Auu!« Sie lachte. »Es geht noch viel heißer, weißt du. Das ist noch gar nichts.« »Ich weiß.« »Aber das hier entspannt dich schön. Wie ich's dir verspro- chen habe. Du warst wunderbar da oben, Frank. Ich bin ja so stolz auf dich. Hast du's getan?« »Getan? Was?« Claudia hörte auf, ihn zu benetzen. »Du hast Kazuo Harada doch heruntergeladen, oder nicht, Frank? Das Bewußtsein unseres Vorsitzenden? Du hattest doch Erfolg?« »Ich hatte ganz vergessen, es dir zu sagen.« Claudia stellte sich vor ihn. »Mir was zu sagen, Frank? Mir was zu sagen?« Auf einmal klang ihre Stimme hart. »Es war gar nicht Kazuo Harada. Aber ich glaube, das wuß- test du schon.« »Du bist doch zur Suite 2802 hoch, oder nicht?« fragte sie in bedächtigem Tonfall. »Natürlich bin ich das. Aber das da drin war nicht Harada. Es war ein anderer.« »Nicht Harada?« »Oh, komm schon, Claudia. Natürlich war er's nicht. Der Mann war viel älter, viel kränker. Es war Ryutaro Kobayashi. Er lag im Sterben.« »Du hast Ryutaro Kobayashi heruntergeladen?« »Tu nicht so überrascht. Das hast du bereits gewußt, als du mich hochgeschickt hast. Das war doch von Anfang an der eigentliche Plan, stimmt's? Es verleiht dem Wort Industriespi- onage eine ganz neue Bedeutung, Claudia. Das geht in die Literatur ein.« Sie drehte sich um, weil sie ihren Yukata vom Haken neh- men wollte. Als sie sich ihm wieder zuwandte, hielt sie eine kugelschreibergroße Laserpistole in der Hand. »Tut mir leid, Frank«, sagte Claudia. »Es wird Zeit, daß du aus dem Wasser steigst. Deine Haut ist schon ganz ver- schrumpelt.« »Du überraschst mich, Claudia«, antwortete Gobi. »Wenn ich mich nicht sehr irre, richtest du gerade etwas sehr Häßli- ches und vermutlich ziemlich Tödliches auf mich.« Er machte einen Schritt auf sie zu. »Ich warne dich, Frank. Das hier ist kein Loofah. Damit hast du recht.« »Und ich dachte, du magst mich. Noch vor einer halben Stunde hast du mir gesagt, daß du mich liebst.« »Stimmt, Frank. Aber hier geht's ums Geschäft.« »O Mann«, seufzte er. »Schon wieder dieses häßliche Wort. Es taucht immer dann auf, wenn man es am meisten erwartet, aber am wenigsten verdient.« »Setz dich da drüben hin.« Sie winkte mit der Waffe zum Drehstuhl am Fenster. »Jetzt erzähl mal, Frank, wann hast du das über mich heraus- gefunden?« fragte sie ihn beinahe bedauernd. »Als ich diese Yakuzas im Umkleideraum sah.« »Was war es genau?« »Ich erinnerte mich plötzlich an meine gute alte Ray-Bans. Darf ich?« »Komm bloß nicht auf falsche Gedanken, Frank. Mach kei- ne Dummheiten.« »Versprochen.« »Red weiter.« Wieder winkte sie mit der Waffe. »Setz sie auf, wenn du dich damit besser fühlst.« »Danke.« Er griff nach der Ray Ban und setzte sie auf. »Ich sollte wohl erwähnen, daß das keine gewöhnliche Sonnenbril- le ist, Claudia. Es sind rezeptpflichtige KI-Linsen... unter anderem mit Online-Datenbanken.« »Und?« »Ich recherchiere für ein Buch. Also habe ich diese Dinger darauf programmiert, alles aufzuzeichnen, was sich für meine Arbeit als nützlich erweisen könnte.« »So?« erwiderte sie bedächtig. »Tja, und ich hatte völlig vergessen, daß ich sie während des Flugs getragen habe.« Gobi lächelte, als er sah, wie ein Ausdruck des Verstehens über ihr Gesicht huschte. »Hast du endlich begriffen?« »Du hast den gesamten Flug aufgezeichnet?« »Ganz recht.« »Und als du zu deinem Zimmer hoch bist, um sie zu holen, hast du alles abgespielt?« »Mehr oder weniger. Im Schnelldurchlauf«, gab er zu. Sie lächelte. »Du bist wirklich gerissen. Was hast du ent- deckt?« »Es geht weniger darum, was ich entdeckt habe. Es geht darum, was ich anschließend herausfand.« »Und was hast du herausgefunden, Dr. Gobi?« Das Lächeln umspielte ihren Mund ohne Werbeunterbrechung. »Du hast den Butoh erledigt.« Er hielt kurz inne. »Aber du warst nicht allein.« Claudia blickte aus dem Fenster. »Das ist ja hochinteressant. Aber wir haben nicht mehr viel Zeit, Frank«, sagte sie. »Du solltest deine Geschichte jetzt besser zu Ende bringen. Wir sind bald zurück. Und schließlich mußt du noch das hier tun.« Sie brachte einen kleinen Kasten mit Drähten und Halte- rungen zum Vorschein. Er schaute ihn an. »Dort hinein soll ich Kobayashi also laden?« Sie nickte. »Ja, Frank, das ist ein Bio-ROM.« »Raffinierter als der Treiber, den ich verwende. Nett ausge- dacht, Claudia.« »Frank, du sagtest, ich habe den Butoh erledigt, sei aber nicht allein gewesen?« »Ja, du hättest den erstaunten Ausdruck auf deinem Gesicht sehen sollen. Wenn du magst, kann ich's dir irgendwann einmal vorspielen.« »Wird nicht nötig sein.« »Deswegen wäre auch fast das Flugzeug abgestürzt, Clau- dia. Du und Silbergesicht. Für wen arbeitet er eigentlich? Ich hielt ihn für den Handlanger von Widerstandskämpfern einer mexikanischen Grenzstadt. Der Chi-Absorber befand sich in seiner Tabaksdose. Er hat genau zum gleichen Zeitpunkt auf den Butoh gezielt, als du ihn mit deinem Okidata- Büchsenöffner ausgeschaltet hast. War schon ein Mordsstrahl, der da durch die Kabine gezischt ist. Enorm, auch das Droi- denfeuerwerk danach. Zum Teufel, sogar dieser Latino- Yakuza war überrascht. Ich wette, so einen starken Rückstoß ist er nicht gewohnt.« »Für jemand, dessen Leben man gerettet hat, klingst du nicht besonders dankbar«, tadelte Claudia ihn. »Deinen Hals hast du dabei auch gerettet.« »Ach ja?« »Das hat mir meine Bans verraten. Wenn meine Bans mir so etwas sagt, muß was dran sein.« »Also gut, die Märchenstunde ist vorbei. Zeit, sich an die Arbeit zu machen.« »Nun, der Butoh hat auf mich geschossen, das ist wahr. A- ber das war nur sein erster Schuß. Sein zweiter Schuß sollte dich ausschalten.« »Mich? Warum?« »Weil du, Claudia, die einzige Person an Bord warst, die das Space Shuttle zur Station Sieben umleiten konnte, was von Anfang an der Plan war ­ und der Grund, aus dem ich diesen Flug gebucht habe.« Sie setzte sich ihm gegenüber hin. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war so gespannt wie die Saite eines Samisen. »Du hast noch sechzig Sekunden, Frank. Aber ich empfehle dich weiter. Du bist sehr gut.« Die Gondel schwang sich um einen weiteren Luftmast. Noch wenige Kilometer, und sie hatte die Plattform der Stati- on erreicht. »Die beiden Heiler an Bord des Shuttles«, sagte Gobi zu ihr, »sie haben mich drauf gebracht. Ich habe sie in Kobayashis Suite gesehen. Ich muß zugeben, daß ich zuerst dachte, sie wollten ihn herunterladen. Ich glaubte dir, als du mir sagtest, das da oben sei Harada. Der Mann sah entschieden krank aus. Als läge er im Sterben. Jetzt würde ich sagen, das waren nur zwei Gesundbeter, die sich auf dem Weg zur Arbeit befanden. Sie hatten Kobayashi schon eine ganze Weile in der Mache. Flogen nach Neo-Tokio. Nahmen von dort aus das Shuttle zu Station Sieben. Netter Job, wenn man dran glaubt.« Claudia hantierte mit dem Bio-ROM. »Schnall dir einfach nur dieses Band um die Stirn«, sagte sie zu ihm. »Die Halte- rungen passen an deine Ohren. Es wird nur ein paar Minuten dauern.« »Aber Kobayashis Kräfte haben schnell nachgelassen«, fuhr Gobi grimmig fort. »Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, stimmt's? Und das haben deine Leute gewußt. Du wolltest, daß ich zur gleichen Zeit wie sie auf Station Sieben eintreffe. Damit ich den armen Teufel herunterladen kann, bevor er abkratzt.« »Schluß mit dem masochistischen Theater«, brauste Claudia auf. »Nimm die Übertragung vor. Sofort!« Gobi schüttelte den Kopf. »Du wirst mich doch nicht um- bringen wollen, oder?« fragte er. »Wenn du mich umbringst, kann man nämlich nicht mehr viel herunterladen.« Ihr Lächeln jagte ihm einen Schauder über den Rücken. »Da irrst du dich, Frank. Es handelt sich hierbei um eine neue Technologie, von der du wahrscheinlich noch nichts gehört hast. Das ist ein Professional Downsizer DNI 350. Er kann noch zwei Stunden nach dem Tod die Gehirnwellen eines Toten digitalisieren. Du hast die Wahl. Tot oder lebendig.« »Was sagst du jetzt?« fragte sie ihn mit einer Miene, die soviel ausdrückte wie Ich liebe dich, aber wenn's sein muß, töte ich dich auch. Er mußte zugeben, daß das durchaus ihrem Naturell entsprach. »Kennst du den von den beiden Zen-Schülern?« Die Gondel näherte sich dem Außenbereich der achtzehn- ten Ebene. »... und da sagt der eine zum anderen: Nimm meinen Ros- hi. Bitte.« Claudia schüttelte den Kopf. »Leb wohl, Frank.« Sie drehte an der Kappe der kugelschreibergroßen Waffe. »Tut mir leid.« Seltsam, wie ruhig er sich fühlte. Etwas krachte, laut wie ein Peitschenschlag. Die Gondel ruckte und schaukelte heftig. Gobi packte Claudias Handge- lenk und verdrehte es kräftig. Sie ließ die Waffe fallen. »Claudia«, sagte Gobi mit todernster Stimme. »Hör zu. Ich behaupte nicht, daß alles vergeben und vergessen sein soll, aber gerade ist das Kabel, das die Gondel mit dem Schiff verbindet, gerissen. Wir treiben ins All hinaus.« Nacheinander glitten die Gondeln von dem Kabelstrang, der durch die Luftmasten der Tramway führte. Eine hochgewachsene, schlaksige Gestalt im Kobayashi- Golfanzug sah zu, wie sie sich in verschiedene Richtungen im All verteilten. Dann drehte sie sich langsam um und kehrte zum Netzbereich des Golfkurses zurück. Auf der Schulter trug sie eine Tasche, die außer den hyd- raulischen Golfschlägern noch ein anderes nützliches Gerät enthielt ­ eine mit Sprengshuriken geladene Hochleistungs- Weltraumarmbrust, die leicht fünf Zentimeter dicke Stahlkabel durchschlagen konnte. Sie zog die Tasche zu sich herüber, als sie durchgeschlüpft war, und begab sich wieder zum Golfdeck. Das war eine großartige Runde gewesen. Ja, wirklich. Eine irre gute Show. Gobi spähte durchs Dachfenster der Gondel. Von den Klauen des Greifmechanismus baumelte noch eine Kabelschlaufe. Claudia musterte die zerfransten Drahtenden. »Sieht nach einem 50-Kaliber-Shuriken aus. Es muß einer gewesen sein, wenn er so durch Stahl schneiden konnte.« »Kein Wunder, daß man >heiße< Quellen dazu sagt.« Er setzte sich auf den Stuhl und öffnete den Minikühlschrank. »Also, wenn wir schon auf große Fahrt gehen, sollten wir besser mal die Erfrischungen checken. Was haben wir denn hier? Hm, zwei große Flaschen Asahi-Heineken und einen Beutel getrockneter Tintenfische. Wie lange wird das reichen, ehe Hilfe eintrifft?« »Wieviel Sauerstoff haben wir noch?« »Welche Geschmacksrichtung?« Er stöberte im hinteren Be- reich des Kühlschranks herum, wo er mehrere Spritzer- Behälter fand. »Hirschgeweih-Sauerstoff. Bärenklauen-Aroma. Walgallenduft. Ohhh. Hier steht drauf: Tigerhodengeschmack. Sind das Aphrodisiaka, oder was? Ist das legal? Diese Minibar ist wirklich dekadent.« Claudia setzte sich auf einen Stuhl neben ihn und zog den Yukata eng um sich. Sie sah in die Schwärze des Weltraums hinaus. »Verrätst du mir etwas, Claudia?« Sie wandte sich ihm zu. »Was?« »Warum hast du deinen kleinen DNI-Downsizer, oder wie immer du das Ding auch nennst, nicht selber an Ryutaro Kobayashi ausprobiert? Warum mußtest du erst mich in diese Sache mit hineinziehen?« »Ich hatte keinen Zugriff auf ihn, Frank. Du hast doch die Sicherheitsmaßnahmen da oben gesehen. Man muß direkt vorgehen. Du warst der einzige im Telefonbuch, der imstande war, eine Fernübertragung vorzunehmen.« »Ah... na schön, nächstes Mal haben wir mehr Glück.« Geistesabwesend starrte Claudia weiter aus dem Fenster. »Was ist das?« sagte sie plötzlich und blickte auf. In der Ferne leuchteten zwei Scheinwerfer. Was für ein Ge- fährt das auch sein mochte, es näherte sich der Gondel an Steuerbord mit ungefähr sechzehn Knoten. Es war ein alter Schlepper, ein traurig aussehendes, ver- beultes Stück Raumschrott. Offenbar ein chinesisches Shuttle Marke Langer Marsch 12, das der Besitzer auf einem Ge- brauchtshuttlemarkt in der Special Economic Zone von New Shenzhen in Südchina erworben hatte. Als es in Sicht kam, erkannten Gobi und Claudia, daß es mit psychedelischen Farben bemalt war. Die Außenhülle war vom häufigen Kontakt mit Meteorschauern pockennarbig und völlig ramponiert. Das Schiff schien ein langes Netz hinter sich herzuziehen. Es war mit einer Unmenge Raummüll und anderen unsägli- chen Abfällen angefüllt, die kommerzielle Shuttles und Satelli- ten entgegen den international geltenden Anti-Raumschrott- Gesetzen über Bord geworfen hatten. Eine Batterie Meßfühler und Verfolgungsmonitore bedeckte das Dach. Das Radar drehte sich in ihre Richtung. »Was für ein Name steht auf dem Schiff?« wollte Claudia wissen. Auf einmal kehrten ihre Lebensgeister zurück. »Sackerment!« rief Gobi. »Ich will verdammt sein, wenn das nicht die Greenspace II ist!« Greenspace II Käpt'n Jesse Korkoran und Tomoko Kikuchi, Jesses Erster Maat und einzige Gefährtin an Bord des Raumschleppers Greenspace II, gingen neben der treibenden Gondel längsseits. »Schau an, was haben wir denn da, Tom?« kicherte Jesse, als sie ihr Schiff fünfzig Meter entfernt zum Halten brachten. »Ach du liebe Güte! Das ist ja nicht zu glauben! Sieht so aus, als hätten da ein paar Leute ein o-furo mit ins All genommen! Ich bin richtig neidisch!« »Ich kriege davon Heimweh«, entgegnete Tom und richtete sich auf. »Ich könnte ein tüchtiges Bad gut gebrauchen.« »Also, was meinst du, mein Schatz?« fragte Jesse und sah Tom liebevoll an. »Wollen wir nicht herausfinden, ob sie vielleicht Hilfe brauchen? Du weißt schon, beim Rücken- schrubben und so.« Jesse war um die sechsunddreißig Jahre alt. Sie hatte kurz- geschnittenes braunes Haar und einen kräftigen, muskulösen Körper voll Sex-Appeal. Seit sechs Jahren war sie jetzt Käpt'n der Greenspace II ­ drei davon mit Tom Kikuchi ­, und so etwas hatte sie noch nicht gesehen. Ihr Erster Maat, zugleich ihre Liebhaberin, war eine junge Japanerin ­ Tomoko oder »Tom«, wie sie von Freunden und Feinden gleichermaßen genannt werden wollte. Sie war ein Wonneproppen mit kurzem, platinblondem Haar und einem kleinen Nasenring mit Rubin als Spitze. Tom war ungefähr acht Jahre lang für Nissan tätig gewesen, bis sie aus Protest über die Verklappung giftiger Kosmetika über den Aleuten gekündigt hatte. Sie war Pilotin eines Welt- raumlaborshuttles für Shiseido-Wissenschaftler geworden, die in der schwerelosen Atmosphäre des Alls eine neue Art Bio- Rouge entwickelten. Versehentlich war das Zeug über Alaska freigesetzt worden. Anschließend hatte durch einen unglücklichen Zufall ein vorbeiziehender Asteroidenschwarm die Bio-Dünste in die Erdatmosphäre getragen. Das Ergebnis war eine neue Spezies rosafarbener Eisbären gewesen. Da war ihr ein Licht aufgegangen, und sie war aus dem kommerziellen Raumausbeutungsspiel ausgestiegen. In einer Bar in San Antonio hatte sie Jesse getroffen, und seitdem waren sie immer zusammengewesen. Jetzt stöberten sie gemeinsam frohen Mutes nach Raummüll und hielten mit Adleraugen nach ungesetzlicher Verklappung biotechnischer Substanzen und anderer giftiger Abfallstoffe Ausschau, die von habgierigen Konzernen im Weltraum abgeladen wurden. Jesse schlug auf den Schalter für die Schiffslautsprecher. »Ahoi, da drüben!« hallte ihre tiefe Stimme durch das Metall der Gondel. »Hier spricht Käpt'n Jesse Korkoran von der Greenspace II. Mein Partner und ich bitten um Erlaubnis, an Bord zu kommen und unsere Leiber kurz einweichen zu dürfen.« Claudias und Gobis Übernahme an Bord der Greenspace II war so problemlos verlaufen, wie es unter den Umständen über- haupt möglich war. Jesse hatte ihr Schiff zurückgesetzt, bis es dicht vor der Gondeltür trieb. Dann hatte sie die Schleuse geöffnet und etwas herausgelassen, das wie der Schlauch eines riesigen Staubsaugers aussah. Er verband sich mit der Kabinentür der Gondel. Frank und Claudia waren einfach an Bord der Greenspace II gegangen. »Hallo, Leute. Normalerweise benutzen wir den Kahn als Müllhalde für den ganzen Dreck, der hier im tiefen Raum herumtreibt. Ich hoffe, es stört euch nicht, daß wir euch zur Hintertür reinlassen.« »Ihr habt uns das Leben gerettet«, antwortete Claudia dankbar und sah sich in der Kabine um. »Sapperlot, und ich dachte schon, jetzt läuft der große Ge- fühlsquatsch ab«, lächelte Jesse. Sie reichte ihnen die Hand. Ihr Händedruck war überaus derb, aber auch warm und freund- lich. Sie mußten sich in der schwerelosen Umgebung erst wieder stabilisieren. »Ich bin der Käpt'n von diesem Wrack«, sagte sie zu ihnen. »Das hier ist mein Erster Maat Tom.« »Wie geht's?« sagte Tom und lächelte schüchtern. Claudia hielt sich an einem Haltegriff an der Wand fest, während sie sich auf dem überfüllten Deck mit den ange- schlossenen Unterkünften umsah. Ein paar ausgebüxte Kisten trieben in einem Winkel der Kabine herum, zusammen mit etlichen leeren Schachteln eines chinesischen Take-away. »Tut mir leid wegen des Durcheinanders«, entschuldigte Jesse sich. »Die Aufwartefrau kommt immer dienstags.« Ein Papierstreifen trieb an Gobis Gesicht vorbei. Er schob ihn zur Seite. »Aus einem chinesischen Glückskeks«, erklärte Jesse, als sie danach griff. Sie warf einen Blick auf den Spruch und grinste. »Hier steht: >Sie werden bald eine kleine Offenbarung erleben.< Sieh an.« Jesse ließ den Zettel weitertreiben. »Dürfen wir Ihnen etwas anbieten?« Sie wandte sich an Tom. »Haben wir noch Kaffee für unsere Gäste?« »>Aye, aye, Käpt'n.<« Tom salutierte spöttisch. »Möchten Sie einen Cappuccino? Und chinesisches Essen?« »Nun ja, wir haben uns ganz gut eingedeckt«, gestand Tom. »Unsere Fahrt dauert gewöhnlich drei Wochen. Drei Wochen im All, dann wieder zwei Wochen auf der Erde.« »Yep, wir haben hier oben sämtliche Annehmlichkeiten«, sagte Jesse stolz. Claudia starrte auf etwas, das mitten im Durcheinander ganz oben in der Kabinenmitte trieb. Sie starrte Jesse und Tom mit neuem Verständnis an. »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte sie. Tom errötete und griff nach dem zweiundzwanzig Zenti- meter langen, genoppten Gegenstand mit doppelter Spitze, der Claudia aufgefallen war. Sie verstaute ihn in einer Schub- lade, doch er fing an zu vibrieren, so daß sie ihn ausschalten mußte. »Tut mir leid«, sagte sie mit feuerroten Wangen. »Nicht weiter schlimm.« Claudia lächelte breit. »Ich bin dankbar, daß ich hier sein darf. Mein Name ist übrigens Clau- dia Kato. Das ist Dr. Frank Gobi.« »Ich möchte ja nicht persönlich werden, aber nehmen Sie häufiger heiße Bäder im All?« erkundigte sich Jesse. »Eine tolle Idee, aber wie war es Ihnen möglich, das Ding vom Boden hochzubekommen, ohne etwas zu verschütten, wenn ich fragen darf?« »O nein, so war das nicht«, lachte Claudia. »Wir waren in einen kleinen Unfall verwickelt.« »Stimmt«, erklärte Gobi. »Das ist eine der heißen Quellen, die Station Sieben umkreisen.« »Sie machen Witze!« sagte Jesse und begriff schließlich. »Sie beide waren also auf Station Sieben, hä? Arbeiten Sie da, oder was? Die Anlage ist ziemlich sauber, keine Beschwerden. Nicht so furchtbar viel verklappte Stoffe. Aber in letzter Zeit gehen da seltsame Dinge vor.« »Nein, wir arbeiten dort nicht«, erwiderte Gobi. »Vielmehr soll ich morgen nach New Narita weiterfliegen. Und Claudia ist für eine Fluglinie tätig. Wir befanden uns nur über Nacht auf Station Sieben und genossen gerade die heißen Quellen, als das Tramwaykabel riß. So hat's uns nach hier oben ver- schlagen. Das ist alles.« »Wow«, sagte Tom. »Sie hatten echt Glück, daß wir vorbei- kamen.« »Glück ist noch untertrieben.« Claudia warf Gobi einen Blick zu. »In Ordnung, was sollen wir jetzt, nachdem wir euch zwei entfleuchte Turteltauben wieder im Käfig haben, mit euch anfangen?« fragte Jesse. »Euch zu Station Sieben zurückbrin- gen? Ich lasse sie besser wissen, daß ihr gesund und in Sicher- heit seid. Sie werden bestimmt erleichtert sein, das zu hören.« Jesse runzelte die Stirn. »Muß da draußen nicht noch je- mand gerettet werden?« »Ich glaube nicht«, sagte Claudia. »Wir waren zu der Zeit die einzigen im Spa. Unser Flug war der letzte.« »Das nenne ich Glück«, sagte Jesse. »Dann funke ich die Jungs mal an.« »Einen Augenblick, wohin fliegen Sie eigentlich?« fragte Claudia Jesse und legte der Frau die Hand auf die Schulter. Erstaunt legte Jesse das Sendeempfangsgerät zur Seite. Sie musterte Claudia von oben bis unten. Claudia, deren dünnes Gewand vorn leicht offenstand, unternahm keinen Versuch, den Yukata zuzuziehen. Jesse konnte Claudias Brüste sehen, und sie gefielen ihr. Eindeutig eine attraktive Frau. »Hm, was haben Sie denn im Sinn, Darling?« fragte sie mit samtweicher Stimme. »Wollen Sie nicht zur Basis zurück?« »Nun«, beharrte Claudia. »Das ist nicht unbedingt mein o- berstes Anliegen. Wo, sagten Sie doch gleich, fliegen Sie hin?« »Wir landen in drei Tagen in Neuseeland. Soll ich Sie nicht an Ihrem Stopp absetzen?« Jesses Blick aus warmen braunen Augen glitt über Claudias Rundungen. Tom verfolgte den Austausch mit amüsierter Miene. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Claudia, »dann bleibe ich einfach an Bord und verlasse das Schiff mit Ihnen in Neuseeland. Das Land wollte ich schon immer einmal kennen- lernen.« »Yep, und ich wette, Neuseeland wollte Sie schon immer einmal kennenlernen«, nickte Jesse. »Ich muß erst meinen Partner hier fragen, ob für drei genug Proviant an Bord ist ­ oder werden es vier?« wandte Jesse sich mit fragender Miene an Frank Gobi. »Sind Sie auch scharf darauf, uns Gesellschaft zu leisten, Mister?« »O nein, bleiben wir um Himmels willen bei dreien«, erwi- derte Gobi. »Wie gesagt, morgen fliege ich nach New Narita weiter. Es macht Ihnen doch nichts aus, mich auf Station Sieben abzusetzen, oder?« »Für Sie tue ich alles, Sportsfreund«, nickte Jesse. Dann schaute sie ihre Geliebte an, um zu erfahren, was sie davon hielt. »Aber erst muß mein Partner noch seine Stimme dazu abgeben, ob Ihre Freundin bleiben darf oder nicht. Was meinst du, Tom?« Tom stand an der Espressomaschine und füllte ein paar Cappuccino-Röhrchen mit kochendheißem Espresso. Die Sahne bereitete etwas Schwierigkeiten. »He«, sagte sie und lächelte Käpt'n Jesse Korkoran an, »zu- sätzliche Gesellschaft kann nicht schaden. Je mehr, desto ausgelassener, stimmt's?« »Das wäre also geklärt«, rief Jesse dröhnend und schlug die Hände zusammen. »Und in Neuseeland lassen wir dann die Sau raus. ­ Ups, Verzeihung!« Gobi schlürfte seinen Cappuccino. »Mmh, großartiges Ge- bräu.« Er bedankte sich bei Tom. »Arigato.« »Do itashimashite«, erwiderte sie auf japanisch und ver- beugte sich. Jesse flogt die Greenspace II zu Station Sieben zurück. All- mählich kam die Raumstation mit ihrem schimmernden Zylinder und den zahlreichen Ebenen voller Hotelzimmer und Büros wieder in Sicht. Jesse hatte bereits über Funk Bescheid gegeben, daß sie ei- nen Hotelgast zurückbrachten, der mit einer von ihnen aufge- brachten Onsen-Kabinen im All havariert war. Station Sieben bedankte sich bei Greenspace II und erteilte Landegenehmigung. Als Jesse sich nach weiteren verlorenge- gangenen Gondeln erkundigte, erwiderte Station Sieben, daß Suchmannschaften schon ein halbes Dutzend geborgen hatten, während andere noch gesucht wurden. Soweit man auf Station Sieben wußte, war alles wieder un- ter Kontrolle. Landen Sie, Greenspace II. Claudia hatte sich in der Toilette verkrochen. Sie wollte dort abwarten, bis Gobi von Bord war. »Tja, dann mach's mal gut, Frank«, hatte sie gesagt, als sie sich voneinander verabschiedeten. »Du solltest wissen, daß nichts von den Ereignissen vorhin persönliche Gründe hat. Ich achte dich sehr. Es tut mir leid, wenn ich dich auf irgendeine Weise verletzt habe.« Dann flüsterte sie: »Bist du sicher, daß du wieder dorthin zurückwillst?« »Klar. Warum sollte ich nicht?« fragte Gobi. »Ich will dir ja keine Angst machen, aber vergißt du nicht etwas?« »Was vergesse ich, Claudia?« »Du hast Ryutaro Kobayashis Bewußtsein heruntergeladen. Und das kann gefährlich werden.« »Soll das heißen, daß mich deswegen vielleicht jemand um- bringen möchte?« fragte Gobi höhnisch. »Wie auch immer, wer ­ außer dir ­ weiß schon davon, und du bist unterwegs nach Neuseeland.« Claudia senkte die Stimme. »Noch hast du Zeit. Übergib mir Kobayashi. Du könntest ungemein reich werden, Frank. Wirklich sehr, sehr reich.« »Irgendwie motiviert mich das aus deinem Mund nicht mehr sonderlich«, sagte er mit einem traurigen Lächeln. »Na schön.« Claudia zuckte die Achseln. »Ich hab's ver- sucht. Wir sehen uns, Frank. Irgendwann einmal.« »Durchaus möglich.« Sie küßte ihn auf die Wange. Jesse und Tom waren dem Gespräch unfreiwillig gefolgt. »Steckt Ihre Freundin irgendwie in Schwierigkeiten, Gobi?« fragte Jesse, nachdem Claudia sich im Benjo eingeschlossen hatte. »Sie ist nicht meine Freundin«, erwiderte er. »Ist sie nicht? He, Sie sind in Ordnung!« sagte Jesse und schlug ihm auf den Rücken. »Sie sind ein Mordskerl.« »An Ihrer Stelle würde ich mich vor ihr in acht nehmen«, sagte Gobi. »Oh, Baby, glauben Sie mir, das ist kein Problem. Ich bin ein ziemlich kesser Vater, und sie sieht mir wie ein echtes Frau- chen aus.« »Daß Sie sich da nur nicht täuschen«, antwortete Gobi. »Sa- gen Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.« »Das haben Sie, das haben Sie.« Ihre Landung in Station Sieben stand kurz bevor. Die An- dockschleusen waren geöffnet, und er. konnte das Innendeck mit dem Satori-Shuttle sehen, das in einem Winkel des Han- gars geparkt war. »Darf ich Sie was fragen?« wandte sich Gobi an Jesse, die den Schrottschlepper steuerte. Jesse hatte das Schleppnetz vor der Station gelassen. Die fehlgeleitete Gondel hatte sich darin verfangen, und Kobayas- hi-Mannschaften waren bereits unterwegs, um sie zu bergen. »Wie sieht's aus, Tom?« fragte Jesse ihre Kopilotin. »Wir befinden uns im Sinkflug, noch zwei Minuten, drei- undvierzig Sekunden bis zur Landung.« »Gut.« Jesse drehte sich zu Gobi um. »Was wollen Sie wis- sen?« »Sie sagten, Ihnen sei aufgefallen, daß auf Station Sieben in letzter Zeit seltsame Dinge vorgehen. Was haben Sie damit gemeint?« »Nun ja«, erwiderte Jesse. »Vor einer Weile haben wir in unserem Schleppnetz ein paar Leichen entdeckt. Nichts wies auf ihre persönliche Identität hin, und darum wissen wir auch nicht, ob sie wirklich von dort sind, verstehen Sie? Sie lagen mitten in dem anderen Treibgut, das wir auf unserer Route gewöhnlich einsammeln.« »Wer waren die?« Käpt'n Jesse schwebte über der geöffneten Schleuse von Sta- tion Sieben. »Okay, Tom? Setz sie so sanft ab, als würdest du einem Baby Windeln anlegen.« »>Aye, aye, Käpt'n<«, erwiderte Tom, während sie die Moto- ren fürs Aufsetzen zurückschaltete. Jesse wandte sich an Gobi. »Ich sagte, es habe sich um Lei- chen gehandelt. Von Menschen habe ich nichts gesagt.« Sie schaltete den Antrieb aus. »Sonst noch Fragen, Profes- sor?« »Aber sie sahen doch wie Menschen aus?« »Wie Sie und ich. Es waren zwei, drei Typen und eine Frau. Die Männer, warten Sie... die sahen wie Latinos aus. Um die Dreißig, braunes Haar, braune Augen, schlank, achtzig bis fünfundachtzig Kilo schwer, zwischen eins achtzig und eins neunzig groß. Die Frau war Orientalin, Anfang Zwanzig, Kindfrau, sehr zart gebaut, attraktiv.« »Aber es waren Droiden.« »Yep. Allerdings anders als alle, die ich bisher gesehen ha- be. Ich meine, sie hatten keine mechanischen Teile an sich. Nichts Klobiges. Sie waren unbehaart, wirkten aber total natürlich. Sie hatten Geburtsmale und solches Zeug ­ absolut lebensecht. Einer hatte sogar einen Führerschein aus San Diego. Das weiß ich noch, weil's mir ziemlich irre vorkam.« Jesse öffnete den Sitzgurt und erhob sich. Gobi war einen Moment still. Langsam näherte sich der Kobayashi-Trupp mit seiner Notausrüstung dem Shuttle. »Was, glauben Sie, haben sie im Weltraum gemacht?« wollte Gobi wissen. »Da fragen Sie mich was«, sagte Jesse. »Keine Ahnung. Als Tom und mir klar wurde, daß es sich nicht um Menschen handelt, haben wir das Hauptquartier über unseren Fund in Kenntnis gesetzt.« »Und?« »Wissen Sie, wir haben auf einem offenen Kanal gesen- det...« »Hallo, Jungs!« winkte Jesse dem Wartungstrupp zu, der eine Leiter zur Shuttleschleuse rollte. »Jedenfalls haben wir ziemlich schnell von Station Sieben Nachricht bekommen. Sie sagten, sie hätten unser Signal zufällig aufgefangen und wollten uns wissen lassen, daß >diese Marionetten<, wie sie sie nannten, von Station Sieben stammten, und ob sie sie wohl zurückhaben könnten? Sie wüßten es zu schätzen.« »Wie haben sie erklärt, daß die Droiden sich im Weltraum aufhielten?« »Eigentlich gar nicht. Murmelten was davon, daß es Test- Dummies für diesen Golfkurs im All seien, den sie damals gerade planten... daß sie durch die Sicherheitsnetze geschlüpft sein mußten, aber darum ginge es bei den Tests ja gerade, Sicherheit, und so weiter.« »Und das haben Sie ihnen abgekauft?« »He«, sagte Jesse und stupste mit dem Finger gegen Gobis Brust. »Wie Sie sehen, sind wir nicht gerade darauf eingerich- tet, eine Handvoll Leichen an Bord zu befördern. Nichts gegen Sie. Also haben wir die Dummies wie gewünscht abgeliefert. Sie waren uns mächtig dankbar. Für die Mühe haben wir von diesem, wie heißt er doch gleich, ihrem Sicherheitschef, sogar eine Kiste Sake bekommen.« »Axel Tanaka.« »Tanaka. So hieß er. Derselbe Typ, der uns gerade vom O- berdeck aus zuwinkt. Sehen Sie ihn? Kommen Sie, winken wir zurück. Hallo, Axel!« Gobi starrte aus dem Shuttle-Fenster. Tanaka kam die Trep- pe hinunter auf sie zu. Dicht auf den Fersen folgten ihm seine beiden Muskelprotze. »Bleib mit der bezaubernden Jeannie lieber an Bord, mein Herzblatt«, riet Jesse Tom. »Nur für den Fall, daß es brenzlig wird.« »Null problemo, Käpt'n«, grinste Tom und öffnete die Schleuse. »Ich bleibe nicht lange weg, Schatz.« Jesse zwängte ihre aus- ladenden Hüften durch die Luke. »Kommen Sie, Professor?« wandte sie sich an Gobi. »Mir scheint, daß da ein kleines Begrüßungskomitee ganz speziell auf Sie wartet.« »Ich bin dicht hinter Ihnen«, erwiderte Gobi. Jesse sog tief die nach Hibiskus riechende Luft ein und stieg die Sprossen hinunter. Mit den braunen Haaren und breiten Schultern machte sie in ihrem indigoblauen Overall jede Menge her. Achtzig Kilo, die Hände in die Hüften gestemmt, die muskulösen Arme vorgeschoben: jeder Zoll ein taffer Weltraumcommander. »Wie geht's, Tanaka?« sagte sie zur Begrüßung. »Willkommen auf Station Sieben, Käpt'n Korkoran«, sagte Tanaka. »Ich möchte Ihnen im Namen der Raumstation dan- ken, daß Sie die Passagiere gesund und munter und die Gon- del intakt zurückgebracht haben. Ausgezeichnete Arbeit« Gobi stieg aufs Deck hinunter. Barfuß und im leichten Yu- kata, den er im Spa getragen hatte, fühlte er sich ein wenig nackt. »Wir helfen Ihnen doch gern«, sagte Jesse. »Auf welche Weise auch immer. Aber ich muß Sie berichtigen, Mr. Tanaka. Ich bringe Ihnen nur einen Passagier zurück ­ den Professor hier.« Tanaka und seine Leute tauschten Blicke. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz«, sagte Tanaka zu Jesse. »Dr. Gobi und Miss Claudia Kato waren zusammen an Bord, als die Gondel sich von Station Sieben befreit hat. Sicher war doch, als Sie Dr. Gobi gerettet haben, noch eine weitere Person bei ihm?« »Ich fürchte, nein, Mr. Tanaka. Nur dieser Gentleman hier in seinem Geburtsanzug. Von einer Claudia Kato weiß ich nichts.« Tanaka runzelte die Stirn. »Da muß es ein Mißverständnis geben, Hashimoto.« Ohne den Blick von Jesse und Gobi zu nehmen, wandte er sich mit rauher Stimme an einen seiner Männer. »Was sagt das Log?« Hashimoto zog ein Datenübertragungsgerät aus dem Futte- ral. Er tippte auf ein paar Tasten und las etwas vom Display ab. »Hier steht, daß um 22 Uhr 56 zwei Gäste, ein Mann und eine Frau, zur letzten planmäßigen Umkreisung an Bord von Gondel 8 gegangen sind.« Er sah mit Augen zu Gobi auf, die wie Kohlebriketts wirkten, die nur darauf warteten, entfacht zu werden. »Sehen Sie, Käpt'n Korkoran«, sagte Tanaka mit düsterem Unterton in der Stimme. »Ihre Darstellung der Rettungsaktion muß also einen Fehler aufweisen. Vielleicht sollte Hashimoto einen kurzen Blick an Bord Ihres Raumschiffs werfen. Unse- rem Management wäre es äußerst peinlich ­ ganz zu schwei- gen von den legalen Problemen ­, wenn einer unserer Gäste einfach von Station Sieben verschwände. Sie verstehen doch meine Situation.« Hashimoto kletterte bereits die Leiter zum Cockpit des Shuttles Greenspace hinauf. Jesse sagte: »Wenn hier einer einen Fehler begeht, dann sind Sie das, Mr. Tanaka. Ohne meine Erlaubnis geht niemand an Bord. Laut Charta der Weltraumkonferenz handelt es sich bei der Greenspace II um ein Schiff mit voller diplomatischer Immunität.« »Vielleicht können wir diese Angelegenheit später in mei- nem Büro erörtern, Käpt'n Korkoran«, erwiderte Tanaka mit einem knappen Lächeln. »Chotto«, sagte Tom zu Hashimoto, als sie sich ihm oben auf der Treppe entgegenstellte. Sie zielte mit einer Weltraum- harpune auf seinen Hals. »Wohin des Wegs?« Hashimoto erstarrte. Er kletterte wieder mehrere Sprossen nach unten und schaute Tom finster an. »So ist's besser, mein Junge«, sagte Tom. »Diese Harpune dient dazu, übergroße Müllstücke, die man ins All geworfen hat, aufzufischen. Mir scheint, du hättest genau die richtige Größe.« »Schon gut, Hashimoto. Bleib, wo du bist«, befahl Tanaka. »Eine kluge Entscheidung, Tanaka«, sagte Jesse und nickte zustimmend. »Ich mag Männer, die mit dem Gehirn statt mit der Prostata denken. Und jetzt, wenn Sie mich bitte entschul- digen möchten, wir müssen wieder an die Arbeit. Lassen Sie uns abdampfen, Professor«, sagte Jesse und wandte sich an Gobi. »Ist hier auch alles zu Ihrer Zufriedenheit? Sie können uns noch immer begleiten, wenn Sie möchten. Das Angebot steht.« Gobi hob grüßend die Hand. »Danke, Käpt'n. Kein Problem. Ich werde Ihnen beiden ewig dankbar sein.« »Sind Sie sicher?« Gobi salutierte. Mit einem Nicken des platinblonden Wuschelkopfs rief Tom Gobi zu: »Bleib locker, Kumpel.« »Also gut, Jungs, ich überlasse euch euren Angelegenheiten. Adios.« Jesse drehte sich um und stieg wieder die Leiter hinauf. Sie zwinkerte Tom zu, als sie das Shuttle betrat, und verriegelte die Luke hinter sich. »Nun, Dr. Gobi«, sagte Tanaka, als sie sich vom Schiff ent- fernten. »Sie scheinen die Angewohnheit zu haben, überall dort aufzutauchen, wo es Ärger gibt.« »Vielleicht ist das ja nur Zufall.« »Ich glaube kaum«, erwiderte Tanaka schroff, während sie zusahen, wie der psychedelisch bemalte Schlepper vom Deck abhob. »Ich persönlich ziehe es vor, das als eine Form negati- ver Synchronizität zu betrachten.« Haus der Tengus War es eine Form negativer Synchronizität? Gobi warf und wälzte sich auf dem Futon in seiner Suite von einer Seite auf die andere. Tanakas Bemerkung ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Wie passend sie ihm jetzt erschien! Wie ein Narkoleptiker, der darum kämpft, a) wach zu bleiben oder b) schnell wieder einzuschlafen, konnte Gobi sich nicht entscheiden, was er mit dem heruntergeladenen Bewußtsein anfangen sollte. Wachen oder Träumen, die Gefahr war die- selbe. Das entführte Kobayashi-Bewußtsein war dicht unter dem vierten Chakra in Höhe von Gobis Herz in helle Aufre- gung geraten. Die Rippen brannten in seiner Brust wie glü- hende Vergißmeinnicht. Gobi stöhnte, als sein Herz schlappmachte. So lange hatte er dem Prana eines anderen noch nie stand- halten könnten. Zwei Lebensströme waren zusammengeflos- sen: der von Gobi und der von Kobayashi. Ihr Karma war jetzt siamesisch vereint. Sie waren Zwillinge, Blutsbrüder, Brüder im Chi. Oder machte er sich nur etwas vor? Plötzlich tat sich eine Öffnung innerhalb einer Öffnung auf, und Gobis Nervensystem verspürte den Schock der Kobayas- hi-Daten. Im Grunde lud es ihn wie bei einem Kundalinistoß mit Energie auf. Gobi lag hilflos auf dem Futon und durchtränkte das Bett- zeug mit seinem Schweiß, während die Daten auf seiner Brust tanzten. Er sah kleine blaue elektrische Explosionen aus sei- nem Yukata hervorschießen und glaubte, sein Herz werde schmelzen, aber es hatte einen eingebauten Überspannungsab- leiter, und so überlebte er ihrer beider Tod. Kleine Tengus, japanische Cyberkobolde mit langen roten Nasen und keckerndem Lachen, liefen unentwegt im Tatami- zimmer herum. Gobi konnte ihnen bloß zuschauen, ein Gefan- gener ihres Feuerzaubers. Gegen Morgen beruhigte sich die Kobayashi-Energie und zog sich wieder in sein Herz zurück. Gobi fand kurze Zeit Ruhe, dann setzten die Schmerzen er- neut ein. Waren es seine Schmerzen oder Kobayashis? Er lachte über die Absurdität des Gedankens. Welchen Unterschied machte das schon? Dann wurde ihm klar, daß die Schmerzen als Führer zu ihm kamen. Sie waren wie eine praktische Anlei- tung für die Pflege und Ernährung seines zeitweiligen Gastes. Sie enthielten alle Geheimnisse und alle Strategien für seine erfolgreiche Unterbringung. Meistere Kobayashis Schmerzen, und du wirst ihn bezwingen. Bezwinge deine eigenen Schmerzen, und du kannst dir das, was du getan hast, verzeihen. Das, was du noch tun wirst. Endlich schlief Gobi ein. Tief. Er saß in seinem Detektivbüro über der italienischen Bäckerei in North Beach und empfing die Klienten, wie er es auf der Schule für Psychoschnüffler gelernt hatte: die Füße auf dem Schreibtisch, eine Augenbinde überm Gesicht, in tiefer Trance, während er über Kopf- hörer einem Hemisync-Tape vom Monroe-Institut lauschte. Als erstes kam ein amerikanischer Eingeborenengeist vorbei, um die Miete zu kassieren. Dann erschien ein Edelfräulein aus der Tang- Dynastie, die ihre kostbare Jadebrosche vermißte. Anschließend eine Italienerin aus dem sechzehnten Jahrhundert, die ihren Mann einer Affäre mit einer Magd aus dem achtzehnten Jahrhundert verdächtig- te. Dann kam er hereingeschlurft. Ein alter Japaner in schäbigem Mantel mit Karomuster, den schmutzigen Schal um den Hals geschlungen, auf dem Kopf einen schmierigen Filzhut, der aussah, als habe man ihn in eine Küpe Tempuraöl getaucht. Da es sich um einen Wachtraum handelte, erkannte Gobi ihn sofort. Er hatte gelbe Flecken in den Augen, und seine Kehle rasselte wie vom Tod ge- zeichnet. »Was kann ich für Sie tun?« fragte Gobi. So intensiv, wie der Japaner ihn anstarrte, wußte Gobi, daß auch er das wußte. Jedenfalls mußte er auf irgendeiner Ebene etwas vermuten. »Es geht um eine vermißte Person«, sagte der Alte schließlich. »Ja?« Gobi wartete. Der Alte ließ den Blick durchs Büro schweifen, als könnte der oder die Gesuchte rein zufällig in einer Ecke des Raums einfach so auf dem Boden liegen. Dann schaute er wieder Gobi an. »Ein Mann wird vermißt. Ich möchte, daß er gefunden wird.« »Hat er auch einen Namen?« Der Japaner spielte nervös mit der Krempe seines Filzhuts. »Kann mich nicht genau erinnern.« »Also, was glauben Sie wohl, wie ich ihn finden soll, wenn Sie nicht einmal seinen Namen kennen?« Der Alte seufzte. »Es kommt und geht.« Dann lächelte er. »Ja, jetzt weiß ich's wieder. Kobayashi, Ryutaro. So heißt er. Können Sie mir dabei behilflich sein, ihn zu finden, Sir?« Der Abflug Es wurde Zeit, sich auf den Weg zu machen. In fünfundvierzig Minuten startete die erste Limousine nach New Narita. Die tausendundeine brühheißen Nadeln der Dusche erweckten Gobi zu neuem Leben. Nachdem er sich weitere sechzig Sekunden mit eiskaltem Wasser abgeduscht hatte, freundeten seine rechte und seine linke Gehirnhälfte sich wieder miteinander an. Die Hölle seiner Alpträume der vergangenen Nacht war vorerst gewichen. Jetzt war hinter seiner Stirn wieder freier Raum, wie bei ei- nem Fernseher, der auf einen toten Kanal eingestellt ist. Gobi kleidete sich schnell an, schnappte sich die Aktentasche und ging durch den Korridor zum Lift. Das Limousinendeck befand sich Ebene zweiundzwanzig. Gobi hatte nicht reserviert, aber das war eigentlich auch nicht nötig. Er steckte der Frau am Eincheckschalter eine Neue-Yen- Münze zu und wurde automatisch an den Anfang der Stand- by-Liste gesetzt. Die Nissan-Weltraumlimousine hatte Platz für vierund- zwanzig Passagiere. Es handelte sich um ein schlankes Z-12- Modell, das den Flug bis zum letzten Shuttleflug um vier Nachmittags ein halbes dutzendmal am Tag machte. Gobi besorgte sich an der Snackbar zum Frühstück einen Espresso und ein Zimtkelp-Stäbchen. Außerdem zog er sich eine Hardkopie der Mainichi Daily News, die erst am Morgen von Neo-Tokio aus abgestrahlt worden war. Die Schlagzeile lautete: »Verschollener japanischer Soldat fünf- unddreißig Jahre nach UN-Friedensmission im Dschungel von Kambodscha entdeckt.« Gobi setzte sich und wartete darauf, an Bord gehen zu dürfen. Anscheinend war die Maschine voll besetzt. Es hingen ein paar Geschäftstypen, drei oder vier Flitterwöchner und meh- rere Fremde wie er selbst herum. Er musterte sie einen Mo- ment lang. Sie wirkten wie Gaijin-Angestellte, die in ihre Heimatbüros zurückkehrten. Sie sehen nicht so aus, als reisten sie gern nach Neo-Tokio, dach- te er. Aber wer kann es ihnen verdenken? Man muß halt nicht nur ein Workaholic sein, um sich dort einen Gehaltsscheck zu verdienen, sondern am Ende des Tages verschwindet man auch noch ratzeputz samt Körper. Puh. Einer der Gaijins, ein junger Australier mit blondem Haar, ließ sich auf dem Platz neben Gobi nieder, »'n Morgen, Kum- pel«, sagte er und schob seine Aktentasche unter den Sitz. »Schätze, in ein paar Minuten dürfen wir an Bord. Für welches Retsu gehen Sie denn anschaffen?« fragte er. Gobi hob eine Augenbraue und schüttelte den Kopf. Der Australier grinste und hielt ihm die Hand hin. »Wie läuft's? Ich bin Sandy Findehorn. Aus Melbourne. Es stört Sie doch nicht, wenn ich ein bißchen neugierig bin, oder? Wenn ich auf Reisen bin, ist das für mich eine Art Spiel. Ich versuche die Berufszugehörigkeit zu raten, wissen Sie. Hilft mir dabei, die Zeit zu vertreiben, und bricht das Eis.« »Ich bin Frank Gobi aus San Francisco«, sagte er und schüt- telte dem jungen Mann die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Kumpel. Sagen Sie nichts mehr, das mache ich schon. Mitsubishi.« »Leider nein.« »Daihatsu.« »Leider nein.« »Shiseido-Palmoliv.« »Ich fürchte, das waren drei Schlagfehler.« »Verdammt! Dabei bin ich's doch gewöhnlich, dem man die Drinks ausgibt«, grinste Findehorn. »Heute ist wohl nicht mein Tag.« Er hielt kurz inne, ehe er fortfuhr: »Und welchen Bluttyp haben Sie? A? Machen sich über alles Gedanken, was?« »Nein.« »Ein 0-Typ sind Sie garantiert nicht.« »Da haben Sie recht.« Gobi plauderte weiter mit dem hy- peraktiven Australier, behielt dabei aber einen athletisch wirkenden Japaner im Auge, der gerade auf der Rolltreppe in den Wartebereich hinunterfuhr. Es war Hashimoto, Axel Tanakas rechte Hand in Sicher- heitsfragen bei Kobayashi. Das Datenübertragungsgerät an seinem Gürtel piepte, als er die Vorhalle zum Eincheckschalter durchquerte. Er wechselte einige Worte mit der Frau hinterm Schalter und ging die Passagierliste des Shuttles durch. »Ich will verdammt sein, wenn Sie ein B-Typ sind... Sie se- hen zwar ganz so aus, als würden Sie einen auf Künstler machen, aber da ist noch etwas.« »Tut mir leid, Findehorn, wieder daneben.« Aber diesmal war es Gobi, der den Einsatz verpaßte. Auch der Australier hatte Hashimoto gespannt beobachtet. Zu Gobis Erstaunen erhob er sich plötzlich und murmelte: »Wir sehen uns später an Bord, Kumpel.« Findehorn nahm seine Aktentasche und ging schnellen Schritts zum Boardingbereich hinüber, wo er versuchte, an Bord der Z-12 zu gelangen. Einer der Aufseher hinderte ihn höflich daran, das Dock zu betreten. Er deutete auf seine Uhr. Findehorn ignorierte ihn und machte Anstalten, sich an ihm vorbeizudrängen. Der Aufruhr am Tor erregte Hashimotos Aufmerksamkeit. Er nickte zwei Männern zu, die im Hintergrund gewartet hatten, und zu dritt näherten sie sich dem Australier, der eine hitzige Debatte mit dem Flugpersonal angefangen hatte. »Hören Sie, ich muß jetzt da rein und meine Medizin neh- men, verstehen Sie? Anordnung des Arztes!« Als er Hashimoto mit zwei Männern auf sich zukommen sah, stieß Findehorn den Aufseher mit der Aktentasche beisei- te und rannte zur Rolltreppe. »Haltet ihn auf!« rief Hashimoto. Auf halber Höhe der Treppe, Hashimoto und seine Leute waren keine zehn Meter mehr hinter ihm, fuhr Findehorn herum und warf seine Aktentasche auf die Verfolger. Er griff ins Jackett, und alle erstarrten. Hashimoto und seine beiden Leute duckten sich, als Finde- horn ein Reagenzglas herausholte und hochhielt. »Ich warne euch, der Stoff hier ist äußerst explosiv! Wenn ihr noch einen Schritt näher kommt, fliegt das ganze Schiff in die Luft!« Überirdische Stille erfüllte die Abflughalle. Nur die po- chenden Vibrationen des Z-12-Shuttles im Startbereich unter- brachen das Schweigen. Gobi sah dem Unvermeidlichen zu. Findehorn hielt die Phiole hoch und ließ es auf eine Kraft- probe mit Hashimoto und seinen Wachleuten ankommen, die noch ein Dutzend Schritte entfernt waren und sich auf der Rolltreppe langsam näherten. Da er mit dem Rücken zur oberen Lounge stand, konnte Findehorn den Mann, der ihn am Ende der Rolltreppe erwar- tete, nicht sehen. Es war Axel Tanaka. In Tanakas Hand blitzte etwas auf, und Findehorn stürzte seitlich über den Handlauf. Er ließ die Phiole fallen, und Hashimoto sprang vor, um sie aufzufangen. Einen Moment lang hielt er sie tatsächlich in der Hand, doch dann entglitt sie ihm und fiel auf den Hallenboden. Die Phiole zerplatzte, und der Inhalt ergoß sich über den Kunst- stoffbelag. Gobi spürte ein mächtiges Zittern, das die ganze Halle wie ein kleines Erdbeben erschütterte. Der Hardkopiespender trat in Aktion, und unzählige Exemplare der Mainichi News verteil- ten sich über den Boden. Aber es kam zu keinem Nachbeben. Tanaka ging zu ihm hinüber. »Haben Sie nicht etwas zu verzollen, Dr. Gobi?« Gobi erwiderte den Blick, ehe er antwortete: »Nicht daß ich wüßte. Sayonara.« Es war eine Erleichterung, endlich das Shuttle zu betreten. Die schwenkbaren Rotoren der Z-12 begannen lauter und lauter zu dreschen, während die Passagiere an Bord gingen. Weil der Sicherheitsdienst von Kobayashi erst aufräumen mußte, hatte sich der Flug um zwanzig Minuten verspätet. Es war noch zu einer weiteren Verhaftung gekommen, als ein Papua aus Neuguinea versucht hatte, einige exotische Vögel nach Neo- Tokio zu schmuggeln. Was hatte Tanaka damit gemeint, als er ihn fragte, ob er etwas zu verzollen habe? überlegte Gobi. Wußte er von seinem heimlichen blinden Passagier? Von Ryutaro Kobayashis Bewußtsein? Gobi hatte wieder dieses Gefühl wie Sodbrennen in Höhe des drit- ten Chakras. Dort war das Bewußtsein des alten Mannes unterge- bracht, und zwar noch so lange, bis er wußte, was als nächstes damit geschehen sollte. Er hatte sich vorgestellt, wie es wohl wäre, ihn in einem Tresor- fach unterzubringen, zusammen mit alten Ausgaben von Spektrum von Nippon und der Nikkei Business Week, damit er etwas zu tun hatte. Zusammen mit der Takarazuka-Theatergruppe, die sich nur aus Frauen zusammensetzte, oder sogar einem Kabelkanal- Prediger. Ryutaro Kobayashi hatte keine Ahnung, daß man sein Bewußt- sein heruntergeladen hatte, geschweige denn, daß er technisch gesehen zwar nicht tot, aber holistisch betrachtet doch in einer Art Vorhölle gefangen war. Gobi wußte nicht, wie lange er diesen Zustand noch aufrechter- halten konnte. Bei seinen bisherigen DNI-Versuchen war er niemals so weit gegangen. Die Magenkrämpfe im Bereich des Hara wurden immer stärker. Gobi hörte eine vertraute nasale Stimme. »Na so was, wenn das nicht der Professor ist! Die Welt wird doch zusehends kleiner, stimmt's, Doc? Das nenne ich mal eine wissenschaftli- che Tatsache.« Die Filigranarbeit aus Silberketten raschelte an seiner Wan- ge, als der Latino-Yakuza Carlos Morales sich neben Gobi in den Sitz sinken ließ. »Puh«, sagte er und machte es sich bequem. »Offenbar habe ich den Flieger gerade noch erwischt. Ich war etwas spät dran. Wenn auch nicht so spät wie unser toter Freund neulich, hä? Der schafft's nicht mehr.« Carlos lachte. »Man hat es schon schwer im Leben.« »Weiß Gott.« Gobi blickte ihn säuerlich an. Er war sich nicht sicher, ob er froh war, den Latino zu sehen. Vielleicht war er ja nur abergläubisch wegen des letzten Mals, als sie miteinander geflogen waren. »Er war Laufbursche, Mann. Aber von der falschen Seite des Zauns. Ein Hosenscheißer-Gumi aus Queensland. Die halten sich für smart und rechnen nicht mit den großen Nummern. Die Gier erwischt einen immer, schneller als Cho- lesterol, Amigo.« Die Z-12 entfernte sich von Station Sieben. Gobi konnte das grüne Netz des Golfkurses und die weiße Burg mit dem Nachbau der Steinmauern aus dem sechzehnten Jahrhundert erkennen. »Die Yaks benutzen die Station als Umschlaghafen für Hirn- Eis aus den Labors im Dreieck. Sie mögen's nicht, wenn sich andere einmischen. Sie glauben, der Markt gehört ihnen. Typisch Platzhirsche. Die Kobayashis nehmen sie freundli- cherweise auf. Man könnte sagen, es ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit.« Carlos hielt inne. »Klar, daß ständig neuer Dreck dazu- kommt.« Er lachte. »Sie wissen schon, Dreck wie 4.0... Die Aussies haben Geschäfte mit den Westküstenjungs gemacht. Das hat unseren Freund vor dem Start in Schwierigkeiten gebracht. Haben Sie das Beben gespürt? Prima Zeug. Ach, was für eine Vergeudung.« Carlos beugte sich seitlich weg, einem japanischen Ge- schäftsmann zu, der die Silberketten in seinem Gesicht anstarr- te. »He, was glotzt du so? Willst du mich anmachen oder was? Chotto!« Entsetzt wandte der Japaner sich ab. »Yeah«, fuhr Carlos fort. »Die japanischen Hacker-Zokus, frisch aus Silicon Valley, haben Geschmack an dieser neuen Drecksbranche gefunden. Fegt einen glatt weg, Mann. Buch- stäblich.« »Worum handelt sich's?« »Schon mal was von San Andreas 8.0 gehört?« Gobi schüttelte den Kopf. »Nein.« »Eine Unze San Andreas geht für 500 Neue Yen weg, un- verschnitten. Verschnitten kann man noch zehnmal mehr rausschlagen.« »Was bewirkt es?« »Es ist ein Schuß künstlicher San-Andreas-Verwerfung.« »Sie machen Witze.« »Das Zeug ist so neu, daß bisher nicht mal der amerikani- sche Generalstabsarzt davon weiß. Es verstößt noch nicht gegen die Gesetze. Aber in Neu-Nippon ist es schon brand- heiß. Es ist einer unserer begehrtesten Exportartikel. Kleine Probe gefällig?« »Entschuldigen Sie, meine Herren.« Ein Z-12-Steward trat mit einem Tablett an sie heran. »Möchten Sie vielleicht einen Champagner?« »Mein Freund und ich unterhalten uns gerade. Stören Sie uns nicht.« Carlos verzog das Gesicht und öffnete den Mund, so daß seine ganzen Zähne, seine Wurzelkanäle, die Goldar- beit im Moorish-Stil und die Keramikkronen zu sehen waren. Der Steward zog sich hastig zurück. »Hai.« »Hier«, sagte Carlos und ließ ein Fläschchen in die Brustta- sche von Gobis Jacke gleiten. »Heben Sie sich das für den Augenblick auf, in dem Sie sich das Hirn rausbomben wollen. Das ist wie Traumzeit-Nitro, Mann. Man nennt es nicht um- sonst San Andreas. Nehmen Sie's, Mann. Ich bestehe darauf.« Kurz darauf kehrte der Steward zurück. Sein Gesicht zeigte den Ausdruck leiderfüllter Höflichkeit. »In etwa zehn Minuten erfolgt der Wiedereintritt. Würden die Herren jetzt bitte ihr PVI-Serum nehmen? Das ist gesetz- lich vorgeschrieben.« Gobi nickte. »Vielen Dank.« Er holte den PVI-Besteckkasten aus seiner Aktentasche. Er zerbrach das Siegel und zog eine kleine Phiole mit dem psychoviralen Impfstoff heraus. Einige Angestellte, die in der Nähe saßen, lächelten und verbeugten sich bei seinem Anblick. Gobi brach den Glasnippel der Phiole ab und saugte mit einem kleinen Strohhalm das Serum heraus. Es schmeckte süß. »Nehmen Sie Ihres nicht?« fragte er Carlos. Carlos schüttelte den Kopf. »Ich nicht, Mann. Das hier ist mein Gift.« Er öffnete die Tabaksdose, schob sich ein Shabu- Stäbchen in den Mund und saugte daran. Er schaute aus dem Fenster. »Was sagt man dazu, Professor. Neu-Nippon.« New Narita Große Regentropfen setzten sich glitzernd an den ovalen Bullaugen fest, als wären sie Wimpern. Gräulichgrüner Dunst waberte über den Reisfeldern. Die Bucht lag wie ein Tinten- fisch da, über den man eine brackige Persenning ausgebreitet hat. Kelpzuchtfarmen, zu einem Schachbrettmuster miteinan- der vertäut, dümpelten auf den sich kräuselnden Gezeitenwel- len dahin. Nach der Landung auf der Rollbahn stand die Nissan- Weltraumlimousine einen Moment lang still. Dann schwangen die Türen auf, und die Passagiere strömten auf die regenge- tränkte Teermakadamdecke hinaus. Gestalten in Day-Glo- Ponchos und glänzenden schwarzen Gummistiefeln standen mit Fackeln außerhalb des Kreises. Als die Passagiere das Shuttle verließen, verbeugte sich der Flugbegleiter vor jedem einzelnen. Gobi und Carlos folgten dem Strom der Passagiere über die nasse Rollbahn. Sie gingen auf etwas zu, das wie Treppen aussah, die in ein aufgeblähtes, zeltartiges Gebäude hinein- führten. Dicke Plastikplanen erstreckten sich über die gesamte Länge des Terminals; ein gelbliches, chemisches Licht sickerte hindurch. Gobi kam sich vor, als laufe er durch die medizinische Ab- teilung eines Krankenhauses. Im Innern des Terminals drängten sich kleine Ansammlun- gen von schweigenden Menschen. Gobi fragte sich, ob es sich um Reisende handelte oder ob sie wirklich hier lebten. Damp- fende Kelpbuden und Nudelstände wirkten wie Zentren für die Verteilung von Nahrungsmitteln. Menschen, die Chawan- Schüsseln und Eßstäbchen hielten, bildeten Schlangen und warteten darauf, an die Reihe zu kommen. Die Gespräche wuchsen jetzt zu einem verwirrenden Sum- men an. Es klang, als würden alle Gespräche nur noch von einem Notstromgenerator aufrechterhalten. Endlich war Gobi am Ziel. Er kam sich ein wenig verloren vor. Er wußte nicht, ob die Satori Corporation jemanden geschickt hatte, um ihn abzuholen. Schließlich hätte er eigentlich schon gestern eintreffen müs- sen. Wie sollte er jetzt ins Stadtzentrum zum Satori-Haupt- quartier kommen? Wie funktionierte hier alles? Funktionierte es überhaupt? Gobi blickte in die Gesichter rings um ihn herum und hoff- te, Anschluß finden zu können. Immerhin waren es menschli- che Wesen wie er. Auch wenn sie wer weiß was durchgemacht hatten, es noch immer täglich durchmachten. Ganz zu schwei- gen von den Nächten, in denen die Matrix wechselte. Aber das würde er ja bald selbst herausfinden. Einige Menschen im Terminal spürten seinen Blick und er- widerten ihn, boten ihm alles dar, was in ihrer Macht stand. Einen Einblick. Aber in was? Gobi fiel auf, daß viele dieser Menschen noch nicht einmal Japaner waren. Es handelte sich um Südasiaten und Südostasiaten ­ Inder, Pakistani, Bangla- deschi, Philippinos, Indonesier, Malaysier, sogar Türken und Mongolen. Noch immer kamen die armen Einwanderer auf der Suche nach einem besseren Leben hierher. Konnte das Leben im eigenen Land wirklich so hoffnungslos sein? Vielleicht zogen sie es ja nur vor, ins Unbekannte zu verschwinden, statt sich den vertrauten Schrecknissen zu stellen? Gobi fiel etwas Merkwürdiges auf. Die Kleidung, die die Menschen hier trugen, schien aufgebläht zu sein. Schulterpols- ter, Brusteinlagen, Haramaki-Schärpen und Knieschützer. Viele sahen so aus, als trügen sie aufblasbare Kammern am Leib. Was für eine Art Mode war das? fragte sich Gobi. Was hatte das zu bedeuten? »Mist, ein Beben, Mann!« rief Carlos im selben Moment, in dem Gobi die plötzliche Erschütterung spürte. Eine Schockwelle beulte die aufgeblähten Böden und Wän- de des Terminals ein, und die aufgeblähten Menschen ruder- ten hilflos ums Gleichgewicht. Wer die Balance verlor und zu Boden stürzte, prallte ab und kam unversehens wieder zum Stehen. »Nicht zu fassen! Sie tragen Luftkissen!« rief Carlos, nach- dem das Beben verebbt war. »Echt irre! Sobald ich in der Stadt bin, kaufe ich mir auch so einen Anzug, der vor dem Aufprall schützt. Den erstbesten!« Durch die transparente Vinylröhre hindurch, die sie beim Verlassen des Terminals passierten, sahen sie den purpurfar- benen Himmel. Sie traten in ein unglaubliches Getöse aus Taxis, Motorrollern und in ein Durcheinander von gepolster- ten Schwebe-Rikschas hinaus; Unmengen von Japanern wusel- ten herum. Über dem Wirrwarr auf dem Boden schickten riesige Neon- schilder flackernd ihre grünen, roten und blauen Werbebot- schaften hinaus. Mit Passagieren beladene lenkbare Luftbusse stiegen von mehreren Depots auf und strebten verschiedenen Zielen irgendwo in der großen Stadt zu. Gobi stand auf dem Gehweg und atmete in tiefen Zügen die Atmosphäre von Neo-Tokio ein. Sie elektrisierte ihn. Seine Nasenflügel fühlten sich an, als saugten sie Schwaden atomi- sierten Streusands ein. Er nieste und verfiel dann in ein stoß- weises Husten. Er würde das Atmen erst wieder lernen müs- sen, das stand fest. Mittlerweile sickerte die ionengeschwängerte Luft in sein Gehirn ein. Er sah eine dunkle Parabel, die verschiedene Grüntöne annahm, dann einen hellgelben Lichtblitz. Die Farben, die in sein Gehirn rasten, waren von lebhaftem Infor- mationspink und hellem Cyberblau. In dem Augenblick meldete sich die verzögerte Nervenan- passung zu Wort. Es war überwältigend ­ beinahe zuviel für Gobis sensorischen Input. Er hatte ja nicht geahnt, daß man in einer Umgebung, die so stark mit Energie aufgeladen war, überhaupt leben, geschweige denn sich bewegen und atmen konnte. Selbst das Gefühl, das Kobayashi-Bewußtsein in sich zu tragen, war nichts dagegen. Plötzlich brandete alles über ihm zusammen. Flux in crisis. Anders ließen sich die sekündlichen Energieveränderungen, die um ihn herum stattfanden, nicht beschreiben. Sein Körper erbebte. Wie konnte jemand diese Energien ertragen, ohne zusammenzubrechen? Gobi warf Carlos einen Blick zu. Wie schaffte er das? Er hat- te sein PVI nicht genommen, und doch berührte ihn das neu- rologische Wechselbad offenbar gar nicht. Es war fast, als wäre der Latino-Yakuza kein Mensch. Carlos grinste ihn an, als läse er Gobis Gedanken. »Das pas- siert alles nur in Ihrem Kopf, Cojone. Das lernen Sie auch noch. Ein bißchen hiervon, ein bißchen davon. Nichts ist, was es zu sein scheint.« Er holte seinen Shabu-Koffer hervor und saugte an einem Kristallstäbchen. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich mein eigenes Gift dabeihabe, Bruder.« Gobi spürte die Phiole mit San Andreas 8.0 in der Brustta- sche. »Sind Sie sich auch sicher, was den Stoff angeht?« Er zog sie heraus. Er kam sich vor, als begäbe er sich auf eine phar- mazeutische Safari. Carlos riet ihm ernst: »Ich gebe Ihnen einen Tip, was das 8.0 betrifft, Mann. Wenn es soweit ist, werden Sie schon wissen, wann Sie es benutzen müssen. Wenn Sie dieses Beben tief drinnen spüren, dann ist der Augenblick gekommen, das Zeug einzufahren. Auf der ganzen Welt gibt es kein besseres Ge- genmittel zum Flux.« »Wieso haben Sie mir das gegeben?« fragte Gobi ihn. »Ich kapier es nicht. Wieso sollte es Sie interessieren, was aus mir wird?« Carlos schlug ihm spielerisch ins Hara, wo Kobayashis Be- wußtsein sich in der ungewöhnlichen Atmosphäre von Neo- Tokio wieder zu rühren begann. »Wer hat denn behauptet, daß es hier um Ihre Interessen geht?« Dann blickte er auf und meinte: »He, Amigo, Sie haben mir gar nicht gesagt, daß ein Samurai Sie vom Flugplatz abholt.« Yaz Der Japaner machte den Eindruck, als surfe er auf den Kör- pern der Luftkissen-Menschen. Gobi fiel auf, daß er anders als sie gekleidet war. Er hatte eine Samurai-Frisur mit Haarknoten und einer blauen rasierten Stelle auf der Stirn. Er war zwar klein, wirkte aber drahtig, wie er so in seiner viel zu weiten Hose und den Kung-Fu-Schuhen mit Baumwollsohlen auf Gobi zugetänzelt kam. Der Sam trug außerdem eine viel zu weite Weste mit einer Anzahl Videoknöpfe, die vorn eine blinkende Collage aus wechselnden Zeichentrickmangas bildete. Er hatte sich einen Matchbeutel aus Segeltuch über die Schulter gehängt, aus dem eine Bambusflöte ragte. In seinem Sash steckten zwei Schwer- ter, ein langes und ein kurzes. »Dr. Gobi?« erkundigte er sich, nachdem er sich das Shas- hin von Gobis Gesicht angesehen hatte, das er in der Hand hielt. Mit demselben Blick musterte er auch Carlos von oben bis unten. Seine Höflichkeit war nicht ohne Schärfe. »Dozi yoroshiku.« Gobi verbeugte sich. »Willkommen in Neo-Tokio«, erklärte der Mann in tadello- sem Englisch, das aber einen leichten Akzent aufwies. »Mein Name ist Yasufumi Sakai. Ich arbeite in der Werbeabteilung der Satori Corporation.« Er präsentierte mit beiden Händen seine Kontokarte und verbeugte sich erneut. Das Holo-Meishi flackerte, als Gobi es entgegennahm. »Domo«, sagte er noch einmal zu dem merk- würdig aussehenden Japaner. »Bitte nennen Sie mich Yaz.« »Na schön, Yaz. Wenn Sie mich Frank nennen, okay?« »Okay.« Er verbeugte sich. »Frank-san.« Er hielt inne, ehe er fortfuhr: »Ich bin Ihre Eskorte für Neo-Tokio.« Dann fügte er hinzu: »Wir haben Sie schon gestern erwartet. Aber Ihr Flug hatte wohl technische Schwierigkeiten?« Tiefsinnig atmete er aus. »Und Sie mußten wohl über Station Sieben herkommen?« »Ganz recht.« »So dezu ka?« Yaz' Blick verweilte einen Moment auf Car- los. »Das ist Señor Morales«, stellte Gobi ihn vor. »Wir haben von Amerika aus denselben Flug genommen. Und zufälliger- weise sind wir auch im selben Shuttle von Station Sieben nach Narita gereist.« »Moshi moshi«, winkte der Latino Yaz zu. Seine Silberket- ten klimperten. Ein Hauch von Amüsement lag auf Yaz' Gesicht. »Aha, Sie sprechen sehr gut Japanisch.« Dann fragte er ihn mit dem Anschein fürsorglicher Hilfsbe- reitschaft: »Haben Sie Vorkehrungen für Ihre Ankunft in NeoTokio getroffen? Holt Sie jemand ab?« Yaz schaute sich in der Menge auf dem Bürgersteig um. »Nein, ich reise allein«, sagte Carlos gedehnt. »Wär's viel- leicht möglich, daß Sie mich mitnehmen? Das wüßte ich wirk- lich zu schätzen. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich mein Nihongo im Barrio gelassen.« »Ah.« Yaz entschuldigte sich mit einer Verbeugung. »Ich bedaure zutiefst. Leider habe ich nur Platz für einen Passa- gier.« »Nur für einen Passagier? Was fahren Sie denn, ein Skate- board?« Yaz hob den linken Arm. Als sein Ärmel zurückglitt, sah Gobi einen Handschuh, der bis zum Unterarm hinaufreichte. »Tomo!« kläffte er hinein. »Koi!« Wenige Augenblicke später kam das unglaublichste Motor- rad, das Gobi jemals gesehen hatte, mit eingeschalteten Kor- rekturtriebwerken an den Bordstein geprescht. Es handelte sich um eine Haniwa Mag-1000. Außer im Neiman-Seibu-Katalog hatte Gobi noch nie eine zu Gesicht bekommen. Sie hatte einen Beiwagen und fuhr mit Chi-Energie. Außerdem war sie bi-navigational. Das hieß, daß man sie zwar auch auf normalen Straßen benutzen konnte, sie aber erst auf dem Maglev-Freeway zeigte, was tatsächlich in ihr steckte. »Dozo.« Yaz machte eine Geste zu Gobi. »Das ist Tomo«, sagte er und tätschelte das Kopfteil der Maschine. »Mein Stahlroß. Es wird uns in die Stadt tragen. Bitte steigen Sie ein.« Tomos versenkte Infrarotaugen registrierten Gobis Körper- schema. Daraufhin stellte das Motorrad den Sitz des Beiwa- gens automatisch so ein, daß Gobis lange Beine darin Platz fanden. Verdammt wollte er sein, wenn sich die beiden Radar- ohren nicht aufstellten und die Maschine, als sie den Verkehr überprüfte, den Kopf wandte. Sie gab sogar eine Art Wiehern von sich. Gobi stieg in den Beiwagen und verstaute seine Aktenta- sche unterm Sitz. »Tja, dann ist jetzt wohl der Augenblick gekommen, sich Sayonara zu sagen«, meinte er zu Carlos. »Viel Glück.« »He, Moment mal, und wie komme ich in die Stadt, Mann?« protestierte der Latino. »Für den normalen Reisenden ist das die beste Methode«, sagte Yaz und deutete zum Luftschiff-Bahnhof. Dort standen lange Schlangen von Luftkissen-Menschen, die auf den Heliumbus Richtung Stadtmitte warteten. Einige Busse waren schon startbereit, während andere noch in Park- position über dem Teermakadam schwebten. Diejenigen, die gerade Passagiere aufnahmen, hatten ihre aufblasbaren Trep- pen bis zum Boden ausgefahren. »So also, hä? Daß ihr beide euch nur keinen abbrecht«, sagte Carlos verärgert und ging, sein Kleiderbündel geschultert, zum Heliumbus-Bahnhof. Yaz setzte einen im Samuraistil gearbeiteten Motorradhelm auf und bestieg Tomos Sattel. »Ihr Helm liegt auf dem Arma- turenbrett«, erklärte er Gobi. Brüllend erwachte die Maschine zum Leben und tänzelte eine Weile über die Straße. Dann manövrierte sich das Ma- glev-Motorrad nach einen geradezu eleganten Aufbäumen über die Fahrbahnen für den hereinkommenden Verkehr in einen blutgetränkten Neo-Tokio-Morgen hinaus. »Yo«, befahl Yaz, als sein Stahlroß eine Abzweigung er- reichte. Sobald er die Zügel lockerte, raste Tomo auch schon wie ein Geschoß davon. »Ich habe dem Büro Bescheid gegeben, daß Sie unterwegs sind«, erklärte ihm Yaz. »Man erwartet Sie schon.« Erst wenige Minuten waren vergangen, seit sie New Narita verlassen hatten, und sie brausten bereits durch eine dichtbe- völkerte Vorstadt aus miteinander verbundenen geodätischen Dörfern, die man auf beiden Seiten des Freeways errichtet hatte. Gobis Helm enthielt nicht nur ein Sendeempfangsgerät, sondern auch ein Navigationsauge, das ihm einen 360-Grad- Blick ermöglichte. Auf mehreren Ebenen schwebten Reisfelder wie Spielkar- ten, die gemischt und ausgeteilt worden waren, mitten in der Luft erstarrt. Der Verkehr bewegte sich mit Geschwindigkei- ten von rund dreihundert Stundenkilometern zügig voran. Obwohl Gobis Helm klimatisiert war, schmeckte er das sau- re Aroma der Ionen, die einem riesigen Grill tief unter dem Erdreich zu entsteigen schienen. Kein Wunder, denn so weit das Auge reichte, war die Land- schaft von gigantischen Hügeln übersät. Gobi vermutete, daß es sich um Untergrundstädte handelte. Plötzlich kippte der Freeway vornüber. Zu Gobis Erstaunen reisten sie jetzt durch das Innere einer dieses Hügelstädte. Der überirdische Maglev-Highway war plötzlich zu einer durch- sichtigen Arterie geworden. Ungefähr dreißig Stockwerke über Bodenhöhe flogen sie durch eine Röhre. Auf beiden Seiten befanden sich Reihen unterirdischer Hochhäuser, die eine Anzahl Parkanlagen und städtische Arbeitszentren überdachten. Überall im freien Luftbereich der Hügelgroßstadt navigier- ten Heliumschiffe. Gobi sah Passagiere, die sich auf dem Weg zur Arbeit an Halteschlaufen festhielten und in der Rush-hour-Hektik gege- neinanderpurzelten. Soweit Gobi das beurteilen konnte, waren die Bewohner der Inneren Stadt anders gekleidet als die Luftkissen-Menschen, die er auf Bodenhöhe gesehen hatte. Die Männer ähnelten eher Yaz. Manche trugen Frisuren nach Samurai-Art, andere wie- derum Zöpfe und eine lockere, schürzenähnliche Hose sowie Designeramulette und Schmuck. Die Frauen trugen Röcke und röhrenartige Oberbekleidung mit elegantem Faltenwurf. Ihre bevorzugte Frisur war offen- bar ein hoch aufragender Haarknoten, durch den Ziernadeln gesteckt waren. Die Kinder eilten auf dem Schulweg mit Ranzen auf den Schultern dahin. Auf den Straßen befanden sich Hunde, weiße Spitze und kleine rothaarige Akitas. Die Geschäfte hatten offene Ladenfronten und stellten eine große Auswahl an Waren zur Schau, von Obst und Gemüse bis hin zu Elektroartikeln. Gobi erkannte sogar das Wellen- schild für ein in der Nähe befindliches Badehaus. Yaz ging nicht mit dem Tempo herunter, um eine der Röh- renausfahrten zu nehmen, sondern beugte sich statt dessen auf seiner Maglev-Maschine vor, bis er einem Mongolenreiter glich, der über die Steppe galoppierte. Die durchsichtige Röhre, durch die sie preschten, stieg plötzlich im 90-Grad-Winkel an. Jetzt barsten sie aus etwas heraus, das wie ein großer Maulwurfshügel aussah. Ein mächtiger Luftstrom trug sie hoch hinauf ­ Gobi kam sich wie ein Korken vor, der auf dem Atemstrahl eines Wals tanzt. Er rang nach Luft. Endlich befanden sie sich im Stadtzent- rum von Neo-Tokio, dem Platinenherz des Rim. Gobi sah Welle um Welle von Türmen. Manche waren fünfhundert Stockwerke hoch und reichten fast bis über die Erdatmosphäre hinaus. Er sah den berühmten Aeropolis-Wolkenkratzer, mehr als lebensgroß, aber nicht viel anders als das Postkartenbild, das überall auf der Welt berühmt war. Wie ein Skelett-Fujijama aus lebenden Röhren stand er da, ein von Menschenhand geschaffener Vulkan, der in einer furchteinflößenden Symmet- rie von Leben und Tod pulsierte und atmete. Eine halbe Milli- on Menschen lebte in den oberen Stockwerken und pendelte von einem Vektor zum anderen. Geburt, Leben und Tod waren aufs Geratewohl gedrückte Fahr- stuhlknöpfe, dachte Gobi wie jemand, der im Traum philoso- phiert. Lebensformen tauschten so bereitwillig Energie und DNA aus wie Kontokarten. Wenn man im 230. Stockwerk ausstieg, dann war man nicht mehr die Person, die im 101. eingestiegen war. Im 403. Stockwerk tauchte man abermals als völlig anderes Wesen auf. Aber die Energie hinter der Verwandlung war gleich, zwischen allen Etagen und allen Wesen. Dieselbe Energie, die einen an die Spitze brachte, ließ einen auch wieder auf den Boden des Schachts sinken. Das war Gobis Vision, die er in einem ununterbrochenen Datenstrom in sich aufnahm; sie erschreckte ihn und verlieh ihm doch zugleich Kraft. Jetzt vernahm er das hohe Pfeifen von Wind, der in den Schluchten widerhallte. Es verklang aber bald im grollenden Echo von Yaz' Haniwa-Flitzer, als die stotternden Turbos sie auf Reiseflughöhe brachten. Im Leerlauf gingen sie auf der hellerleuchteten Landebahn des historischen Ginza Boulevard mit seinen anheimelnden Designer-Boutiquen und dem jahrhundertealten Kabuki- Theater nieder. Tomo, das Maglev-Roß, wieherte, als Yaz es vor dem schlanken Satori-Turm mit seinem weltberühmten Logo zum Stehen brachte. »Hai, Gobi-san, wir sind da«, sagte Yaz und stieg vom Sat- tel. »Der Verwaltungsrat erwartet Sie oben im Konferenzzim- mer.« Satori Gobi betrat ein Atrium, das vom Regenwald erobert zu sein schien. Aus lauter Unsicherheit, wohin er sich wenden sollte, blieb er stehen. »Frank-san.« »Ja?« »Hier entlang, bitte.« Yaz deutete auf einen glitzernden Vorhang in der Mitte der Lobby. Gobi schaute zu einem Wasserfall empor, der von der Spit- ze des Satori-Turms ganze dreißig Stockwerke über der Lobby herunterrauschte. Überall wuchsen in dichtgedrängter Fülle Kletterpflanzen, Bäume, Palmen und Sträucher. In den höheren Stockwerken konnte er Wolken ziehen sehen. »In den Wasserfall?« »Hai.« Ein Lächeln umspielte Yaz' Mund. »Bitte.« Gobi folgte seinem japanischen Führer über eine Hängebrü- cke, die in den Wasserfall hineinführte. Ein raffiniert ange- brachter verborgener Schutzschild verhinderte, daß sie naß wurden. Es war, als beträte man ein tropisches Vogelhaus. Schwär- me grellbunter Sittiche huschten zwischen den Bäumen umher und zwitscherten beim Fliegen. Die Schreie von Aras, Papa- geien und Hirtenstaren hallten rauh im Vogelhaus wider. Ein schimmernder Vorhang indigoblauer Schmetterlinge wehte wie ein organischer Saran-Wickelrock und löste sich dann vor seinen Augen in Nebel auf. Die Brücke führte zu einer Privatlobby im Innern des Was- serfalls. Dort erwartete sie ein schmaler Glaszylinder, dessen Tür offenstand. »Treten Sie bitte ein«, wies Yaz ihn an. Der Lift stieg durch eine brodelnde Schaumdusche auf. Go- bi begriff, daß das zur rituellen Reinigung für eintreffende Gäste gehörte. »Der Wasserfall wurde aus Brasilien importiert«, teilte sein treuer Reiseführer ihm mit. »So desu ka?« Gobi hatte in der Lobby bereits eine Gedenk- tafel entdeckt: »In Memoriam, Iguaçú Falls, Paraná, Brasilien, 2006 A. D.« »Das ist also Kazuo Haradas weltberühmtes Satori Building«, sagte Gobi und betonte dabei die Schlüsselworte, wodurch er einen schnellen Suchlauf in seiner Ray-Bans-Datenbank einlei- tete. ----------------------------------------------------------------------------------- (Klick!) Biodaten: Kazuo Harada, geboren am 26. Januar 1946. (Klick!) Das Foto zeigt den berühmten Mann weißhaarig und mit Designer-Brille. (Klick!) Querverweis Satori Building, Ginza 4-chome, Chuo-ku, Neo-Tokio, Neu-Nippon. (Klick! Außen-/Innenaufnahmen.) Um die Jahrhundertwende, als offensichtlich wurde, daß der brasilianische Regenwald irreparable Schäden davonge- tragen hatte, rief Kazuo Harada, Vorsitzender und Gründer der Satori Corporation, etwas ins Leben, was als »Regenwald- Notluftbrücke« bekannt wurde. (Klick!) Dabei handelte es sich um eine der gewagtesten botanischen Rettungsaktionen in der ökologischen Geschichte der Welt. Mehr als 80000 Hektar Regenwald, die überlebt hatten, aber dem Untergang geweiht waren, wurden zur Umpflanzung in Gastländer rund um die Welt verschifft. Ein kleiner Teil davon (Klick!) fand seinen Weg auch ins Atrium des Satori Buildings, das inzwischen offiziell zum »Erdreservat« ernannt worden war. Diese Luftbrücke markierte den Anfang eines neuen Kapi- tels in Kazuo Haradas Leben. Es war seine philanthropische oder »Boddhisatva«-Phase, wie Keiretsu-Historiker sie später allgemein nennen sollten. (Klick! On-TIME-Zeitschriftencover: »Kazuo Harada ­ der Weltschamane», 2. Juni 2002.) Kurz darauf begann der japanische Multimedia-Magnat sich auf die Entwicklung von Konsumentenprodukten zu konzentrieren, die den Zweck verfolgten, das Bewußtsein des Menschen zur »nächsten Stufe der menschlichen und planeta- ren Evolution« zu erheben. Er beschrieb diese Vision in seinem Bestseller Ein Planet, ein Produkt. (Klick!) Quelle: Dow Jones Imidas Almanach 2009. ----------------------------------------------------------------------------------- Gobi hätte gern noch weitere Daten über Harada gesichtet ­ gerade wollte er die Auflistung aus dem Verzeichnis »Wer ist wer im Dienst an der Erde« herunterladen ­, als der Lift im obersten Stockwerk ankam. Yaz hatte die bernsteinfarbene Schrift in Gobis Ray-Bans bemerkt und war näher gerückt, um sich das einmal anzuse- hen. Nichts war schlimmer als jemand, der versucht, einem in die Nasenlöcher zu stieren, wenn man gerade Daten herunter- lädt. Das war Gobis Haupteinwand gegen das System. Es war fast so schlimm wie jemand, der einem über die Schulter hinweg in die Zeitung schaut. Gobi lächelte Yaz zu und ließ seine Brille in die Brusttasche gleiten, als sie das dreißigste Stockwerk erreicht hatten. »Dozo.« Yaz hielt ihm die Lifttür auf. Sie verließen Brasilien jetzt und befanden sich wieder in Neu-Nippon. Gobi stand plötzlich unter einer Glaskuppel in einem kleinen japanischen Steingarten. Zwei Sicherheitsbeamte, die wie japanische Gärtner geklei- det waren, kamen auf sie zu. Einer hielt einen Rechen in der Hand, der andere eine Gartenschere. Sie verneigten sich vor Yaz. Er verneigte sich seinerseits und reichte einem der beiden seine zwei Samurai-Schwerter. Nachdem sie sich auch vor Gobi verneigt hatten, scannten sie ihn mit den Händen. Sie waren sehr gut, dachte er. Sie setzten genau die richtige Energiemenge ein, frisch und blau. Das war eine Hochqualitätsablesung seines sechsten Chakras. Als sie damit fertig waren, verneigten sie sich erneut und fuhren fort, den weißen Kies zu rechen und die Hecken im japanischen Garten zu stutzen. Eine grau-metallische Tür glitt auf. Sie betraten ein Konfe- renzzimmer, das nur von einem Kreis Lampen beleuchtet wurde, die über einem vieleckigen Tisch in die Decke einge- lassen waren. Acht Personen ­ eine Ansammlung von Japanern und Aus- ländern ­ saßen steif in Chromstühlen mit hoher Rückenlehne um den Tisch herum. Als Gobi eintrat, sagte Action Wada: »Willkommen in Neo- Tokio, Dr. Gobi. Endlich lernen wir uns einmal persönlich kennen.« Action Wada saß stocksteif im Zentrum des Tischs. Stofflich wirkte er kompakter als bei ihrer früheren Online-Begegnung, fand Gobi. Er trug ein zerknittertes ägyptisches Papyrushemd und einen weißen Designeranzug von Vesuvio. Stirn und Schulter waren breiter als bei der Holoid-Projektion. Aber sein Blick war so stechend wie ehedem. »Wenn ich mich richtig erinnere, hatten wir bei unserem letzten Gespräch eine ziemlich schlechte Verbindung.« Wada grinste verschlagen und rieb sich spöttisch das Kinn, dann machte er eine um Verzeihung bittende Geste. »Aber bitte setzen Sie sich doch.« Ein Satori-Berater trat aus dem Schatten hervor und zog ihm einen Sessel heran. Gobi setzte sich und schaute auf die Ansammlung von Gesichtern ringsum, die ihn schweigend musterten. »Ich möchte Ihnen gern die Mitglieder unseres Direktori- ums vorstellen.« Action Wada nickte in Richtung der versam- melten Gruppe. Er machte eine knappe Geste. »George Weber, Direktor von Gesamtamerika...« Ein aristokratisch aussehender weißhaariger Amerikaner zwinkerte ihm unbefangen zu und sagte: »Freut mich, daß Sie kommen konnten, Frank.« Wada deutete auf den nächsten. »Tetsuo Miura, Direktor von Satoris Abteilung für menschliche Ressourcen und Robo- tik...« Ein Japaner verbeugte sich lächelnd. »Hyacathia Wong, Direktorin der Abteilung Großchina...« Sie war eine dynamisch wirkende Frau in jadegrünem O- verall, die an einer schweren Goldkette eine geschnitzte Jade- figur aus Kwangsi um den Hals trug. Sie nickte. »Kubota-san, Leiter des Satori-Instituts für Technologie, un- seres Denktanks...« Ein kleiner Mann mit dunklen Ringen unter den Augen sprang vom Sessel auf wie ein aufgeschreck- ter Panda. »Und zu Ihrer Linken sehen Sie Yuki Abe, die Direktorin der Abteilung Multimedia-Netzwerk von Satori. Das dürften alle sein, denke ich.« »Wie geht's?« Gobi nickte jedem einzelnen zu, doch sein Blick blieb auf Abe gerichtet. Abteilung Multimedia-Netzwerk? überlegte Gobi und ver- suchte, sich an sein Satori-Briefing zu erinnern. Die umfaßt doch auch Virtuopolis, oder? Das mußte heißen, daß Yuki Abe für den Betrieb von Satori City verantwortlich war. Gobi musterte sie einen Moment lang. Es war eine attrakti- ve Frau Ende Dreißig oder Anfang Vierzig. Sie trug einen malvenfarbenen Yamamoto-Seidenanzug und eine weiße Perlenkette um den blassen Hals. Die Grafik war verblüffend, dachte Gobi. Echte Mikimoto- Qualität. Es gab nur eine Möglichkeit, wie jemand hätte auffallen können, daß es sich um Sichtfühl-Elemente handelte. Sie hatte die nervöse Angewohnheit, sie mit den Fingern zu berühren, und dabei flirrten die Perlen. »Ich bin sicher, daß Dr. Gobi die Dringlichkeit unseres Anlie- gens, unseren Vorsitzenden ausfindig zu machen, zu schätzen weiß«, wiederholte Action Wada für die Mitglieder des Auf- sichtsrats. »Bedauerlicherweise gehört sein eigener Sohn zu denjenigen, die beim Zusammenbruch von Gametime einge- schlossen wurden.« Der stämmige Japaner ließ allen einen Moment Zeit, Gobi ihr Mitgefühl auszudrücken und ihm zuzunicken. »Yuki«, hallte Action Wadas Stimme dann plötzlich durch den Sitzungssaal. »Würden Sie uns bitte den neuesten Bericht über den Stand der Dinge in Satori City geben?« »Ich fürchte, es sieht nicht gut aus«, erwiderte Yuki beson- nen. »Für die drei Sektoren wird die Zeit knapp. Sechs Regie- rungen ­ die Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Großrußland und Indien ­ haben Neuropro- grammierteams ausgeschickt, um in unserem Zentralknoten auf der Isle of Man zu arbeiten. Bisher waren sie erfolglos.« Sie stockte. »Unser VR-Interface bleibt undurchdringlich. Wenn sich Virtuopolis nicht stabilisieren läßt, erreichen wir den Umkehrgrenzpunkt unseren Schätzungen nach in acht- zehn Stunden. Dann wird die erste Benutzerreihe voraussicht- lich Omega erreichen.« »Omega?« Gobis Stimme klang rauher, als er erwartet hatte. »Verzeihen Sie...« Yuki neigte kurz den Kopf. »Omega be- deutet Systemabsturz. Wenn das eintritt, wird Virtuopolis automatisch neu geladen, und alle Bewußtseine, die auf dieser Ebene online sind, werden gelöscht.« »Wie viele Ausfälle gab es inzwischen?« fragte Action Wa- da freiheraus und wandte sich ihr im Sessel zu. »Bisher 712«, antwortete Yuki. »Alle Ausfälle betreffen er- wachsene Erdbenutzer zwischen achtzehn und zweiundacht- zig Jahren. Die meisten befaßten sich zu der Zeit gerade mit sexuellen Aktivitäten in Erwachsenenwelt.« Sie räusperte sich. »Gegenwärtig befinden sich 3816 Kinder in verschiedenen Stufen des Komas, die meisten davon zwi- schen vier und sechzehn Jahre alt.« »Danke, Yuki.«Action Wada drehte sich weg. »Also...« »Etwas gäb's da noch, Wada-san.« Wada wandte ihr seinen Sessel wieder zu. »Ja, bitte?« Yuki zögerte. »Sie möchten etwas hinzufügen?« »Es hat sich eine neue Entwicklung ergeben«, sagte sie schließlich. »Nun, und die wäre?« »Ich weiß nicht recht, wie ich es erklären soll. Das ist ein Teil des Problems.« »Bitte versuchen Sie es«, meinte Action Wada trocken. »Nur zu.« »Ich führe Ihnen lieber einige Videoaufnahmen vor... Sie stammen aus einem kleinen Krankenhaus in Ostsibirien un- weit der Stadt Yakutsk und werden noch analysiert. Eine Sicherheitskamera hat sie gemacht.« Yuki zielte mit der Fernbedienung auf einen leeren Monitor. Knisternd baute sich ein Bild auf. Gobi sah eine Anzahl Betten von Kindern, die an tragbare VR-Einheiten angeschlossen waren. Die Qualität der Einrich- tung war bei weitem nicht so gut wie die der Einheit für Heranwachsende in Alta Bates. Die Uhr, die im Clip mitlief, zeigte 04:12:02 an. »Sehen Sie genau hin«, sagte Yuki. »Das dritte Bett von hin- ten. Das Kind. Ein kleines Mädchen. Etwa acht Jahre alt.« Außer den Kindern, die im Online-Koma dahinträumten, befand sich niemand in der Abteilung. Es gab weit und breit keine Schwes- ter. Plötzlich rührte sich in dem von Yuki genannten Bett etwas leicht und kaum merklich. Dünne Ärmchen schoben sich aus einem Krankenhauskittel hervor, Finger krümmten sich zu kleinen Klauen. Im Sitzungssaal keuchte Hyacathia Wong laut auf. Sonst gab niemand einen Laut von sich. Gebannt sah Gobi zu. Er hörte, wie Action Wadas Sessel herumruckte. Sie hatte das Gesicht eines fliegenden Vogels, bis sie die Augen aufschlug. Wo waren die Augen des Kindes? Ihr Haar war braun gelockt, ihr Gesicht süß wie der goldene Sonnenschein, aber ihre Augen hatte der Bildschirm gelöscht. Sie registrierten nichts. Jetzt schob sie die Beine über die Bettkante. Barfuß auf dem Linoleum, reichte ihr der Kittel bis zu den Knöcheln. Das Kind hielt inne und schaute seine schlafenden Kameraden an, bis sie einen davon erkann- te. Eine Freundin. »Veruschka, Veruschka!« rief eine winzige Stim- me. Gobi spürte, wie ihm ein Schauder über den Rücken lief. Das waren die ersten Worte, die aus dem Koma heraus ge- sprochen wurden. Aber was für ein Koma war das? Welcher Traumzustand kam dem Wachen am nächsten? Jetzt wanderte das Kind durch den ganzen Raum und kappte die Verbindungen der anderen Kinder zu ihren Neural-Versorgern. Einer nach dem anderen erloschen die Träume, die auf den Monito- ren zu sehen waren. Als es seine Aufgabe beendet hatte, setzte das Kind sich auf eines der Betten und wartete. 04:19:32. Schneller Vorlauf. 04:22:08. »Jetzt fängt es an«, erklärte Yuki mit gedämpft klingender Stimme. Keiner sagte ein Wort. Ein, zwei, dann sogar drei Kinder begannen sich zu rühren. Die anderen taten es ihnen nach. Sie versammelten sich, verglichen ihre Verletzungen, rieben sich die Stirn und die Hände, streckten die Zunge heraus. Am anderen Ende der Halle sahen sie etwas Weißes aufleuchten. Eine stämmige Frau in Schwesterntracht ­ dunkle Haare, dunkle Augen ­ stand plötzlich da, und die Kinder gingen auf sie zu. Ihre Füße waren fest im Boden verwurzelt. Sie konnte sich nicht bewegen, geschweige denn sprechen. Einer der größeren Jungen weiter vorn drohte ihr mit dem Finger... Yuki drückte auf die Einheit, und der Bildschirm wurde leer. George Weber brachte mit zitternder Hand ein Zigaret- tenetui zum Vorschein. Er zündete sich eine Gingko-Bidi ohne Filter an und inhalierte tief. »Mist«, sagte er. Der Rest der Gruppe saß nur schweigend da und dachte über das Gesehene nach. Endlich sagte Action Wada: »Was ist aus den Kindern ge- worden, Yuki?« »Man hat sie entdeckt, als sie in der Nähe des Dorfs durch die Wälder liefen.« »Und?« »Die Menschen in dieser Gegend sind noch sehr abergläu- bisch. Nachdem sie die Leiche der Frau gefunden hatten, wurde ein Treffen des Ältestenrats einberufen. Sie haben ihren Schamanen um Hilfe gebeten.« »Ja?« Yuki nagte an der Unterlippe, dann drückte sie wieder auf ihre Einheit. »Das hier ist ein Clip von der Rede des Schama- nen vor dem Ältestenrat.« Der Chukchee-Schamane stand mit Pelz, Leder und Knochen bekleidet mitten im Satori-Sitzungssaal. Er trug einen Orakel- spiegel, der an seiner rechten Schulter befestigt war. »Dadurch ist es mir möglich, in jenseitige Welten zu schauen«, sagte er zu ihnen, und seine Worte wurden sofort übersetzt. »Außerdem kann ich damit die verlorenen Seelen der Toten einfangen.« Er berührte die Zöpfe, Anhänger und Bänder, die an sein Kostüm genäht waren. »Das sind meine Schwänze und Schwingen; sie helfen mir, zum schwarzen Berg der Finsternis zu fliegen. Ich flog dorthin, um mich mit den Kindern zu treffen, die einst ihre zweiten Körper bewohnten. Sie sagten mir, man habe sie geraubt. Böse Geister gingen an diesem Ort um. Die Kinder verlangten, daß man sie zurückbringe. Aber die bösen Geister weigerten sich. >Sollen die Kinder doch in den Körpern wilder Hunde vom Ort des Nachlebens zurückkehren<, verhöhnten sie mich. Ich fand mich wieder bei den Kindern ein. Viele Stunden lang trugen meine Geistgans und meine Geistschnepfe mich zum Kelet- Haus, wo die Geister der Kinder ruhten. >In diesem Fall<, sagten die Kinder zu mir, nachdem ich ihnen die Gedanken und Worte der Bösen überbracht hatte, >mußt du deinen Speer mit doppelter Spitze nehmen und an den hungrigen Geistern Rache üben.<« Der Chukchee-Schamane schüttelte seinen Zweispit- zenspeer. »Kein Mensch und kein Kelet soll jemals am Willen der Adlerin zweifeln, die allen Wesen Gerechtigkeit und den Tod bringt. Scheut euch nicht vor dem Tod und seid im Leben nicht allzu stolz.« Der Chukchee senkte seinen Speer. »O Kinder der Chukchee, Buryat, Gilyak und der Yenissei Ostyak, fürchtet euch nicht, ihr werdet gerächt werden. Und ihr werdet wieder zu eurem wahren Selbst finden.« Yuki schaltete den Schamanen ab. »Wenig später wurden die elf Kinder, die man aufgegriffen hatte, als sie angeblich >im Koma< herumliefen, vernichtet und ihre Körper verbrannt. Leider konnte der ortsansässige Arzt nur an einem davon eine Autopsie vornehmen.« »Was fand er heraus?« fragte Kubota. Yuki sah aschfahl aus. »Technisch gesehen befand sich die Leiche schon im Zustand der Totenstarre. Das Kind war be- reits sieben oder acht Stunden tot, als die Dorfbewohner es in Gewahrsam nahmen.« »Du liebe Güte, Action«, ergriff George Weber das Wort. »Davon sollte besser nichts in die Zeitungen kommen. Das wäre garantiert unser Ruin.« Yuki erwiderte: »Das Dorf liegt sehr abgelegen. Wir haben die Medien diesbezüglich voll im Griff. Die Behörden vor Ort zeigen Verständnis für unsere Sorge. Und außerdem haben wir unsere Dankbarkeit ihnen gegenüber angemessen zum Ausdruck gebracht.« Weber zündete sich eine neue Bidi an. »Sie hätten dem Bas- tard bezahlen sollen, was er verlangte ­ dann wäre es gar nicht erst so weit gekommen.« »Aber George«, erwiderte Action Wada und sah Gobi um Entschuldigung bittend an. »Das hier ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt...« »Ach, und was macht er dann hier? Ich meine, Sie werden doch etwas dagegen tun, nicht wahr, Dr. Gobi?« fragte Weber ihn scharf. »Wogegen, Mr. Weber?« erkundigte sich Gobi. »Dunnerlittchen, Action, wieviel haben Sie ihm erzählt?« Weber verdrehte wütend die Augen. »Genug, denke ich, damit er sich auf die Suche nach dem Vorsitzenden Harada machen kann.« »Richtig, Harada. Aber haben Sie ihm auch von Sato er- zählt? Das ist schließlich der Bastard, der uns den ganzen Mist überhaupt erst eingebrockt hat.« »Action.« Weber starrte den Japaner über den Tisch hinweg an. »Wenn diese Sache in Sibirien ein Vorgeschmack darauf ist, was uns bevorsteht, können wir alle bald wieder mit In- stant-Ramen hausieren gehen. Begreifen Sie, was ich sage? Ich meine, haben Sie in letzter Zeit einmal einen Blick auf die Satori-Aktien geworfen?« Es sprudelte nur so aus ihm heraus. »Teufel auch, an der Börse von Bombay ziehen sie sogar gegen Betelnußmöbel den kürzeren!« Action Wada hob die Hand. »Sie haben Ihren Standpunkt klargemacht, George. Vielen Dank.« »Ach ja? Und was gedenken Sie nun dagegen zu tun, ver- dammt noch mal!?« »Dr. Gobi ist hervorragend dafür qualifiziert, sich um die Angelegenheit zu kümmern«, sagte Wada ruhig. »Ist er das?« fragte Weber und zündete sich noch eine Bidi an. Er blies den Rauch zu Gobi. »Also, Professor«, forderte er ihn höhnisch grinsend auf. »Sie haben doch ein Diplom im Aura-Aufspüren, stimmt's? Sagt Ihnen der Name Sato etwas?« Gobi schaute ihn quer über den Tisch an. »Meinen Sie den Tibeter?« Nach dem Treffen im Konferenzzimmer trat Action Wada an Gobi heran. »Ich fürchte, ich habe Sie unterschätzt, Dr. Gobi«, sagte er schmeichlerisch. »Dürfte ich in meinem Büro einmal privat mit Ihnen sprechen?« »Dürfte ich in meinem Büro einmal privat mit Ihnen spre- chen?« Action Wada blinzelte kurz, dann erschien ein breites Grin- sen auf seinem Gesicht. »Ausgezeichnet. Ein Mann mit Sinn für Humor trägt ein unsichtbares Schwert in der Scheide. Er kann es jederzeit ziehen und benutzen.« »Ein Mann, der in Aphorismen spricht, drischt Heu, wäh- rend die Sonne am Himmel steht.« Action Wada runzelte die Stirn. »Ich fürchte, mit diesem Sprichwort bin ich nicht vertraut.« »Sun Tsu. Die Kunst des Witzes.« »Ah«, er grinste wieder. »Ich muß mir unbedingt einmal die Klassiker vornehmen.« »Worüber möchten Sie mit mir reden?« fragte ihn Gobi. »Nur einen Moment unter vier Augen. Mein Büro befindet sich gleich am Ende des Flurs.« Gobi nickte und schüttelte den übrigen Mitgliedern des Verwaltungsrats die Hand, als sie den Raum verließen. George Weber sagte: »Schön, Sie in unserem Team zu haben, Frank. Wir zählen auf Sie.« Yuki Abe verabschiedete sich von ihm. Ihre Augen funkel- ten sanft; ihre blasse Hand war warm. »Das mit Ihrem Sohn tut mir leid«, sagte sie. »Danke, Miss Abe.« Sie drückte ihm die Hand. »Wenn ich Ihnen irgendwie hel- fen kann, dann zögern Sie bitte nicht, es mich wissen zu las- sen.« Sie gab ihm ihre Karte. Sie roch nach ihrem Parfüm: Lady Murasaki. »Vielen Dank.« »Hier entlang, Dr. Gobi«, drängte Action Wada. Sie traten in den Flur hinaus und passierten die beiden japanischen Gärtner, die im Atrium den Sand rechten. Vor der Tür rückte Action Wada für die Sicherheitskamera seinen Schlips zurecht. »Geheimkombination«, lächelte er Gobi zu. Die Tür glitt auf. Das Zimmer war nicht sehr groß. Es war mit Reispapier ausgekleidet, wies ein Deckenmandala auf und hatte einen polierten Betonboden. An jedem Ende stand eine Plastik aus rostfreiem Stahl, die mit Airbrushfarben bemalt war. Die Beleuchtung war indirekt. Um einen ungefirnißten Kiefern- tisch herum standen asketische Metallstühle. »Bitte setzen Sie sich.« Action Wada deutete auf einen der Stühle. »Ich mag einfache Dinge. Nackte Fakten.« Gobi zog einen Skelettstuhl heran und setzte sich. »Vielleicht hat es damit zu tun, daß mein Vater Zen-Priester war. Das wird Sie vielleicht überraschen.« Gobi wartete. »Er war als Angestellter sehr erfolgreich, ein Trop-Shacho in einem der alten Keiretsus. Nach dem Handelskrieg mit Ihrer Hemisphäre hat sich mein Vater vom Geschäft zurückgezogen und seine restlichen Jahre in religiöser Versenkung verbracht. Sie sehen also, Dr. Gobi, wir sind für ähnliche Dinge empfäng- lich. Nur müssen wir heutzutage den Ozean überqueren, um die Weisheit des Westens zu erfahren. Ha! Ha! Ha!« Gobi sah ihn ausdruckslos an. »Tee, Dr. Gobi?« Gobi blickte quer durch den Raum. Auf einem Gestell be- fand sich ein kleiner Glaskasten mit mehreren Netsuke- Schnitzereien. Wadas Blick folgte seinem. »Interessieren Sie sich etwa für Netsuke?« Gobis Blick schweifte ab. Diese Netsukes waren tot. Korrek- tur: Sie waren noch nicht aktiviert. Aber die Treiber hatte man bereits eingebaut. »Nur für bestimmte Netsuke-Richtungen«, erwiderte Gobi. »Ich verstehe. Sie kennen sich mit japanischer Kunst aus.« »Ja, ich liebe die erhabene Anmut und das Subtile. Aber jetzt Schluß mit der Phrasendrescherei, Wada. Was haben Sie auf dem Herzen?« Action Wadas Blick trübte sich. Das hat ihn ernsthaft ge- kränkt. Gut. Der erste Punkt geht an die Weisheit des Westens. Er öffnete wieder die Augen und schaute Gobi an. »Ich glaube, Sie haben auf Station Sieben eine bestimmte Transak- tion für uns durchgeführt.« »Oh, Sie meinen wohl mit Miss Kato?« »Ja, ja. Genau die.« »Sie war sehr gut«, sagte Gobi. »Herzlichen Dank. Ich hatte wirklich viel Freude an ihr. Um den Gefallen zu erwidern, möchte ich Ihnen gern das hier geben.« »Danke, Sie sind sehr großzügig«, sagte Action Wada. Gobi schrieb etwas auf ein Stück Papier und reichte es Wa- da. Wada las es. »Darf ich fragen, was das ist?« »Sicher. Das ist eine 1-900-Nummer ­ für eine Oben-ohne- Psychiaterin. Wenn Sie diese Nummer anrufen, dann besucht sie Sie, ganz gleich, wo Sie sind. Sie schildern ihr Ihr Problem, und sie kümmert sich sofort darum. Ein lebendes Hologramm, versteht sich.« Action Wada zerknüllte das Papier und legte es auf den Tisch. »Das ist nicht ganz das, was ich erwartet habe. Sie haben etwas für mich heruntergeladen.« Er holte eine Netsuke aus der Tasche. »Bitte.« Er nickte in Richtung der Figur. Gobi strich das Papier wieder glatt. »Dozo«, sagte er und bot es Wada erneut an. Action Wada erhob sich vom Tisch und schob seinen Stuhl zurück. Er blickte finster drein. »Wieso wollen Sie nicht ko- operieren?« »Weil es nicht zu unserer Abmachung gehört, Ihnen Ryuta- ro Kobayashis Bewußtsein zu überlassen, darum.« »Sie sind eine sehr schwierige Person, Dr. Gobi!« »Wie meinen Sie das?« Ich habe Sie doch gerade erst zu ei- nem Drink eingeladen!« Action Wada drehte sich um. »Gehen Sie besser an die Ar- beit. Finden Sie Harada«, kläffte er. »Sie haben nicht den ganzen Tag Zeit, wissen Sie. Nicht in Neo-Tokio.« Im Flur wartete Yaz auf ihn. »Was möchten Sie als erstes unternehmen, Frank-san?« »Dieser Sato, der Programmierer?« Yaz bekam große Augen. »Hai?« »Sind Sie ihm schon einmal begegnet?« »Mochiron. Natürlich.« »Was können Sie mir über ihn sagen?« Yaz dachte einen Moment nach, dann rümpfte er angewi- dert die Nase. »Er ist ein Kamikaze-Zoku.« »Was ist das?« »In Amerika sagt man Otaku-Zoku dazu. Dasselbe wie Ha- cker, neh?« »Stimmt.« Yaz nickte. »Sato ist ein Kamikaze-Hacker. Verstehen Sie jetzt? Er zerstört gern.« »Wollen Sie mir damit sagen, daß er dazu neigt, Dinge zu zerstören?« Yaz' Lachen glich eher einem kurzen Schnauben. »Bevor er hierherkam, war Neo-Tokio noch okay, neh? Nachdem er da war... großes Erdbeben.« »Das ist doch Zufall, oder?« »Zufall?« »Das bedeutet, daß etwas zur selben Zeit passiert, aber nicht unbedingt aus demselben Grund.« Yaz' Miene verfinsterte sich. »Nein«, schüttelte er den Kopf. »Derselbe Grund.« »Wissen Sie, wie er aussieht? Gibt es irgendwo ein Foto von ihm? Das würde mir helfen, ein Gefühl für ihn zu bekom- men.« »Foto? Shashin?« »Genau.« Sie durchquerten den Flur und fuhren mit dem Lift mehrere Etagen tiefer. »Hier entlang«, grunzte Yaz. Am Ende eines langen Gangs mit Schlafzimmer betrat er ein Zimmer. Gobi folgte ihm. »Wow«, sagte Gobi und sah sich im leeren Zimmer um. »Das perfekte papierlose Büro.« »Hai«, sagte Yaz. »Kein Papier, kein Schreibtisch.« Er lachte. »Kein Stuhl.« Es gab ein langes Fenster mit Ausblick auf das alte Ginza, die historische Einkaufsstraße von Neo-Tokio. Das Neon wirkte fast nostalgisch, bis man bemerkte, daß es sich um Kleckse lebendiger Holofarbe handelte. »Wenigstens haben Sie ein Fenster und eine Jalousie«, mein- te Gobi. »Jalousie?« fragte Yaz. Er trat an die Rouleaus heran und zog an der Schnur. Die Lamellen rasselten herunter, und Yaz drehte an der Stange, um sie einzustellen. Als die Jalousie geschlossen war, wurde das Zimmer dunkel, und ein Bild materialisierte auf dem Schirm. Yaz lachte. »Satori-Jalousie. Zimmerschmuck.« Er trat einen Schritt zurück. »Sato, Kenji«, sagte er leise. Die Lamellen kippten selbständig zurück und durchforsch- ten die Datenbank. Während sie warteten, erklärte Yaz: »Das ist das letzte bekannte Bild von Haradas Team, als noch alle zusammen waren. Wie sagt man bei Ihnen? Es war das letzte Abendmahl.« Das Bild eines Otaku-Zoku-Hackers in enger schwarzer Ja- cke mit Stehbündchen und Messingknöpfen erschien. Er hatte schlechte Zähne, schlechte Haut und trug eine Beidaugen- Lupenbrille mit in die Fassung eingearbeiteten Glasfasern. Er saß in einer Sushi-Bar und hielt Eßstäbchen von sich gestreckt. An ihrem Ende baumelte ein Tintenfischtentakel herunter. »Das ist Sato?« Yaz grunzte. »Nein. Nicht Sato. Dort.« Er drehte die Stange, und das Bild rollte zur Seite weg. Jetzt sah Gobi ein paar andere langhaarige Otakus im Ausschnitt. Sie saßen beisam- men und hatten offenbar einen Mordsspaß miteinander. Am Ende der Theke saß ein junger Mann, der direkt in die Kamera starrte. Seine Augen glühten wie grau-schwarzer Zinder in einem Hibachi. Neben ihm saß eine junge Frau, deren Züge teilweise von langem schwarzen Haar verdeckt wurden, das vor ihrem Gesicht hing. Ihre Augen riefen in Gobi etwas wach. Etwas, von dem er ge- glaubt hatte, daß es längst tot war. Hatte er auch in seinem früheren Leben schon einmal gelebt... ? fragte er sich. »Das ist Sato« sagte Yaz. »Möchten Sie, daß ich Ihnen eine Nahaufnahme zeige, Frank-san?« »Ja, bitte, Yaz«, sagte Gobi mit seltsam erstickter Stimme. »Aber nicht von Sato. Von dem Mädchen, das neben ihm sitzt.« Nachdem sie Gobis Büro in der Green Street, dasjenige mit dem Schild, auf dem Frank Gobi, Private Ermittlungen stand, verlas- sen hatten, waren sie in sein Apartment in North Beach zurückge- kehrt. Sie lagen auf seinem Futon. Gobi war der einzige Gweilo, der in der chinesischen Pension wohnte, und die alten chinesischen Damen waren eifrig damit beschäftigt, in der Gemeinschaftsküche ihr Essen zu kochen. Man hörte, wie sie auf kantonesisch stritten, debattierten, einander anflehten und anschrien. Der würzige Geruch von Sesamöl, das in ihren Woks brutzelte, verbreitete sich im Flur und zog unter seiner Tür hindurch. Aus einem Blechradio plärrte eine chinesische Oper. Das Muster auf seiner Steppdecke hieß »Rostwellen«, und nach- dem sie sich geliebt hatten, trieben sie jetzt schon eine ganze Weile auf diesen Wellen dahin. Das Licht im Zimmer war verschwommen, gedämpft. Ein auf die Strohmatten gestellter Schirm aus chinesischem Ölpapier mit einem am Holzgriff befestigten kleinen Scheinwerfer diente Gobi als Lampe. Er warf Schatten wie Blattpiktogramme an die Stuckwände. Bei den Nebelhörnern, die draußen in der Bucht ertönten, hätten sie leicht in gegenseitiger Umarmung aufs Meer hinausgetrieben werden können... Kimiko richtete sich auf dem Futon auf und streckte sich. Mein Gott, war sie schön! »Wie geht's deinen Kopfschmerzen jetzt?« fragte Gobi. Kimiko hatte ihm erzählt, daß sie häufig an Kopfschmer- zen litt. Sie scherzte, daß es wohl daran läge, daß sie soviel Gehirn- Chi auf die kleinen Papierorigamis übertrug, um ihnen Leben einzu- flößen. Sie beugte sich vor, um ihn zu küssen. Es fühlte sich wie der Fluß Kamo in Kioto an, als er im zwölften Jahrhundert über die Ufer getreten war. »Liebe ist eine bessere Arznei als Kräuter«, spottete sie und zwickte ihn in die Brustwarze. »Darf ich dich besuchen, wenn du wieder in Neu-Nippon bist?« fragte er. Sie wirkte erstaunt. »In Neu-Nippon hat sich mittlerweile einiges verändert.« Sie betrachtete die Muster, die über die Wand dahinzo- gen, als wollte sie etwas aus ihnen herauslesen. »Nicht so wie hier, Frank.« »Auch hier hat sich einiges verändert, Kimiko, nämlich seit ich dir begegnet bin«, sagte er zu ihr. Und er meinte es ganz genauso. Sie hatte aus seinem Leben eine Liebesfabrik gemacht ­ und die Produk- tion erhöhte sich Tag für Tag. Gobi zog mit der Hand die Linie von Kimikos Schenkel nach, als staubte er ihn für Fingerabdrücke ein. Vielleicht wartete in Neo- Tokio ja ein Liebhaber auf sie? Vielleicht hatte sie mehr als einen... Er war sich sicher, daß sie seinen Wunsch ernst nahm. Und er wollte nicht bloß ihr verrückter Gaijin-Liebhaber in San Francisco sein. Er wollte, daß ihr Yin und sein Yang sich regelmäßig aus- tauschten... abwechselnd drei Monate hier in San Francisco und dann wieder drei Monate in Neo-Tokio. Je nachdem, was möglich war. Sie konnten sich auch nach Thailand absetzen. Oder nach Bali fliehen. Oder sich irgendwo in Indien einen eigenen Privattempel aufbauen, einen Tempel, der der Göttin geweiht war, die sie zusam- mengebracht hatte. Jedenfalls sahen so seine Phantasien aus. Kimiko spürte ein Brennen auf dem Nasenrücken. Der Körper ist wie der Geist ein Schwamm, dachte sie. Er nimmt Energien auf. Wenn er sie wieder abgibt, ist das wie ein Prozeß der Reinigung. »Also, wie steht's damit, Kimiko? Darf ich dich nun besuchen kommen oder nicht?« Sie blickte zu Gobi hinunter und kicherte. »Vielleicht«, sagte sie in dem Tonfall, der immer dann in ihrer Stimme mitschwang, wenn sie gleich ihrer Lust nachgeben wollte. Er berührte ihre Hüfte und schaukelte sie verspielt, bis sie das Gleichgewicht verlor und mit den Brüsten, dem Gesicht und den hinreißenden Augen auf ihn fiel. »Also gut, du darfst kommen«, erwiderte sie heiser und begann erneut seinen Körper zu erforschen. Sie glitt mühelos auf ihn. »Komm schon, Frank. Los, komm!« »Ich glaube, Sie kennen diese Frau, Frank-san?« fragte Yaz sanft. Er hatte den Schmerz in den Augen des Amerikaners gesehen. Nicht den Schmerz des Verlusts, sondern den Schmerz der Entdeckung, der manchmal viel schlimmer ist. »Wann wurde dieses Shashin gemacht, Yaz?« wollte Gobi wissen. Vielleicht irrte er sich ja. Vielleicht war es ein altes Foto. Vielleicht ergab ja alles einen Sinn. Der junge Japaner dachte für einen Moment nach. »Früher im Jahr? Diese Leute sind alle Mitglieder von Harada-sans Privatkreis. Es sind Programmierer. Sato war sein Chefpro- grammierer. Diese Frau«, Yaz nickte in ihre Richtung und beobachtete Gobis Augen, »ist Kimiko-san.« »Ja.« »Ist sie eine Freundin von Ihnen?« »Ich hatte sie für tot gehalten.« Wenn das Yaz überraschte, so zeigte er es nicht. Er nickte. »Kimiko-san war eine sehr nette Person. Yasahi. Liebenswür- dig.« »Wo ist sie jetzt?« Yaz runzelte die Stirn. »Bei Harada, glaube ich. Sato hat den Kreis verlassen, nachdem das Shashin gemacht wurde. Nach- dem Harada entdeckt hatte, daß Sato an andere Keiretsus verborgene Codes verkaufte. Dann fing der Ärger in Neo- Tokio an, und Harada nahm sein Team an einen sicheren Ort mit, um ein Gegenmittel zu entwickeln. Glaube ich.« Also wurde sie ebenso vermißt wie er. Aber daß sie vermißt wurde, hatte auf Gobi gewissermaßen die Wirkung, sie wieder- gefunden zu haben. Sie befand sich nur außer Reichweite, irgendwo in einer anderen Dimension. Wie jene Kimiko, die er immer gekannt hatte. »Hmm.« Gobi dachte laut nach. »Ja, Frank-san?« »Wer hat das Foto gemacht?« »Harada-san.« »Und wo wurde es gemacht?« »In Chiba City.« »Kann ich einen Abzug haben?« »Hai, chotto matte.« Yaz drehte an der Stange, und die Da- tenbank druckte ein Holo-Shashin aus. Er reichte es Gobi. Da sah er es! Als er sich Kimiko aus der Nähe anschaute. Auf der Sushi-Theke. Sie mußte es gemacht haben, als sie darauf wartete, daß der Sushi-Meister ihr ein Maguro, Tekka oder Unagi rollte. Gobi blickte zu Yaz hoch. Ein Funken Hoffnung lag in sei- nem Blick, den Yaz eben noch nicht bemerkt hatte. »Ich glaube, ich verstehe, Yaz.« »Ja, Frank-san?« »Ich glaube, ich weiß jetzt, wieso ein Harada bereit war, mit einem Sato zusammenzuarbeiten. Er muß sofort das Böse in ihm gesehen haben, und trotzdem behielt er Sato in seinem Team.« Yaz musterte das Shashin und versuchte, den Hinweis zu entdecken. »Das muß auch der Grund sein, weshalb Sato Harada ver- lassen hat. Sicher hat er davon erfahren.« Yaz schüttelte den Kopf. »Sehen Sie hier etwas, Frank-san? Was denn?« Gobi hätte fast aufgelacht. »Schauen Sie mal auf die Theke. Sie hat wieder ihre kleinen Origamis gemacht, ihre kleinen mächtigen Papiertiere.« Unsicher blickte Yaz auf. »Das ist ein Frosch.« »Richtig, Yaz.« Gobi grinste. »Frosch-Medizin.« »Nan desu ka? Was ist das?« »Kimiko hat aztekischen und Maya-Schamanismus studiert und gelernt, diese Medizin in ihre Kunstform zu integrieren. Frosch-Medizin ist überaus mächtig. Man verwendet sie, um das Böse auszutreiben. Aus jeder Umgebung. Und aus jeder Person.« »Naruhodo.« Yaz schloß die Augen. Endlich begriff er. »Sie war dabei, Sato umzuprogrammieren?« »Ganz recht, Yaz.« Yaz nickte. »Kimiko-san muß eine Miko sein.« »Eine Miko? Was ist das?« »Eine japanische Schamanin. Wie nennen Sie's auf eng- lisch... ein Medium? Sie kann keine Programme schreiben, aber jeder weiß, daß sie für Harada-san eine sehr wichtige Pro- grammiererin war. Sicher aus dem Grund.« Gobi mußte zustimmen. »Ich wäre erstaunt, wenn Kimiko in ihrem Leben auch nur eine einzige Codezeile geschrieben hätte. Sie hat alles mit den Händen getan.« Moray Sie fuhren im Wasserfall bis zur Garage auf B-10, in der Yaz seine Maglev-Maschine Tomo abgestellt hatte. »Dozo.« Yaz machte eine einladende Geste, und Gobi stieg in den Beiwagen. Yaz brachte den Motor auf Touren. Die Haniwa hob wie eine Tasse von einer Untertasse ab und flog die Rampe zur Garagenausfahrt hoch. Yaz briefte Gobi über Kopfhörer. »In der Sushi-Bar, in der das Foto gemacht wurde, hängen gern Otaku-Zokus herum. Vielleicht kriegen wir dort ja etwas heraus?« »Klingt nach einem prima Ort, um anzufangen. Wieso hän- gen sie da denn so gerne herum? Was ist an der Bar so beson- ders?« »Sie ist berühmt für ihr interaktives Sushi. Außerdem wer- den dort die neuesten Designer-Hirndrinks ausgeschenkt. Sie mögen doch Smart Drinks, Frank-san?« Sie fuhren auf die grau-blaue Fläche des Satori- Kreisverkehrs hinaus. Yaz ordnete die Haniwa in Richtung Maglev-Skyway ein. Dann erwischten sie einen Aufwind und schossen nach oben. »Smart Drinks?« erwiderte Gobi. »Eigentlich nicht. Wenn ich schon etwas trinke, dann ziehe ich einen dummen Drink zur Entspannung vor. Ich mag keine Drinks, die smarter sind als ich.« Yaz sah ihn an und grinste. »Ich auch nicht.« »Was zum Teufel ist interaktives Sushi, Yaz?« »Das finden Sie schon noch heraus.« Erneut grinste er. »Beim Mittagessen.« Yaz riß an Tomos Zügeln, und das Maglev-Roß wechselte die Flugspuren, spielte mit dem Verkehr wie ein Pachinko- Meister. Es war nicht viel los, als sie in den Gitterway nach Chiba City einflogen. »Ruhen Sie sich jetzt aus«, sagte Yaz. »In einer halben Stun- de sind wir da.« Als sie durch die Schluchten des Geschäftsviertels von Ne- oTokio flogen, konnte Gobi bloß staunen, wie die Wolkenkrat- zer im Nebel verschwanden, als wären sie nur ein weiteres der vielen Tuschebilder. Der Himmel war an den Rändern grau und zeigte Schwa- den dunkler werdenden Blaus. Allgemeine Stille lastete auf der Stadt wie ein unausgesprochener Gedanke. Gobi fiel auf, daß die Hochhäuser auf mehreren Ebenen durch Brücken miteinander verbunden waren. Aber bei nähe- rem Hinsehen wurde ihm klar, daß schwer befestigte Zugbrü- cken, die man je nach Bedarf herunterlassen und wieder hochziehen konnte, die Hauptverbindung zwischen den Gebäuden darstellten. »Sie sehen wie Burgen aus«, sagte Gobi, und dabei dachte er an die Nachbildung der Burg Osaka in den oberen Stockwer- ken von Station Sieben. »Keiretsu-Burgen«, nickte Yaz. »Das da drüben ist der Su- mitomo-Konzern.« »Oh.« Sie flogen unter einer Zugbrücke hindurch und schraubten sich an Sumitomo-Fahnen vorbei, die von den Burgzinnen wehten. »Wie ist das so?« wollte Gobi von Yaz wissen, als die Stadt- landschaft an ihnen vorbeizog. »Wie ist was?« »Was passiert nachts, wenn die Stadt sich verändert?« Yaz beschleunigte zu einer höhergelegenen Flugebene. Er schwieg. »Wieso fragen Sie?« knisterte seine Stimme über Funk. »Das empfindet jeder anders. Sie. Ich.« Tomo machte einen Satz nach vorn, als Yaz ihm einen Ener- gieschub verpaßte. »Frank-san«, meinte Yaz zögernd. »Ja?« »Ich glaube, wir werden verfolgt.« »Drehen Sie sich nicht um«, warnte Yaz Gobi. »Schauen Sie auf Ihren Heck-Scanner. Es ist der schwarze Barracuda Miata hinter uns.« Gobi sah in seiner schalenförmigen Kopfapparatur auf das konkave Spiegelbild über der rechten Augenbraue. Klare Sache, ein Fahrzeug, das einem Barracuda ähnelte, bahnte sich pfeilgleich seinen Weg durch den Verkehr, dräng- te sich erst in das Fahrzeugdickicht vor ihm und sprang dann darüber hinweg, als handelte es sich um einen Schwarm Thunfische. Plötzlich hing der Barracuda unmittelbar hinter ihnen und schabte Funken von Tomos Schutzblech. Verblüfft fuhren Gobi und Yaz in den Sitzen herum. Sie sahen zwei identische Bürs- tenschnitte und Augen, so tot wie die von Schaufensterpup- pen. Muskeln wölbten sich unter billigen Seidenanzügen aus Hongkong. »Yakuza«, murmelte Yaz mit angehaltenem Atem, während er den Maglev auf Kurs hielt. Er drückte mächtig auf die Tube. Die Yaks gerieten in der Unterströmung außer Sicht, dann tauchten sie einen Moment später wieder neben dem Maglev auf. Seite an Seite rasten sie dahin. »Chikisho!« fluchte Yaz. Er beugte sich vor und zog eine Moray-Peitsche aus der Satteltasche. Sie war lang, schwarz und dornig. Mit einer einzigen Bewegung schnalzte er damit sauber gegen die Windschutzscheibe des Barracuda. Den Bruchteil einer Sekunde glotzten die Yakuzas blöde, dann duckten sie sich. Die Peitsche schmetterte gegen die Windschutzscheibe, die in tausend Stücke zerbrach wie ein Orakelknochen, den man über dem Feuer erhitzt. Der Barracuda brach aus und schlitterte unter mächtigem Funkenflug an der Leitplanke entlang. Es brauchte eine Minute blinden Herumsteuerns, bis die Yaks die Windschutzscheibe von innen zertrümmerten und die Stücke aus dem Rahmen herausschlugen, damit sie sehen konnten, wohin die Reise ging. Zu dem Zeitpunkt war Yaz bereits durch einen Tunnel da- vongezischt, der zwei Keiretsu-Lehnsgüter miteinander ver- band. Er nahm die Ausfahrrampe und schwebte im Leerlauf über der Überführung. Mehrere Minuten lang schauten sie zu, wie der hektische Verkehr aus dem Maglev-Gitter rauschte. Yaz bediente seine Tastatur, und Gobi sah, wie flimmernde Bilder auf der Konsole erschienen. Es war eine Luftansicht des Skyways. Damit sie sehen konnten, wie der Verkehr kam und ging, hatte Yaz sich in das Überwachungssystem des Tunnels gehackt. Vom Barracuda fehlte jede Spur. Bis Yaz ihn am Rand des Flugdamms entdeckte, wo die Y- aks ihn geparkt hatten und jetzt ungeduldig darauf warteten, daß Tomo wieder auftauchte. »Chikisho!« fluchte Yaz erneut. Er löste die Bremsen, und der Maglev glitt von der gerichteten Strömung herunter. Ein Glück, daß Yaz so gute Reflexe hatte. Der Honda Peugeot vor ihnen war ruckartig zum Stehen gekommen ­ und der Fahrer aufgrund der Druckwelle bewußtlos. Yaz pfiff. »Sie verwenden Erschütterungsgranaten!« Wie zerbrochenes Spielzeug umgab sie ringsum der Schutt von ferro-keramischen Leitern und Spurwechsel-Transpondern. Der hereinkommende Verkehr verlangsamte an der Stelle, an der die Yaks ihre explosive Meishi-Kontokarte hinterlassen hatten. Yaz nutzte das Durcheinander, um Tomo wieder online zu bringen. Er hängte sich mit dem Maglev hinter einen zweiein- halb Meter langen Containertruck, der eine volle Ladung Memory-Ramen beförderte. Auf der Nebenspur flog ein Bus mit einfachen Programmie- rern vom Land, die zu einer Sextour in den virtuellen Laster- höhlen von Chiba City unterwegs waren. Gobi konnte sehen, wie sie sich die Nasen an den Fenstern platt drückten. Ein ärgerlicher Feuerstoß der Yaks, auf Tomo gezielt, ließ den Bus krachend auf die Fahrbahn sacken. Eine schmieri- ge schwarze Rauchwolke quoll aus der getroffenen Seite hervor. Flammen leckten am verkohlten Dach. Yaz fluchte mit angehaltenem Atem. »Sie schießen wild um sich!« Unter dem stakkatohaften Zischen von Laserschüssen hatte der Barracuda sich jetzt neben sie geschoben und bohrte Löcher in das Chassis ihres Maglev. Ein Yak streckte seine Lasermagnum heraus, als wollte er Yaz Gelegenheit geben, sich den Lauf anzusehen, ehe er ihn wegpustete. Yaz versetzte ihm einen Schlag mit der Moray-Peitsche. Der Yak schrie auf, als er am Handgelenk aus dem Cockpit geho- ben wurde, gelähmt von den zwölftausend Volt, die durch seinen Körper rasten. Mit einem weiteren Knall der Peitsche entließ Yaz den Yak in die Luft. Er prallte ein paarmal auf der Straße auf, bis er wie ein nach Luft schnappender Karpfen am Karfreitag von der Schwebespur hochgerissen wurde. Wieder schoß ein Strahl von hinten auf sie zu. »Sie haben Verstärkung bekommen!« schrie Gobi Yaz zu, der einen kurzen Blick zurückwarf. Zwei Rundköpfe mit umlaufendem Sichtvisier und Schultern, so fleischig wie Rindfleisch aus Kobe, holten zu ihnen auf. »Bitte halten Sie sich fest!« Yaz verbeugte sich entschuldi- gend, während er die Rotoren des Maglev auf volle Touren brachte. Er legte die Maschine schräg, so daß sie plötzlich auf der Leitplanke dahinrauschten. Der Beiwagen ragte ins Leere hinaus, und Gobi starrte in einen zehn Stockwerke tiefen Abgrund auf die Straßen von Neo-Tokio hinunter. »Wappnen Sie sich!« rief Yaz. Sie verließen die Leitplanke wieder. Yaz' Maschine sprang quer über die Verkehrsspuren und kam auf dem Dach eines Containertrucks auf, der so lang wie eine kleine Rollbahn war. Mitsamt Beiwagen schlingerten sie über die Metalloberfläche dahin. Da tauchte vor ihnen im Maglev-Gitter eine zweite Aus- fahrtrampe zu einer Skyway-Überführung auf, die so aussah, als risse sie sie einfach vom Truck herunter wie ein medizini- sches Pflaster von Salonpas. Aufbrüllend raste die Maschine die schwebende Rollbahn entlang ­ und hob ab. Einige Augenblicke lang segelte Tomo durch eine Anzahl nicht verzeichneter Mag-Vektoren und erwischte dann eine Strömung. Mit einem metallischen Seufzen schraubte er sich allmählich höher, um dann im Maglev-Gitter des höhergele- genen Skyways zu landen. Die beiden Barracudas tief unter ihnen folgten ihnen, so gut sie konnten. Aber bald verloren, sie sich in den schnellen Strömungen, die sie in den aufgerissenen Rachen der Leere hineintrugen. Mit zwei lädierten Zylindern schleppte sich Tomo hinkend bis nach Chiba City. Yaz parkte in einer Seitenstraße unter einer Pfütze aus ro- tem und blauem Neon, das aus einem flackernden Werbe- schild für Morinagas geistschärfende Pfefferminzbonbons herun- tertropfte. Bebend erloschen Tomos Lebenszeichen, und die Muskeln seines Rahmens zuckten ein letztes Mal, als Yaz ihn ausschal- tete. »Alles in Ordnung mit Ihnen?« fragte Yaz seinen Passagier. Gobi nickte. Er holte mehrmals tief Luft und ließ Chi- Energie durch seine zwölf Kanäle fließen. Nach dieser Fahrt mußte er mit seinem Körper erst wieder ins Gleichgewicht kommen. »Und Sie?« keuchte Gobi. Yaz blickte finster drein. »Mir geht's prächtig.« Er kniete sich auf den Boden, um sich den Schaden genauer anzusehen. Ein Stück Zylinder zerbröselte in seiner Hand wie Bonbonpa- pier. »Noch so ein Treffer, und Sayonara.« Yaz verzog das Ge- sicht, als er den Zylinder auf den Boden warf. »Was waren das für Kerle?« Gobi atmete aus. Gut, er atmete wieder ein. Jetzt hatte er sich gefaßt. »Schlechte Fahrer«, sagte Yaz verächtlich. »Was glauben Sie, warum sie uns töten wollten?« »Sie töten?« Yaz schüttelte den Kopf. »Sie wollen Sie haben. Mich töten sie, keine Frage. Ich bin ja auch bloß der Fahrer. Nicht weiter wichtig.« »Wie kommen Sie darauf?« »Zwei Barracudas, die zusammenarbeiten. Das war Profi- Arbeit. Der erste lenkt die Aufmerksamkeit des Opfers auf sich und stellt das Fahrzeug auf dem Maglev-Way kalt. Der zweite Barracuda nimmt das Ziel gefangen. Derartige Entfüh- rungen kommen häufig vor.« Yaz rückte die Katana-Klingen in seinem Sash zurecht und schaute kurz in beiden Richtungen durch die Gasse. »Normalerweise, Frank-san, entführt man auf die Art...« Er wirkte verdutzt. »Ja?« »Das ist ein Markenzeichen der Yakuza, wenn sie große ja- panische Bosse entführen. Wie zum Beispiel den Vorsitzenden einer Firma, einen Direktor oder großen Shacho.« Yaz starrte Gobi an und runzelte die Stirn. »Sie sind kein großer Shacho, Frank-san.« Nein, bin ich nicht, dachte Gobi. Aber ich glaube, ich weiß, wo ich einen finden kann. Er hatte einen Teil seiner Chi-Energie zu Kobayashi umgeleitet, dessen Bewußtsein im Tresor seines Hara pulsierte. Er mußte bald etwas wegen Kobayashi unternehmen. Die gefangene Energie begann allmählich zu gären. Nicht mehr lange, und sie würde sich wie Fäulnis über sei- ne Seele ausbreiten. Amas Bar »Das ist Amas Bar«, sagte Yaz zu ihm. Gobi starrte auf die Wand aus nicht aktivierten Fernseh- schirmen am Ende der Sackgasse. Ein Komposthaufen aus Bio- Chips vermoderte auf dem Boden, und blinkende Glasfaser- bündel führten am unteren Rand der beiden Mauern entlang, ehe sie im Rinnstein verschwanden. »Amas Bar?« Gobi hatte die Wand zunächst für eine Werbe- fläche gehalten, die das Zeitliche gesegnet hat. »Das ist die Sushi-Bar, in der die Zokus verkehren. Wollen wir uns einklinken, Frank-san? Aber erst müssen wir uns ankündigen.« Yaz holte eine Bambusflöte aus einem Matchbeutel. »Ein Shakuha-Chi-Synthesizer«, erklärte er Gobi. Dann neigte er den Kopf und begann zu blasen. Erstaunlicherweise reagierte die inaktive Wand auf sein Spiel. Yaz' Musik beschwor hinreißende Bilder von Vögeln, Tem- peln, Wolken, Göttinnen, Details von goldenen Muromachi- Videogemälden und Clips aus alten, schwarzweißen Samurai- Filmen herauf, das gesamte kollektive Mangabewußtsein eines Japans, das es schon lange vor der Erschaffung Neu-Nippons gegeben hatte. Als er fertig war, stand Yaz einfach nur da, eine ritterliche Gestalt mit gesenktem Kopf. Er wartete auf die Kritiken. Die Monitorwand löste sich auf und füllte sich mit dem Rie- senbild einer rotwangigen Japanerin, die das Gewand einer Hofdame aus dem elften Jahrhundert trug. Sie hatte langes schwarzes Haar, das ihr über die Schultern herabwallte, und Rougeflecken im Gesicht. Ihre Augen waren tiefschwarz, aber von einem verborgenen Feuer erfüllt. Ihr leicht geöffneter Mund zeigte stilvoll geschwärzte Zähne. Sie klatschte leise mit den puderweißen Puppenhänden. »Nur einer kann so wundervoll spielen! Yazu-san, o-ashiburi desu-ne!« Sie verbeugte sich wieder. »Es ist so lange her, seit wir deine Flöte gehört haben!« Yaz erwiderte die Verbeugung. Nach und nach erlosch die Fernsehwand bis auf das Bild einer Tür, die in einer Ecke der Wand auftauchte. Yaz drückte auf das Bild, und die Tür schwang auf. Sie traten ein. »Dozo irrashaimassen! Willkommen!« Es war die Frau, die sie draußen auf dem Bildschirm gese- hen hatten. »Deine Darbietung wird zur künftigen Freude unserer Kunden in die Speicherbänke der Wand aufgenom- men.« »Ich fühle mich geehrt.« »Wer ist dein Freund?« Ama wandte sich mit einem breiten Lächeln an Gobi. »Das ist Frank-san. Er kommt aus San Francisco.« »Meine Güte, ist das ein weiter Weg! Bitte fühlen Sie sich ganz wie zu Hause. Hier entlang, bitte!« »Sie haben mir nicht gesagt, daß Sie hier Stammkunde sind«, flüsterte Gobi Yaz zu, als sie der Eigentümerin in ihr Etablissement folgten. »Ich war nur wenige Male hier, Frank-san. Sie haben hier eine hochinteressante Bilddatenbank. Man findet darin immer wieder Neues.« »Dozo.« Ama wies ihnen Plätze am Sushi-Tresen zu. Die Einrichtung folgte dem Stil »rustikale Höhle«; die Wän- de wurden von Aquarien gesäumt. Eine buddhistische Nonne mit einer Trodentrage auf dem Rücken arbeitete in einer Ecke an einer Schüssel Reis. Ein stark behaarter Kerl, der aussah, als könnte er ein Ainu- Eingeborener von Hokkaido sein, trank allein am anderen Ende der Theke. Er hatte sich grellweiße Lamellen wie ein Visier ins Gesicht implantieren lassen. An Privattischen im Hintergrund unterhielten sich einige Otakus leise miteinander. Der Sushi-Küchenchef brachte ihnen zur Erfrischung zwei dampfende Oshibori-Handtücher. Er war ein hagerer Mann mittleren Alters mit langem Gesicht und einem Goatee, der nur noch aus ein paar übriggebliebenen Haaren bestand. Um den Kopf herum trug er das traditionelle Trodenband eines Sushi-Küchenchefs. »Hai.« Er verbeugte sich und wischte über den Tresen. »Womit kann ich Ihnen heute dienen?« »Was ist interaktives Sushi denn nun?« flüsterte Gobi Yaz zu. »Tja, das ist die Spezialität des Hauses«, erklärte Yaz. »Sie essen Fisch, der Fisch ißt Sie.« »He?« »Alles in Ordnung, Yazu-san?« erkundigte sich Ama. »Er ist zum ersten Mal hier«, erklärte Yaz ihr. »Ach so.« Sie nickte freundlich. »Soll ich ihm die Prozedur darlegen?« »Nein, schon okay, das mache ich.« Yaz wandte sich an den Sushi-Küchenchef. »Wir fangen mit Thunfisch an, dann Seeohr, Makrele und Aal. Was ist die Spezialität des Tages?« »Seeigel.« »Ausgezeichnet. Davon nehmen wir auch etwas. Und hei- ßen Sake.« »Hai.« Der Küchenchef verbeugte sich und zog sich zurück, um die bestellten Gerichte vorzubereiten. »Hören Sie, Yaz, das Ganze gefällt mir nicht. Ist das über- haupt eine normale Sushi-Bar?« »In Chibatown ist nichts normal«, sagte ihm Yaz. »Aber um Ihre Frage zu beantworten. Das hier ist karmische Küche. Haben Sie in Amerika noch nichts davon gehört? Das über- rascht mich. Gäste, die sich bei Ama einfinden, >essen< ihr Gericht nicht einfach. Ein Energieaustausch findet statt. Sie nehmen das ureigene Wesen der Nahrung auf.« Yaz vermengte die grüne Wasabipaste mit seiner Sojasoße. »Mit anderen Worten, Frank-san«, fuhr er fort, »Sie erklären sich einverstanden, die Lebensessenz der Nahrung in Ihren eigenen höheren Weg aufzunehmen, so daß der Fisch Ihren Weg der Evolution als nächste Stufe in seiner eigenen Evoluti- on annehmen kann. Verstehen Sie?« »Ich verstehe. Und die Sensoren an den Eßstäbchen?« Gobi war aufgefallen, daß die Stäbchen blinkende Spitzen besaßen. »Eichen sie die Aura des Fisches?« »Oh, die. Das ist nichts. Nur Dekoration.« »Ja, die bekommen wir billig aus Taiwan.« Ama lächelte, als sie ihnen eine dampfende Flasche Sake und einige kleine Schalen brachte. Sie streifte den Ärmel zurück und schenkte jedem einen Schluck ein. »Mmm«, brummte Gobi genießerisch, als das Feuer durch sein Nervensystem raste. »Augenblick mal«, sagte er. »Wenn ich diesen interaktiven Fisch esse, heißt das etwa, daß ich dann das Karma von Thun- fisch, Seeohr, Makrele und Aal in mich aufnehme?« »Nicht zu vergessen vom Barsch.« Gobi war wie betäubt. »Keine Sorge, das geht aufs Spesenkonto«, lachte Yaz. »Es gehört zum Karma der Satori Corporation, für so etwas aufzu- kommen. Kampai!« »Die Bar sieht irgendwie leer aus«, meinte Gobi, nachdem er von einem Seeigel gegessen hatte, der offenbar eine schwere Kindheit gehabt hatte. »Das Geschäft könnte wirklich bessergehen«, stimmte Yaz zu. »Wie schmeckt Ihnen der Aal?« »Ist mir etwas zu mürrisch. Sollten wir jetzt nicht das Foto herumzeigen?« »Sie haben recht. Masta!« Der Sushi-Master kam herbei. »Hai?« »Masta, darf ich Sie etwas fragen?« Der Küchenchef zog die Troden um seinen Kopf straff und wischte mit einem Tuch den Tresen ab. Sein Blick war wach- sam. Yaz zeigte dem Küchenchef den Satori-Ausdruck. »Kennen Sie diese Leute zufällig? Ich glaube, sie sind bei Ihnen Stamm- kunden.« »Sa neh...?« meinte der Küchenchef und kratzte sich am Kopf. »Kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Wir haben so viele Gäste.« Er wandte sich an den Otaku am Ende des Tresens. »Mamo, was hältst du davon?« »Eh?« Das war der behaarte Kerl mit dem Silbervisier. Er hob den Kopf vom Sake. Sein Gesicht war rot und die Poren so verstopft, daß sie aussahen, als hätte jemand Zement hinein- gegossen. Er trug einen zerknitterten Happi-Mantel und hatte sich einen roten Seidenschal um den Hals geschlungen. »Was wollen Sie wissen?« fragte Mamo, als er das Shashin musterte. »Es wurde auf einem Superholo 22 von Satori aus- gedruckt. Jemand hat eine Knopflochlinse benutzt, um es aufzuzeichnen. Muß Teil eines Tagebuchs gewesen sein. Ich frage lieber nicht, wie ihr Knilche da rangekommen seid, denn wie ich sehe, hat man's anscheinend entschlüsselt.« Er betrachtete es genauer. »Keine schlechte Arbeit, auch wenn bei dem Prozeß ein paar Daten verlorengegangen sind. In den Filofax-Himmel eingegangen, eh?« Mamo gab dem Küchenchef das Foto zurück und grinste breit, wobei er Zähne zeigte, die fast völlig vom purpurnen Gaumen überwachsen waren. Er wandte sich an Yaz. »Wollen Sie, daß ich das Holo für Sie durchchecke? Sind Sie deswegen hier? Keine Sorge, Sie sind an den Besten geraten. Holodoktor Mamo steht Ihnen zu Diensten. Ich wette, ich kann sogar noch etwas Audio herausquetschen.« Er warf ihnen einen verschlagenen Blick zu. »Das heißt, wenn es Sie interessiert.« »Audio?« Yaz wirkte verblüfft. Mamo warf erneut einen Blick auf das Shashin. »Das ist ein Sechzigspurholo. Irgendwo muß da auch eine Audio- Unterspur drauf sein. Sehen Sie diesen verschwommenen Teil, leicht gelblich?« »Ja?« »Das ist die Farbe des Klangs vor der Löschung. Also war wohl irgendwann mal Ton drauf.« »Sie meinen, Sie können ihn verstärken?« fragte Yaz. »He, wollen Sie die Babyfotos als kostenlose Dreingabe?« Er grinste und zeigte dabei wieder seinen dunklen Gaumen. »Ich kann auch in der Zeit vor- und zurückgehen, ganz wie Sie wollen. Morphing von Geschlecht und Spezies kostet aber extra.« »Wo ist Ihr Labor?« fragte Yaz. »Können wir gleich damit anfangen?« Mamo kicherte. »Sie brauchen es wohl gestern, was?« »Genau.« »Übernehmen Sie meine Zeche?« Yaz schnippte ihm einen Neue-Yen-Chip zu. »Wir können den Kreditrahmen da drauf erhöhen. Hängt ganz von Ihrer Arbeit ab.« Mamo wurde putzmunter, als er den Chip sah. »Ich wohne nicht weit von hier«, sagte er und erhob sich. »Zu Fuß unge- fähr fünf Minuten. Habt ihr Typen fünf Minuten Zeit?« Sayonaraville Mamo führte sie tiefer in die Seitenstraßen von Chiba City, fort vom Wellenkamm aus Neon, der sich am Matrix-Riff brach. Sie hörten ein lautes Quaken und blickten auf. Es war eine Nintendo-Ente mit schlagenden Flügeln. Boom! Boom! Boom! Sie sahen mehrere gewaltige Blitze, dann fiel der Vogel wie ein abgeschaltetes Manga vom Himmel. »Entenjagd-Freaks!« Mamo spuckte verächtlich auf den Bo- den. »Man sollte sie dem GEGH melden.« »GEGH?« wollte Gobi wissen. »Gesellschaft zur Einstellung von Grausamkeiten an Holoi- den ­ oder heißt es Gesellschaft zur Erhaltung großchinesi- scher Hologramme?« fragte sich Mamo. »Das kriege ich nie auf die Reihe. Diese Nintendo-Enten sind praktisch schon ausgestorben.« »Ist es noch weit bis zu Ihnen?« fragte Yaz besorgt. Seine Hand packte sein langes Schwert fester. »Nicht mehr sehr weit«, antwortete Mamo. »Wieso habt ihr's denn so eilig, Leute? Oh, ich kapiere. Ihr wollt nicht nach der Sperrstunde in Chiba City erwischt werden, stimmt's? Ihr wollt sicher zu Hause sein, wenn die Veränderung eintritt?« Er kicherte. »Jeder vertreibt sich die Nacht auf seine Weise.« Sie kamen an einem Verkaufsstand für Smart Ramen und an einem Zoogeschäft mit genmanipulierten Haustieren vor- bei. Die Hündchenvögel schliefen in ihren mit Zeitungspapier ausgelegten Kisten, wobei sie mit angelegten Flügeln träum- ten. Otaku-Gesichter schauten sie durch Spiegelglasfenster an. Eine Lesbennutte trank in einem Kissaten mit ihrer Freundin einen Espresso, die Nasenringe durch eine Silberkette mitein- ander verbunden. Ein Kiosk, nur einen Meter breit und einen halben Meter tief, verkaufte grammweise Bildungs-Mikrosoftware. Das Diodenboard bot alles zu stark herabgesetzten Preisen an, von gelenkten Lektionen in Graphik durch Toulouse-Lautrec und Hiroshige bis zu Crashkurs-Jukus, die versprachen, jeden Dorftrottel dahin zu bringen, daß er ein Stipendium an der Waseda-Universität erhielt. Sie überquerten eine Seitenstraße, in der gerade an einigen auf dem Gehweg liegenden gefüllten Leichensäcken die Reiß- verschlüsse zugezogen wurden. Die Säcke waren mit fluores- zierenden japanischen Ideogrammen bedruckt. »Defekte Körperteile?« erkundigte sich Gobi. »Aus Trans- plantationslabors?« Er hatte gehört, daß man in den Kellern von Chibatown künstliche Organe züchtete, als wären es Bohnensprossen. Das war so etwas wie die hiesige Baumwoll- industrie. Mamo hielt kurz inne, dann trat er mit dem Fuß gegen ei- nen der Säcke. »Nein, die Typen haben's einfach nicht gepackt, das ist alles. Sie kamen nicht durch.« »Kamen nicht durch?« Mamo grinste und zeigte seinen purpurnen Dilantingau- men. »Sie sind Amerikaner und zum ersten Mal in Neo-Tokio, stimmt's? Diese Yojimbos haben den Flux nicht gepackt. Manche kommen nicht wieder. Das hätte Ihnen Ihr Freund sagen sollen«, meinte er und stupste Yaz mit dem Daumen an. »Nein, die Knilche sind tot, Mann. Die wachen nicht mehr auf. Nicht mal in Sayonaraville«, sagte Mamo und führte sie durch eine Lücke zwischen den Leichen. Dann ließ Mamo an einem niedrigen Eingang, der eine Art Nische in einer Fiberglaswand bildete, das rote Auge seiner Fernbedienung aufblitzen. Die Tür schwang auf und enthüllte eine enge Treppe, die von einer nackten Halogenbirne erhellt wurde. »Es ist gleich da oben«, sagte Mamo, als er die steile Treppe hinaufschnaufte. »Nur eins, Jungs, ich habe eine Zimmerge- nossin, Marie. Wir teilen uns das Loft. Wahrscheinlich ist gerade ihr Hauptstecher bei ihr, also wollen wir sie nicht stören, in Ordnung?« »Keine Sorge.« Yaz blinzelte Gobi zu. »Wir sind bloß ge- kommen, um unsere Geschäfte zu tätigen, rein und raus, dann sieht keiner mehr was von uns.« »Okay, kommt rein«, sagte Mamo und gab dabei den Öff- nungscode der Tür ein. »Laßt euch von dem Durcheinander nicht abschrecken.« Das Loft war ein hoher Betonbau mit Wänden aus Segeltuch und Wohnarbeitsbereichen auf drei Ebenen. Auf dem Boden einer kleiner Schlafnische eine Treppe tiefer lag ein Zabuton- Kissen, vor dem ein niedriger japanischer Tisch stand, auf dem sich unerfindliches Zeug stapelte. Die Eingeweide von Ausrüs- tungsgegenständen, mehrere auseinandergenommene Com- puteranlagen und ein Spaghettidickicht aus Fiberglasfäden, teilweise noch aufgespult, bedeckten den Hauptarbeitsbereich. Zwei Scheinwerfer waren nach oben auf das verzerrte Ge- sicht eines fast vier Meter hohen, blutrot lackierten Dewa King gerichtet, der in leidenschaftlicher Pose dastand und ein Kurzschwert schwang. Es handelte sich um den Wächter eines Niwo-Tempels aus der Kamakura-Periode im zwölften Jahr- hundert. »Wo haben Sie den denn her?« sagte Gobi. »Das sieht ja wie ein Museumsstück aus. Es muß ein Vermögen wert sein!« »Finden Sie?« fragte Mamo vergnügt. »Wie sind Sie da herangekommen?« »Ich habe ihn für Beratungsarbeiten eingetauscht.« »So desu ka?« meinte Gobi skeptisch. Mamo lachte. »Dieser Niwo ist mein Kumpel. Eines Tages ist er mit mir aus dem Großen Digitalen Jenseits zurückge- kehrt. Sie wären erstaunt, was für Schätze manchmal auftau- chen. Wer was findet, darf es behalten ­ stimmt's nicht? Ha, ha, ha!« Gobi fragte sich: Ist das wirklich möglich? Kann man tatsäch- lich Gegenstände ­ historische Gegenstände ­ aus der Vergangen- heit mit zurückbringen? Er sah es schon vor sich: Privatschnüffler Gobi sitzt in seinem Psychoschnüffelbüro in North Beach. Ein Anwalt, der einen Kunsthändler aus Zürich vertritt, bittet um eine Konsultation. »Was kann ich für Sie tun?« fragt Gobi ihn. »Wir haben einen Klienten mit 326 echten Vermeers in seiner Ga- lerie.« »Und worin besteht das Problem?« »Es handelt sich jeweils um dasselbe Gemälde, Mr. Gobi. Der Senkelmacher, Öl auf Holz, ca. 1669/70.« »Ich verstehe.« »Der Louvre in Paris, der im Besitz des Originals ist, hat Klage gegen uns erhoben. Die Sammlung meines Klienten soll vernichtet werden.« »Was soll ich in dieser Angelegenheit tun?« »Wir möchten, daß Sie die Echtheit der Vermeers unseres Klien- ten beweisen. Jedes Gemälde wurde auf ehrliche Weise über die Zeit hinweg erworben, unter Wahrung jeglicher gesetzlicher Anforde- rungen und unter Entrichtung eines angemessenen Einfuhrzolls.« »Ich finde, Sie sollten sich jetzt besser an die Arbeit ma- chen«, riet Yaz Mamo schroff. »Schön, zeigen Sie mir noch mal das Foto.« Gobi reichte ihm den Ausdruck. Mamo nahm ihn entgegen und setzte sich auf das Zabuton-Kissen am Tisch. Er hob das Silbervisier an, und sie konnten seine Augen sehen, oder was als seine Augen durchging. Dünne Membranen bedeckten sie. Er grub die Finger unter das Gewebe und zog die Olympus-Linsenplantate aus den leeren Höhlen. »Nichts für ungut«, sagt er, als er Gobis entsetzte Miene bemerkte. »Meine elektronischen Kontaktlinsen sind vor ein paar Jahren explodiert. Das waren frühe Modelle, wissen Sie. Mußte meine Optik wiederherstellen. Ein Mailorder-Job, gar nicht mal so übel. Technisch gesehen bin ich blind wie eine Fledermaus, aber keine Sorge, ich weiß immer, was ich mir ansehe.« Mamo saß im Schneidersitz auf dem Tisch, lud die Auf- nahme in ein Holodeck und scannte sie. Er tippte auf der Tastatur herum, und das Bild begann sich in mehrere Audio- Fonds zu zerlegen. »Hmm, mal sehen, was wir haben«, meinte er. »Hat eine nette Dingbat-Morphologie. Man beachte die gelispelten Grün- und Gelbtöne. Hier fehlt ein nettes phonetisches Blau. Okay, okay. Weg mit dem Ding. Was haben wir denn hier? Oh, das ist ja ein Privatetikett. Von der Ich-zeig-dir-meinen- und-du-zeigst-mir-deinen-Sorte. Niedlich. Die übliche Holota- gebuch-Sicherung. Versuchen wir es mal hiermit. Wow, da kommt man ja an Lucky-Gold-Star schwerer ran. Um das aufzukriegen, brauche ich eine Stange Kimchi. Also gut, Jungs. Einen Moment. Geduld, Geduld. Kommt schon.« Er klappte das Visier wieder herunter und lächelte. »Dauert nur eine Sekunde. Das Programm läuft schon.« Erneut musterte er den Bildschirm und klickte dann ein I- con an, um den Subcode zu überprüfen. »Wie ich's mir dachte, Leute. Das war ein Scheinprogramm. Tz, tz. Clever, clever. Schmutzig, schmutzig. In Ordnung, jetzt nehmen wir uns das echte Zeug vor.« Er tippte auf ein paar weitere Tasten. »Wer sagt es denn!!!« rief er aus. »Sehr ihr, jetzt sind wir im Knopfloch...« »Im was?« fragte Gobi. Mamo warf ihm einen wütenden Blick zu. »Im Knopfloch, Mann. Von dem Knilch, der die Aufnahme gemacht hat. Sehen Sie dieses faserige Zeug? Das ist Mull. Das andere sind Fäden. Fäden vom Anzug. Sehen Sie?« Auf dem Bildschirm waren vergrößerte Fäden zu sehen. Gesichter von Menschen spähten hindurch wie durch unweg- sames Dschungeldickicht. Stirnrunzelnd betrachtete Mamo die leuchtenden Kugeln, die aussahen, als wären sie ein Teil der Milchstraße. »Was ist das?« fragte Gobi und musterte die perlenartigen Gebilde eingehend. »Sieht wie eine weiße Lichterkette aus. Dicht genug dran, um in die Linsen zu reflektieren. Könnte irgendwelcher Schmuck sein. Tut mir leid, ich kann's nicht deuten.« Mamo hantierte am Tuner. »Okay«, sagte er. »Die Auflö- sung wird besser. Jetzt können Sie sein Gesicht sehen.« »Sein Gesicht? Wo?« »In dem Glas auf dem Tresen.« Die Nahaufnahme zeigte das Spiegelbild des Mannes, der das Foto von der an der Sushi-Bar sitzenden Gruppe gemacht hatte. »Sagen Sie«, fragte Mamo mit plötzlichem Interesse. »Kenne ich diesen Yojimbo nicht von irgendwoher?« »Nein, tun Sie nicht«, erwiderte Yaz. »Doch, tue ich«, beharrte Mamo. »Das ist doch dieser Satori- Fatzke. Das ist Kazuo Harada! He, das ist ja in Amas Bar! Er war hier in Chibatown?« »Sagten Sie nicht, Sie könnten die Lautstärke auf der Auf- nahme erhöhen?« erinnerte ihn Yaz. »He, drängen Sie mich nicht so! Das ist Kazuo Harada, Mann! Das kostet Sie was extra!« »Tun Sie's einfach«, befahl Yaz. »Geht klar. Versuchen wir es mal hiermit.« Schon beim ersten Versuch verstärkte Mamo den Sound, aber er war zu laut. Das Zimmer dröhnte. »Whoah! Nichts für ungut! Das war die von ihm program- mierte Lautstärkekontrol... empfindliche Trommelfelle, he? Ich glaube, der Fatzke hat ein Schneckenimplantat. Yep, ein J- 32-Ohrhörer von Kawasaki, und er hat den Sound so weit aufgedreht, bis er ihn selber hören konnte.« »Können Sie's nicht leiser drehen?« fragte Gobi. »Klar, schon passiert. Ist zwar nicht Echtzeit, aber das nächstbeste Ding.« Mamo nahm einen Sound Stripper und zielte damit auf den Schirm. »Das hier ist mein Spezialskalpell«, erklärte er. »Es befreit den Sound von Schichten alten Narbengewebes. Ohne das Teil wäre ich aufgeschmissen. Lauschen Sie mal...« Sie vernahmen eine Männerstimme. »Das ist Harada«, flüs- terte Yaz Gobi zu. Sie hörten, wie er sich an einen anderen Mann wandte: » Wieso schaust du so finster drein, Sato? Das ist schließlich eine Feier. Amüsier dich, ich befehle es dir!« Ein Dröhnen erfüllte die Lautsprecher. Mamo hantierte am Soundfilter herum und ließ das Bild zurücklaufen. In der Ecke der Sushi-Bar riß der junge Mann mit den kohlschwarzen Augen den Mund auf. »Sensei, Sie können die Natur des Virus nicht verändern. Ich hab's doch versucht. Nicht einmal Sie, und wären Sie...« »Unsinn, Sato-kun, wir wissen, daß es ihn gibt, und jetzt arbeiten wir am Gegenmittel, alles zu seiner Zeit...« »... bleibt keine mehr.« In dem Moment hörte Gobi ihre Stimme. Er spürte ein Krib- beln in der Wirbelsäule, und als er hochsah, starrte Yaz ihn merkwürdig an. »Ein Mann aus Amerika wird kommen. Er wird wissen, was zu tun ist.« Yaz sagte zu Gobi: »Das ist die Stimme der Miko, nicht wahr, Frank-san? Der Frau, die Sie gekannt haben? Wie hieß sie doch gleich?« »Kimiko«, antwortete Gobi. »Sie hieß Kimiko.« Plötzlich ging im Loft ein elektronischer Alarm los. Alle sprangen gleichzeitig auf, erschreckt von den schrillen Pfeiftö- nen. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Yaz. »Scheiße, Mann!« kreischte Mamo und löste sich vom Deck. Er klickte ein Video-Icon auf dem Bildschirm an, das ihm den Flur vor seinem Loft zeigte. »Wenn's schon mal gießt, dann aber gleich aus Kübeln«, beschwerte er sich. »Sieht so aus, als wollten ein paar Kunden vorbeischauen. Ich lasse sie besser rein, ehe sie noch den Summer tilten.« »Augenblick«, sagte Yaz und blickte dabei auf den Bild- schirm. »Damit täten Sie sich keinen Gefallen.« »Sie kennen sie?« fragte Mamo. Yaz sah mit besorgter Miene zu Gobi hoch. »Das sind die- selben Kerle, die uns auf dem Weg nach Chibatown ausschal- ten wollten. Ich dachte, wir hätten sie abgehängt.« Gobi starrte auf den Bildschirm. »Mist.« Drei Bürstenschnitt-Yaks standen vor der Tür. Der, der sie mit seinem Partner im Barracuda hatte überrollen wollen ­ und die beiden frischen Klumpen Kobe-Rindfleisch. Durchs Fischauge konnte man ihre stumpf blickenden Gesichter sehen, samt Pockennarben und allem, wie sie sich die Nasen an der Tür platt drückten. »Frank-san, ich finde, wir sollten jetzt besser gehen«, schlug Yaz vor. Bürstenschnitt Nr. 1 hantierte mit einem Infrarotstift herum und nahm eine Strichcodeanalyse des Sicherheitssystems vor, indem er ihn am Rahmen rauf- und runterführte. Nr. 2 und Nr. 3 probierten es auf direktere Weise und rammten mit den klobigen Schultern die Tür. Yaz gab Mamo einen Neue-Yen-Chip. »Vielen Dank. Kann ich das Foto wiederhaben?« Mamo sah kurz auf den Chip, ließ das Holo-Shashin aber nicht los. »Glauben Sie, das reicht für eine neue Tür?« Yaz gab ihm noch einen Chip. »Danke«, sagte Mamo und war jetzt still. Er reichte Yaz das Shashin. »Gibt's hier noch einen Weg hinaus, außer der Vordertür?« fragte Yaz. »Durch Maries Bude eine Treppe höher. Aber ich glaube kaum, daß es ihr gefallen wird, wenn ihr Typen einfach so bei ihr reinschneit... Scheeeeiiiße!« rief Mamo aus, als die Yaks die Tür aus den Angeln wuchteten. Gobi eilte die Treppe hoch, gefolgt von Yaz. Als er von der Galerie im Zwischenstock hinunterschaute, hatte er klare Sicht auf das blutrote Halo, das auf dem Rücken des vier Meter hohen Dewa King befestigt war. Ein Knäuel von Netzfäden aus dem zwölften Jahrhundert hing in der Halsmulde. Den plumpen behaarten Leibern nach zu urteilen hatten die Spinnen wohl gerade ein üppiges Mahl zu sich genommen. Es war ein schmaler Kamin von einem Loft, aber oben fanden sie schließlich, wonach sie suchten. Eine hastig zugeschnürte Lasche aus Zeltleinwand diente als Tür. Yaz löste mühelos die Knoten, und die beiden Männer betraten Maries Boudoir. Gobi brauchte einen Moment, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ein auf Synthesizern gespielter Raga erklang aus den Lautsprechern, und Öllampen warfen flackerndes Licht auf die beiden Körper, die sich auf der Plattform liebten. Sie waren in etwas verschlungen, was wie ein Teppich aus Spulen und Troden aussah. Gobi hörte das Rascheln und Klirren der Kabel, das immer dann erklang, wenn die Körper aneinanderschlugen. Auf einem Luftmonitor, der über dem Zentrum des kreis- runden Liebesnests um seine eigene Achse rotierte, war ein Erotorama zu sehen. Die Anschlüsse verliefen über dem Bett und schlängelten sich wie grüne Glasfaserranken auf einem Dschungelboden dahin. Mein Gott, sie sind ja von oben bis unten vernetzt! erkannte Gobi, als er die Kabel vom Bett bis zu einer Erosgizer-Konsole von Sanyo verfolgte. Er konnte den Blick nicht von der Szene abwenden. Es war wie ein Fries aus einem der indischen Liebestempel in Khajuraho. Götter und Göttinnen, Nymphen und Devas, Schlangen und selt- same geflügelte Tierwesen trieben Unzucht miteinander. Da gab es Wesen mit zweifelhaften Begierden, die Dinge taten, die nur Wesen mit zweifelhaften Begierden einander zufügten... »Frank-san!« zischte Yaz ihm ins Ohr. »Hayaku! Wir müs- sen weiter!« Gobi machte einen Schritt und stolperte über ein Kabel. Mist! Funken explodierten im Zimmer. Er mußte über eines der Anschlußkabel gestolpert sein. Die Sicherungen begannen durchzuknallen wie eine Anzahl chinesischer Kracher. Ploff! Ploff! Ploff! Ploff! »Ah, oh, ah, oh, ah, oh, ah, oh...« Die oben liegende Frau begann sich heftig aufzubäumen, als sie auf den Orgasmus zuraste. »Yaaaaa! Yaaaa!« Ihre Partnerin kam bereits. Es war eine Frau mit Kurzhaarschnitt. Während er auf die Hintertür zuhumpelte, sah Gobi ihre schweren Brüste. Die gepiercten Brustwarzen ragten aus einem weitmaschig aus Glasfaser gewebten BH hervor. »Wer zum Teufel sind Sie?« schnaubte die Trägerin. »Ups, tut mir leid... wir sind schon weg. Die Tür ist doch in der Richtung? Lassen Sie sich bloß nicht stören«, entschuldigte sich Gobi, während sein Fuß noch immer in einem Kabelwirr- warr verheddert war. Da geschah das Unerwartete. Vom plötzlichen Energiestoß um Gobis Fuß herum angezogen, flog einer der unzüchtigen geflügelten Affen aus dem erotischen Diorama, das sich jetzt nicht mehr drehte, heraus. »Ch-ch-ch-ch-ch-ch-ch...« Er schnatterte wild drauflos, wäh- rend er durchs Zimmer sprang und sich an Gobis linkem Ohr festsetzte. Der Affe hing mit seinen mächtigen, irgendwie rosafarbe- nen Fingern an Gobis Hals. Sein nasses Mundwerk schnatterte weiter neben seinem Gesicht, während er Gobis Kopf zu rammeln versuchte. »Runter von mir!« schrie Gobi. Yaz stand hilflos im Türrahmen. Er hatte keine Ahnung, was er als nächstes tun sollte. Er hatte das Tier aus dem Moni- tor fliegen sehen, ein Aufblitzen brauner und rosafarbener erotischer Energie von geringer Stärke, die offenbar einen Kurzschluß verursacht hatte. Jetzt hörten sie das Geräusch schwerer Schritte auf der Treppe. Die Yaks konnten jeden Augenblick hier sein, dachte Gobi. Was sollte er nur mit diesem völlig außer sich geratenen Affen anfangen? »Beeilung!« drängte Yaz Gobi. Sie nahmen zwei Sprossen auf einmal, als sie die Feuerleiter hinunterspurteten, der Holoid-Affe noch an Gobis Hals. Wopp! Wopp! Wopp! Aus dem Boden vor ihnen brachen Schmutzgeysire. Gobi und Yaz blickten auf. Oben auf der Treppe stand ein Yak. Er zielte mit Laser-Shuriken hinunter in die Gasse. Der Affe auf Gobis Schulter verzweifelte. Allmählich wurde ihm klar, daß er in der Welt der Materie hoffnungslos verloren war. Was von seiner Programmierung noch übrig war ­ viel- leicht siebenhundertfünfzig Zeilen seines Biocodes ­, begann sich zu einer dämonischen Triebkraft zu verdichten, die sich an ihre neue Energiequelle klammerte. Leider war diese Ener- giequelle irgendwo unter Gobis linkem Ohr konzentriert, wenige Zentimeter vom rechten Schläfenlappen seines Kortex entfernt. »Da entlang!« schrie Yaz und deutete auf einen engen Durchgang zwischen zwei Gebäuden. Der Yak war inzwischen zur Hälfte die Feuerleiter hinunter und stand gerade im Begriff, wieder ein Shuriken nach ihnen zu werfen. Da hatte Gobi eine Eingebung. Er packte den Holo-Affen an den behaarten Knöcheln. Mit äußerster Kraft schleuderte er ihn auf den Yakuza zu. Das fliegende Affenplasma erwischte den Yak völlig überraschend. Jetzt bedeckte der Affe das Gesicht des Yakuza. Sein mage- rer Holoidkörper schlang sich um dessen Hals, und seine spitzen Knochenfinger begannen sich tief in seine Augenhöh- len zu graben. »Aargh! Aargh! Aargh!« Halb ohnmächtig vor Schmerzen tänzelte der Yak im Kreis und versuchte, sich den Alptraum von den Augen zu reißen. Hinter ihm erschien ein zweiter Yakuza. Als er das schnat- ternde Gebiß und die zerdrückenden Finger des wahnsinnig gewordenen Affen sah, stieß er einen ähnlichen Schrei aus. Die Nunchaku-Stöcke baumelten nutzlos an seiner Seite. Er konnte sich nicht dazu bringen, seinem Partner ins Gesicht zu schla- gen. Plötzlich brach die Lebensenergie des Mannes wie ein Windstoß, der welkes Laub über den Boden fegt, aus den leeren Augenhöhlen hervor. Den mit blutigem Schaum be- deckten Lippen entrang sich ein Stöhnen, und der Yakuza sprang von hoch oben in die Gasse hinunter. Gobi und Yaz hörten den dumpfen Aufprall, als sein Kör- per auf dem Boden aufschlug. Das braun-graue Ektoplasma des Holoid-Affen schwebte noch eine Weile über der Leiche des Yak. Das Wesen war verwirrt. Sein Wirt war tot. Es würde sterben. Es wandte den Blick zu Gobi hoch, ein Ausdruck größten Elends in den Augen ­ als flehte es ihn an, doch etwas zu unternehmen. Gobi wußte genau, was zu tun war. Er leitete das Chi in sein Hara hinunter. Schnell, wie lautete die Kombination für das Tresorschloß doch gleich? Zahlen ratterten, Riegel glitten zurück. In der Schwärze regte sich ein Bewußtsein. Es besaß Sinne. Es hatte ein wenig fernge- sehen, eine NHK-Dokumentation über einen primitiven Stamm in New Jersey, eine Art HDTV-Frachtkult. Jetzt vernahm er die Stim- me. Ein alter Mann, der um Worte rang. ­ »Salto? Bist du das? Ist es soweit? Hat sich die Welt verändert? Ist mein neuer Körper bereit? Wer werde ich sein?« Und dann ­ »WER SIND SIE?« - »Ryutaro Kobayashi?« - »Hai.« - »Ich fürchte, ich muß Sie jetzt übertragen.« - Schweigen. - Der alte Mann fragte: »In meinen neuen Körper?« - »Ja. Bitte bereiten Sie sich darauf vor.« - »Werde ich Mann oder Frau sein?« - »Weder noch.« - Pause. »Habe ich eine Wahl?« - »Nein.« - »Ist das die letzte karmische Entscheidung?« - »Ja.« - Ein Seufzen. »Ich hatte gehofft...« - »Viel Glück in Ihrer neuen Existenz.« Gobi und Yaz sahen mit an, wie der Affenholoid schnatternd zu einem Gitter der Klimaanlage des Gebäudes hastete und im Belüftungsrohr verschwand. Gobi verbeugte sich. »Kobayashi-san, Sayonara.« Und dann fügte er hinzu: »Bitte finde ihn, wo auch immer er ist, und bringe ihm Erleuchtung.« Sarumawashi (Affentanz) Was, ein Affenbewußtsein? Während seine Gedanken sich überstürz- ten, dehnte Ryutaro Kobayashi sein vergängliches Chi auf die Hülle dieses Mangogeschöpfes mit seinen langen rosa Fingern und der rosafarbenen Zeichentrickhöhle anstelle eines Mundes aus. Wo war sein Reich? War es das hier? Er sah nichtssagende Schatten, Silhou- etten und Lichtstrahlen. Es war ein tiefer Schacht. Hoch, hoch, hoch... seine Gedanken gaben dem Wesen den Wunsch ein, zu klettern ­ und das tat es dann auch! Er spähte durch Gitter in ein Zimmer. Ein einsamer Otaku saß bei eingeschalteter Konsole an seinem Schreibtisch. Seine Affennatur fühlte sich vom Licht sofort angezogen. Instinktiv schlüpfte er durch das Gitter hindurch. Minu- tenlang stand er einfach nur da ­ probierte sein Gleichgewicht aus. Wie seltsam er war, dieser körperlose Körper! Der Otaku war online. Mit was auch immer und wo auch immer. Ganz gleich. Es gab überall einen Durchschlupf. Der Lichtteich sah so einladend aus. Als der Otaku den Kopf wandte, um an seiner Tasse Cha zu nippen, ließ sich die Affenessenz von Ryutaro Kobayashi in den Strom gleiten und schwamm, schwamm, schwamm, immer tiefer und tiefer ins Es- von-Es hinein. Er kehrte zum Ursprung zurück. Der Otaku sah den schwachen Lichtschimmer auf dem Bildschirm. Er starrte darauf, bis er weg war, seufzte und machte sich dann wieder an seine Runde Sadomaso-Majong. Burakumin Der Mann im aufblasbaren Mantel stand neben den Wieder- aufbereitungsgruben im hinteren Bereich des Industriekom- plexes. Er hatte die Ereignisse aus der Ferne verfolgt. Yaz und Gobi zwängten sich durch die lange Reihe von O- taku-Apartments und kamen zwischen den Hütten der Beset- zer auf einer Lichtung wieder heraus. Jemand hatte draußen ein Feuer entfacht. Offenbar lebte hier eine kleine Gemeinschaft Bangladescher. »Gaijin burakumin«, sagte Yaz zu Gobi. »Das sind Unbe- rührbare aus dem Ausland.« Natürlich hatte Gobi schon von den ausländischen Bura- kumin-Gemeinschaften in Neu-Nippon gehört. Die hier bestritt ihr dürftiges Auskommen in Chiba City anscheinend damit, daß sie für das Otaku-Kollektiv mit den periodisch auftretenden Energieüberschüssen Handel trieb. Er empfand größtes Mitleid mit ihnen. Gobi war sich bewußt gewesen, daß der Erfolg der Techno- logie von Neu-Nippon auf einer symbolischen Beziehung mit den eingewanderten Unberührbaren aus der dritten Welt beruhte. Aber erst jetzt verstand er richtig, wie sie als mensch- liche Filter funktionierten. Natürlich. Klar. Sie nahmen dysfunktionale Energien in sich auf wie die Energie des Holoid-Affen, der aus dem Sanyo-Deck in Maries Zimmer gesickert war. Per Quickscan stellte Gobi fest, daß die Bangladescher eine Methode perfektioniert hatten, den Energieabfluß in lange, wurstförmige Behälter zu verpacken, die sie um den Hals und auf dem Rücken trugen. Die Behälter waren durchsichtig und glühten von der dunk- len Leuchtkraft ausrangierter Software-Karmas. »Mein Gott, diese Leute sind menschliche Strahlungsschir- me!« rief Gobi aus, als ihn die Erkenntnis traf. »Das hier ist eine Schutthalde für Giftmüll!« Yaz sagte entschuldigend: »Es hat sie keiner darum gebeten, nach Neu-Nippon zu kommen. Sie dienen ihrer Adoptivhei- mat gern. Das sind Energiepacker der zweiten und dritten Generation.« »Was tun sie denn?« Ein hochgewachsener, dürrer und dunkelhäutiger Bangla- desch-Buraku stocherte mit einem langen Stab in der Glut- asche des Feuers herum. Als er sie sah, lächelte er. Er hatte keine Zähne mehr im Mund. Er trug eine dünne Baumwoll- jacke über einem Rock seiner heimatlichen Tracht und billige Zori-Schlappen aus Gummi. Er hatte eine wurstförmige Röhre geschultert. Gobi sah, daß sie eine bräunlichschwarze Energie enthielt. Der Mann quetschte das Ende der Röhre über dem Feuer aus, und eine teerartige Substanz tropfte in die Flammen. Er röstete ein kleines Tier. Ein dünne, ölig schwarze Rauchwolke erhob sich aus der Grube. Bei den Hütten, die aus nicht wiederverwendbaren Mitsu- bishi-Materialien bestanden, spielten einige nackte Kinder. In den Behelfsunterkünften lagen Körper ­ alte und junge glei- chermaßen, und sie rührten sich kaum. Irgendwo schrie ein Baby. Gobi wurde übel. »Energiepacker?« rief er laut. »Sie mei- nen, man hat sie angeworben, damit sie den Energieüberfluß aus den Otakus absorbieren, den die virtuellen Systeme her- vorrufen, stimmt's?« »Leider gibt es tatsächlich ein elektromagnetisches Feld, das beeinträchtigt wird, wenn alternative Realitäten in die Atmo- sphäre entlassen werden«, gestand Yaz ein. »Jemand muß diese virtuellen Karmas einfach aufnehmen. Das ist ein neues Gesetz der Thermokybernetik, das japanische Wissenschaftler entdeckt haben. Wir hätten nie gedacht, daß so etwas möglich ist. Die besten Wissenschaftler Neu-Nippons arbeiten an der Lösung des Rätsels.« »Wie kommt es, daß wir im Westen noch nicht davon ge- hört haben? Sie haben es wohl geschafft, die Sache geheimzu- halten, nicht wahr?« »Ihre Technologie hat noch nicht unseren Entwicklungs- standard erreicht.« Yaz lächelte traurig. »Wenn es soweit ist, dann können wir der Welt hoffentlich einige praktische Lö- sungsvorschläge unterbreiten.« »Und inzwischen benutzen sie diese armen menschlichen Schwämme dazu, die Software-Gifte zu absorbieren. Das ist kriminell.« »Wir wissen noch nicht, wie giftig die Psyche für die Um- gebung ist«, widersprach Yaz. »Das ist schließlich ein brand- neues Gebiet.« »Aber sehen Sie doch nur, was sie da tun«, sagte Gobi. Er hob vor dem Bangladeschi im Namaste in Anerkennung ihrer gemeinsamen Spiritualität grüßend die Handflächen. »Sie verbrennen ihr verdammtes Karma und verwenden es als Öl zum Kochen!« Der Bangladeschi lächelte zurück, ein herrliches, kraftvolles Lächeln, mit dem er Gobis Gruß erwiderte. Nur Schönheit und Gott waren in seinem Lächeln. »Namaste«, sagte er und legte die Handflächen aneinander. »Konbanwa, guten Abend.« Ohne einen bösen Gedanken verneigte er sich vor Yaz. Yaz erwiderte die Verbeugung. Dann quetschte der Gaijin-Burakumin noch etwas schlech- tes Karma ins Feuer, während der Mann im aufblasbaren Mantel sie weiter aus der Ferne beobachtete. Sein Silbergesicht spiegelte die Flammen im Karma-Ofen. Yaz und Gobi umrundeten die Siedlung der Unberührbaren und durchquerten eine weitere lange Reihe Chibatown-Lofts. Sie kehrten auf demselben Weg, den sie gekommen waren, wieder dorthin zurück, wo Yaz in der Gasse nicht weit von Amas Sushi-Bar entfernt sein Maglev abgestellt hatte. Tomo war noch da, und die Luft schien rein zu sein. »Was meinen Sie?« fragte Yaz Gobi. Er hatte gesehen, wie der Amerikaner mit seiner Energie umging. Er hatte die Miko sprechen hören. Gobi lauschte in sich hinein, stieß jedoch auf eine trübe Ne- belbank, die dicht wie Filz war. Er schüttelte den Kopf. »Schwer zu sagen, zuviel Statik.« Neonwellen brandeten gegen gewaltige Riffe aus Reklame- tafeln, die man über der Gasse errichtet hatte. Einige Häuser- blocks entfernt warb ein lebensgroßer aufblasbarer Gorilla auf dem Dach eines Kaufhauses für Kirin-Bud, indem er auf dem Sixpack einer konkurrierenden Firma herumstampfte. Mit Rush-hour-Passanten beladene Luftschiffe navigierten träge zwischen den Wolkenkratzern, wobei sie mit Scheinwer- fern die Straßen absuchten. In den Bullaugen tauchten die Gesichter von Menschen auf, Mützen tief in die Stirn gezogen, weiße Gazemasken für Männer, rosafarbene und grüne für Frauen. »Wir werden es einfach riskieren müssen.« Yaz holte seine Shakuhachi-Flöte aus dem Rucksack und blies darauf eine kodierte Tonfolge. Sie sahen zu, wie Tomo zum Leben erwachte. Die Turbo- Antriebe an den unbeschädigten Läufen schalteten sich ein. Sein Schädel ruckte hoch. Mit zwischen die Zähne geklemmter Gebißstange wandte das Maglev-Roß sich in ihre Richtung und schwebte langsam zu ihnen herunter. »Hai yo«, wandte sich Yaz an die Maschine, die jetzt still und startbereit vor ihnen stand. In dem Moment fiel das Scheinwerferlicht auf sie. Ein schwarzer Barracuda fuhr am Anfang der Gasse vor. Ein zweiter tauchte am Ende der Gasse auf, um ihnen den Fluchtweg abzuschneiden. Sie blieben in der plötzlichen Lichtexplosion wie gelähmt stehen. Dann schwang sich Yaz in Tomos Sattel, und Gobi folgte, indem er in den Beiwagen sprang. Als sie den beiden Barracu- das näher kamen, bäumte Tomo sich auf. Über ihnen in der engen Gasse tauchte ein schwarzer Suzu- ki-Sunspot-Hubschrauber auf, der mit donnernden Rotorblät- tern jede vertikale Flucht unmöglich machte. Sie saßen in der Falle. Aus einem der Barracudas sprangen vier Yakuzas und stürmten auf Yaz zu. Sie schwangen ihre Nunchakus, als wollten sie Seilhüpfen. Einer von ihnen bleckte Zähne, die mit Pachinko-Kugeln beschlagen waren. »Taktischer Fehler«, gratulierte Yaz ihm. Es blitzte auf, als Yaz sein Katana aus dem Sash zog und die Klinge schwang. Das Gesicht des Yaks verzerrte sich, als die Pachinko-Kugeln in seinem Mund schmolzen und den Schrei erstickten. Die lange Klinge zischte. »Virtuelles Katana«, erklärte Yaz Gobi, als er das Schwert wieder in die Scheide zurückschob. Drei Yakuzas tanzten hektisch um ihren gefallenen Kame- raden herum, während Yaz versuchte, Tomo an ihnen vorbei- zusteuern. »Zwecklos.« Er setzte mit der Maschine zurück; der Scheinwerfer vom Hubschrauber über ihnen blieb auf sie gerichtet, so hartnäckig wie ein nervöses Zucken. »Die Straße vor uns ist dicht!« rief Yaz. Tomo bäumte sich auf und die Turbos jaulten, während Yaz sich im Sattel erhob, um ihre Fluchtchancen abzuwägen. Einen Augenblick später ließ der Suzuki-Sunspot ein Netz über sie fallen. Sie wurden vom Boden hochgehoben wie Lachse, die man aus dem Kushiro fischt, wenn sie flußaufwärts ziehen, um in den Bergen von Hokkaido ihren Laich abzulegen. Die Yaks sprangen aus den Fahrzeugen und stellten sich neben dem Vogel mit seiner baumelnden Fracht auf. Als die Rotorblätter des Hubschraubers eine Zeitlang chaotisch die Luft peitschten, durchliefen kleine Wellen die Rückseite ihrer Anzüge. Dann wendete der schwarze Sunspot um dreihundertsech- zig Grad und flog in Richtung Neo-Tokio davon. Todes-Expreß Gobi schaute zum Hubschrauberhoch und rief Yaz über das ohrenbetäubende Dröhnen hinweg zu: » Wer zum Teufel sind die?« Yaz musterte das Logo auf der Tür des schwarzen Chop- pers. Es handelte sich um eine stilisierte Aktentasche mit einem Beinpaar, das daraus herausragte. Er schnaubte verächt- lich. »Sie nennen sich Todes-Expreß... eine Zustellfirma der Yaku- za. Sie garantieren die Übernachtlieferung menschlicher Pakete überallhin in die Welt ­ andernfalls hat der Kunde einen Mord gratis.« Yaz dachte einen Moment lang nach und fügte hinzu: »Je- mand hat keine Kosten und Mühen gescheut, als er sie beauftragte. Todex ist nicht gerade billig.« Dann verbeugte sich Yaz tief vor Gorbi. »Frank-san, gom- men-na-sai! Vergeben Sie mir! Es war meine Pflicht, Sie zu beschüt- zen! Ich habe versagt!« Tränen standen ihm in den Augen. Aber auch Gobis Augen tränten, und zwar wegen der peitschenden Rotorblätter. »Vergessen Sie's, Yaz! Sie trifft keine Schuld!« rief Gobi zurück. »Wohin bringt man uns?« Yaz bestieg wieder seine Maschine und stemmte sich mit gespreizten Beinen gegen den Wind, die Finger im Netz ver- krallt. Er sah in die Ferne. Chiba City war nur ein Schleier aus Wind und grellem Licht, als der Hubschrauber seine Beute über die dschungelar- tige Neonlandschaft der riesigen kinetischen Reklametafeln dahinschleppte. Ein fünfzehn Meter hoher aufblasbarer God- zilla näherte sich steuerbords auf dem Dach des Kaufhauses Mitsukoshi-Harrod's. Gobi saß vorgebeugt im Beiwagen und umklammerte mit weißen Knöcheln die Windschutzscheibe. Nicht zu fassen, dachte er. Gerade hat man uns geangelt wie Plastikgoldfische auf einem Rummelplatz. Jetzt bringt man uns Gott weiß wohin, und wir können nicht das geringste dagegen tun. Oder doch? Augenblick mal! Gobi durchsuchte seine Taschen. Yaz sah ihm neugierig zu. Was hatte der Amerikaner jetzt schon wieder vor? Da! dachte Gobi aufgeregt. Er hatte es noch! Einen Versuch war es wert. Alles war einen Versuch wert, was sie aus diesem fliegenden Schleppnetz befreite. Gobi stieg aus dem Beiwagen und kletterte mühsam bis zu dem Japaner hoch. Er deutete auf eine Phiole in seiner Hand und dann auf die offene Tür des Hubschraubers. Es handelte sich um das Fläschchen mit San Andreas 8.0, das ihm der Latino-Yakuza im Shuttle nach New Narita gege- ben hatte. Was hatte Carlos doch gleich gesagt? »Was das 8.0 angeht, gebe ich Ihnen einen Rat, Mann. Sie werden schon wissen, wann es Zeit wird, es zu benutzen. Wenn Sie tief drinnen langsam das große Zittern kriegen, das ist der Augenblick, in dem Sie's einfahren müssen.« Tja, das große Zittern hatte er jetzt. Sein Herz wummerte wie ein Kolbenmotor. Die Zeit war reif. Gobi brach den Nippel am Oberteil der Phiole ab und reich- te sie vorsichtig Yaz. »Passen Sie auf, nichts verschütten!« warnte er ihn. Yaz nickte. Er hatte Gobis hektische Zeichensprache verstanden. Yaz holte seine Shakuhachi-Flöte aus der Schultertasche und ließ die Phiole wie einen Pfeil hineingleiten. Er bedeckte alle Löcher der Shakuhachi, um sie so in ein Blasrohr zu ver- wandeln. Dann steckte er das Instrument durchs Netz und feuerte. Einer der Yaks tauchte in der Tür auf, um die Fracht im Netz zu überprüfen. Als er sah, was Yaz vorhatte, reagierte er sofort ­ aber zu spät. Das 8.0 war schon unterwegs. Der Yak versuchte es abzublocken. Er erwischte die Phiole mit den Fingerspitzen und jonglierte kurz damit, doch dann entglitt sie ihm. Sie fiel in den Hubschrauber und rollte auf dem Boden zum Pilotensitz vor. Innerhalb von Sekunden geriet der Hubschrauber außer Kontrolle, hüpfte und drehte sich. An Bord kam es zu einem Beben der Stärke 4,2; die Yaks wußten gar nicht, wie ihnen geschah. Plötzlich schmierte der Hubschrauber in Richtung des God- zillas auf dem Dach des Kaufhauses ab. Er legte sich schräg, und ein Yak fiel aus der offenen Tür. Sie hörten ihn schreien, während er ins Leere stürzte. Der Hubschrauber prallte gegen Godzillas Kinn, und die Rotorblätter rissen das Gestell ein, das den Körper des Riesen- affen hielt. Das Netz mit Gobi und Yaz schabte außen am zwanzigstöckigen Gebäude entlang. Eine Neontafel zerbarst zu blau-grünen und roten Flutwel- len, die sich auf die Straße hinunter ergossen. Der Hubschrauber versuchte verzweifelt, an Höhe zu ge- winnen, Godzillas jetzt luftleeren Kopf am Heck. Das Monster wirbelte wie ein Neonkaleidoskop im Kreis, bis es sich in einer Funkenfontäne aus Pixels löste. Noch immer außer Kontrolle, raste der Hubschrauber wie verrückt im Zickzack durch die Häuserschluchten des Stadt- zentrums von Chibatown. Auf dem Dach eines nicht weit entfernten Kaufhauses stand eine Nissin-Werbung: eine gigantische Schüssel Nudeln. Riesige Eßstäbchen stießen ständig in die Schüssel hinein und wurden wieder herausgezogen. »O mein Gott!« rief Gobi aus. Als der Hubschrauber auf das Dach des Warenhauses zu- raste, erwischten die Eßstäbchen das Netz. Es riß auf, und ihr Motorrad holperte die Kerben der Stäbchen hinunter in die riesige Styroporschüssel. Mit Yaz im Sattel und Gobi im Beiwagen durchbrach Tomo geradewegs den Boden der Schüssel. Einen kristallklaren Augenblick lang schwebte die Maglev- Maschine über dem Kaufhausdach und schaukelte auf dem Geländer des zwanzigstöckigen Gebäudes. Dann riß Yaz die Maschine herum, und Tomos Lebensgeis- ter erwachten wieder. Der abstürzende Hubschrauber durchbrach eine Neontafel, kreiselte auf den verbogenen Rotorblättern und kam in den Trümmern der Nissin-Werbung knirschend zur Ruhe. Sekunden ehe er vom Dach rutschte, sprangen vier Yakuzas in schwarzer Kleidung heraus. Sprengshuriken sausten wie liegende Ausrufezeichen über Tomos Kopf hinweg. Ein Shuriken sprengte hinter ihnen eine Tür auf, durch die das Wartungspersonal die kinetische Nis- sin-Werbung erreichen konnte. Yaz brachte Tomo auf Touren. Gut, er war unverletzt! Dann schnellte er herum, und sie fuhren mit der Maschine die Treppen hinunter. Der Beiwagen schabte am Handlauf entlang und hinterließ einen gewaltigen Funkenflug. »Festhalten, Frank-san«, warnte ihn Yaz, als er Tomo aus dem Treppenschacht heraussteuerte. »Wir gehen wieder auf große Fahrt!« Sie durchbrachen zwei große Pendeltüren. Gobi schüttelte nur den Kopf. Es sah so aus, als befänden sie sich in der Abteilung für Damenunterwäsche. Die Maschine preschte durch ein Dickicht aus Kleidungsstücken, während die Käufer sich auf den Boden warfen. Gobi wischte sich einen videofähigen Schlüpfer vom Ge- sicht und nahm einen KI-BH vom Ohr. Yaz schlingerte an den Umkleidekabinen vorbei und riß dabei die Türen aus den Angeln. Den Männern, Frauen und Transvirtuellen nach zu schließen, probierte gerade eine gemischte Gruppe mehrere Ensembles an. Ein armer Kerl bekam, als er Deckung nehmen wollte, Laufmaschen in seine Holo-Nylonstrümpfe. »Geradeaus!« rief Gobi Yaz zu, als sie auf den Hauptgang stießen. »Da drüben zu den Rolltreppen!« Er deutete in die entsprechende Richtung. Yaz nickte und knirschte mit den Zähnen. Plötzlich tauchte schräg vor ihnen hinter einem Tisch mit Dessous ein Yakuza auf und schwang seine Nunchakus. Yaz hielt tapfer weiter auf ihn zu. Der Yakuza wirbelte seine tödlichen Stöcke. Sie verfingen sich in einem Regal mit Strapsen, schnellten dann zurück und trafen ihn mitten ins Gesicht. Tomo brauste an ihm vorbei und schepperte die Rolltreppe hinunter. Im Weg stehende Käufer warfen sich zu Boden, und Tomo setzte über sie hinweg. Zwölf Stockwerke und eine Abteilung für Schlipse und Ta- schentücher später preschten sie lärmend aus dem Kaufhaus hinaus auf die Straße. »Alles in Ordnung, Frank-san?« erkundigte Yaz sich bei Gobi, während er sich in den Verkehr einfädelte und einen geraden Kurs einschlug, der sie zum höher gelegenen Maglev- Highway führen würde. »Ich fürchte, das ist nicht ganz meine Größe«, erwiderte Gobi und warf ein interaktives Hanae-Mori-Abendkleid in den Rush-hour-Verkehr von Neo-Tokio. Der Wind blähte es kurz auf und wehte es dann über den Rand der Überführung. Es verfing sich an der Aktentasche eines Pendlers, der gerade mit seinem Hängegleiter zwischen zwei Keiretsu-Turmbereichen unterwegs war und es an seiner Haltestange festmachte. Die Strahlen der untergehenden Sonne fielen auf die optisch durchwirkten Chiffonfasern und verliehen dem Kleid einen prächtigen Purpurton. »Danke, daß Sie mich angezogen haben«, wandte sich das Hanae-Mori-Kleid mit verführerischer Stim- me an den Piloten des Hängegleiters. »Sie sehen heute abend hinreißend aus.« »Ich glaube, jetzt sind wir in Sicherheit«, sagte Yaz über Kopf- hörer zu Gobi, nachdem er einen kurzen Radarcheck durchge- führt hatte. In einem Umkreis von vier Kilometern ließ sich kein Barra- cuda orten. Korrektur: In Sektor Yamanote 12 gab es zwar einen Barracuda, aber der flog in die entgegengesetzte Richtung. Eine Überprüfung der Zulassung ergab, daß er dem Sohn eines Shacho gehörte, der für Itoh Tofu arbeitete. Der Junge war neunzehn und seine Liste der Verkehrswidrigkeiten so lang wie der Izu-Speedway, aber ansonsten war er sauber. Verbindungen zur Yakuza waren nicht bekannt. Yaz nahm die Ausfahrt nach Marunouchi, die ins Zentrum von Neo-Tokio führte. Er reihte sich in den Verkehrsfluß ein, und sie näherten sich einem Keiretsu-Turm. »Das war ein langer Tag, Frank-san«, sagte er zu seinem erschöpften Begleiter. »Und aktiv obendrein«, stimmte Gobi zu. »Hier ist Ihr Hotel«, sagte Yaz zu ihm. »Sie ruhen sich bes- ser ein wenig aus. Morgen früh suchen wir weiter. Gegen acht, in Ordnung? Ich hole Sie ab.« Gobi stöhnte. »Ich werde dasein. Hoffe ich.« Das Hotel Grand Interface befand sich im vierunddreißigs- ten Stock eines Keiretsu-Turms. Es lag dem Kaiserpalast gegenüber und bot Aussicht auf algengrünes Moos und graue Steinmauern. Während der Pförtner Gobis Reisetasche aus dem Koffer- raum des verbeulten Maglev holte, blieb Gobi einen Moment lang auf der Plattform stehen. Yaz musterte seinen amerikanischen Freund. »Ja, Frank- san?« »Nichts, Yaz. Danke.« Der Japaner sah ihn mitfühlend an. »Keine Sorge, die Veränderung setzt frühestens in zwei Stun- den ein. Alles wird gutgehen. Keine Sorge!« »Keine letzten Ratschläge, Yaz? Ich meine, darüber, wie man's übersteht?« Yaz starrte ihn an. Das würde der Amerikaner schon selbst herausfinden müssen. Es war Teil einer unausgesprochenen Vereinbarung. »Das größte Geschäftsgeheimnis ist der Tod, Frank-san.« Er verbeugte sich. Dann brachte er Tomo auf Touren ­ und Meister und Ma- glev entfernten sich von der Hotelplattform. Das Grand Interface Gobi betrat eine kühle, weißmarmorne Eingangshalle. Sie war riesig ­ auf minimalistische Weise. Auf den ersten Blick wirkte sie verlassen. Aber als seine Augen sich erst einmal an das Weiß gewöhnt hatten, entdeckte er Menschen, die darin um- herhuschten. Er war sich nicht sicher, ob der Grund der war, daß die Hexenstunde von Neo-Tokio nahte, oder ob das Grand Interface einfach eine so unbestimmbare Klientel anzog. Er näherte sich der Rezeption. »Ich möchte bitte einche- cken«, sagte er zum Empfangschef. »Der Name ist Gobi.« »Ah, Mr. Gobi, willkommen!« Der junge Mann im schwar- zen Gehrock und gestreifter Krawatte verbeugte sich lächelnd. Er schaute kurz auf den Monitor. »Für Sie wurde vorbestellt. Zimmer 1508. Wenn Sie bitte Ihre flache Hand hier draufdrü- cken möchten, dann werden alle Ausgaben gleich von Ihrem Konto abgebucht.« »Irgendwelche Nachrichten?« »Lassen Sie mich nachsehen, Sir. Ja, es gibt ein paar, alle von derselben Person.« »Ich fürchte, die sind von mir«, hörte er hinter sich eine weiche, weibliche Stimme sagen. Noch ehe er sich umdrehte, erkannte Gobi sie bereits am Duft. Der scharfe Moschusgeruch von Lady Murasaki umfing ihn. »Miss Abe, was für eine Überraschung!« Yuki Abe, die Direktorin der Abteilung Multimedia- Netzwerk von Satori, hatte jetzt statt ihrer westlichen Klei- dung einen eleganten Kimono an. Er stand ihr. Sie trug weiße, zweizehige Tabi-Socken und Geta-Holzpantinen, die ihr eine leicht taubenartige Gehweise verliehen. Gobi fand das ganz einfach entzückend. »Sie erinnern sich noch an meinen Namen?« rief sie mit ei- nem Anflug von Erstaunen. »Natürlich tue ich das. Wie könnte ich mich nicht an Sie er- innern?« Er blickte kurz auf die Nachrichten in seiner Hand. »Sie haben mich dreimal angerufen? Dann muß es wichtig sein. Was kann ich für Sie tun?« Verlegen preßte sie eine kleine Aallederhandtasche gegen ihren Obi und sah zu Boden. »Ich hoffe, das stört Sie nicht. Ich weiß, es muß anmaßend auf Sie wirken.« »Aber ganz und gar nicht«, sagte er und berührte ihren Ell- bogen. »Worum es auch geht, ich bin sicher, daß es wichtig ist.« Er schaute kurz auf die Uhr. »Wichtig genug, daß Sie mich aufzusuchen wagen, kurz bevor ­ äh...« Plötzlich war seine Zunge wie gelähmt. »Wir nennen es gewöhnlich >Flux<, Dr. Gobi«, half Yuki ihm weiter. »Wenn man der Sache einen Namen gibt, macht es alles viel einfacher. Manchmal nennen wir's auch >Zwischen- zeit<. Oder >Wechsel<. Oder sogar >Verwandlung<. Sie werden sich daran gewöhnen.« Sie sah ihm in die Augen. »Nur der Anfang ist schwer. Das erste Mal ist immer...« Sie erschauderte. Sie verdrehte die Augen und schloß sie, dann schlug sie sie lächelnd wieder auf. »Anders.« »Ich verstehe.« Gobi schürzte die Lippen. »Nun, Miss Abe, setzen wir uns doch irgendwohin und reden wir miteinan- der.« Er sah sich in der Eingangshalle um. »Das heißt, wenn wir einen geeigneten Ort finden können.« »Wie wär's mit der Lounge da drüben?« fragte sie und nick- te quer durch die Halle. »Nach Ihnen«, sagte er, während seine Augen noch immer mit dem grellen Weiß kämpften. »Bitte nennen Sie mich doch Yuki. Miss Abe klingt so förm- lich.« »Frank.« »Schön... Frank.« Sie lächelte scheu. Er folgte ihr zu einem Séparée mit weißen Ledersofas am Ende der Halle. Ein Keyboarder klimperte auf einem weißen Yamaha-Piano eine Kitaro-Melodie. Sie setzten sich, und ihre Knie berührten sich plötzlich. Nervös strich sie den Saum ihres Kimonos glatt. »War Ihr Tag erfolgreich?« fragte sie. »Yazu-san ist eine sehr nette Person.« »Ja, das ist er. Unser Tag war äußerst produktiv. Er hat mich nach Chiba City mitgenommen.« Er musterte ihre Reak- tion. Sie wand sich ein wenig auf dem Sitz. »Ah, Chiba City«, nickte sie. »Das ist für seine vielen Ota- kus bekannt. Eine interessante Gemeinde. Anders.« »Das ist wahr«, pflichtete Gobi ihr bei. »Man nennt es nicht umsonst >Sayonaraville<.« Sie unterdrückte ein Lachen und blickte zu ihm hoch. »Vermutlich nicht.« »Nun, Miss Abe ­ Yuki«, berichtigte er sich. »Es ist wirklich sehr nett von Ihnen, mich zu besuchen, wo Sie jetzt doch eher zu Hause bei Ihrer Familie sein sollten.« »Ich habe keine Familie«, erwiderte sie. »Und ich weiß, Sie fühlen sich... Sie sind zum ersten Mal im neuen Tokio, oder nicht? Es ist das erste Mal, daß Sie den Flux erleben?« »Ja, stimmt.« Er sah, wie schwer es ihr fiel, auf den Punkt zu kommen. »Ich freue mich, daß Sie hier sind, Yuki«, sagte er leise und nahm ihre Hand. Erneut strich sie den Saum ihres Kleides glatt, während sie versuchte, sich klarer auszudrücken. »Sie sind allein in einer fremden Stadt. Wenn ich Ihnen ir- gendwie behilflich sein kann...« »Ich glaube, das können Sie.« Er behielt ihre Hand in seiner und spürte, wie die Wärme zwischen ihnen zunahm. Sie sah ihn an und flüsterte: »Welche Zimmernummer ha- ben Sie?« Als sie die Eingangshalle durchquerten, lief ihm zufällig der hagere Reiseschriftsteller über den Weg, dem er schon einmal auf Station Sieben begegnet war. »So was, daß wir uns ausgerechnet hier wiedersehen, altes Haus!« Der Engländer streckte ihm seine Knochenhand entge- gen. »Wissen Sie noch? Simon Chadwick.« »Was machen Sie denn hier?« fragte Gobi erstaunt. »Ich dachte, Sie wären oben auf Station Sieben.« »Ich arbeite für die Lobby Review an einem Artikel über die- ses wunderbare Hotel. Ist die Eingangshalle nicht einfach großartig, so wie sie zu verschwinden und wieder aufzutau- chen scheint? Das ist ein optisches Phänomen, wissen Sie. Es ist sogar eines der sieben Weltwunder unter den Hotels. Sagen Sie, sind Sie hier Gast?« »In der Tat, das bin ich«, erwiderte Gobi. »Nun, es war nett, Sie wiederzusehen. Passen Sie auf sich auf.« »Ach du liebe Güte, Sie sind ja immer so sehr in Eile, mein bester Gobi. Letztes Mal war diese entzückende Lady bei Ihnen... wie hieß sie doch gleich? Wir haben nie den Drink zusammen genommen, auf den ich mich so gefreut hatte. Vielleicht erweisen Sie mir diesmal die Ehre? Das heißt, natür- lich Sie und Ihre charmante Freundin hier.« Chadwick ent- blößte seine gelben Zähne. »Madam.« Er verbeugte sich und schlug dabei die Hacken zusammen. »Nun, Gobi«, fuhr er fort, »für die nächste Stunde habe ich gerade keine unmittelbaren Pläne, wenn Sie wissen, was ich meine, und da frage ich mich... ach, verdammt, wieso lange um den heißen Brei herum reden? Bisher hat mich noch jeder weitergereicht, wenn ich ihn ge- fragt habe, was das eigentlich ist, was uns da bevorsteht! Sogar das Touristenbüro ist einem in der Hinsicht absolut keine Hilfe; es ist entschieden nutzlos. Sie behandeln das Ganze so verdammt beiläufig, als wäre es bloß irgendein Mondschein- fest! Sie informieren die Öffentlichkeit nicht so darüber, wie sie eigentlich sollten.« Chadwicks Miene hellte sich auf. »Wissen Sie, Gobi, da kommt mir gerade eine Idee! Von einem Globetrotter auf der Straße ins Nirgendwo zum anderen: Hätten Sie wohl sehr viel dagegen, wenn wir die Sache gemeinsam durchstehen? Die Drinks gehen auch alle auf mich. Heute habe ich meine Spen- dierhosen an, altes Haus. Nein, ich bestehe darauf. Kraft durch Saft und so. Was halten Sie davon?« »Tut mir schrecklich leid, Chadwick«, erwiderte Gobi und löste seinen Arm aus dem Griff des Engländers. »Ich tät's ja wirklich gern, aber ich kann leider nicht. Vielleicht beim nächs- ten Mal.« »Ach herrje! Du meine Güte! Nächstes Mal. Hmmpf. Glauben Sie denn, daß es das geben wird? Ich meine, ein nächstes Mal? Ach, was soll's«, sagte Chadwick eingeschnappt. »Wenn Sie das so sehen. Einen schönen Abend noch, Miss.« Er nickte Yuki zu. Verdutzt nickte Yuki zurück. Untergehakt durchquerten Gobi und Yuki die Halle, wäh- rend Chadwick ihnen mit dem traurigen Blick eines Schäfer- hunds, der sich im Moor verirrt hat, nachsah. Sie betraten den Lift und fuhren direkt zu seinem Zimmer hinauf. Yukis Brüste waren wie die einer Zwanzigjährigen, voll und fest und mit leckeren kleinen Brustwarzen wie Matsutake- Pilze. Sie trug noch ihre Mikimoto-Holos. Sie wogten ihr um den Hals. In diesem Moment, nachdem sie sich geliebt hatten, hätte Gobi nichts dagegen gehabt, wenn Neo-Tokio ihm das Licht ausgeknipst hätte. Es wäre eine herrliche Art gewesen, zu sterben. Yuki bauschte die Kissen in ihrem Rücken auf. Ihr Mund war leicht geöffnet, und die Lippen waren noch feucht von den Küssen. Sie lächelte. »Ich glaube, jetzt hätte ich gern eine Zigarette.« Sie strich sich das Haar aus der Stirn und berührte mit dem Finger seine Nase. »Tut mir leid, ich rauche nicht«, entschuldigte Gobi sich, während er seine Wange an ihre Schenkel drückte und ihren Geruch einatmete. Unter dem Nabel befand sich ein süßes Rinnsal Schweiß, das er ganz langsam aufleckte. »Ich meine doch keine echte Zigarette«, sagte Yuki und rich- tete sich auf. »Ich werde mir eine vorstellen.« Sie schloß die Augen, legte die Stirn in Falten und atmete tief ein. Wenige Sekunden später atmete sie wieder aus. Dann schlug sie die Augen weit auf und sah auf sein erstauntes Gesicht hinunter. »Ich versuche kürzerzutreten«, erklärte sie ihm. »Oh? Wie viele stellst du dir denn so am Tag vor?« »Neun oder zehn. Das ist doch nicht zu schlimm, oder?« »Nur der Gedanke zählt. Wenn es zu viele werden, kannst du dir immer noch ein Nikotinpflaster vorstellen.« Vom Fenster seines Hotelzimmers aus konnte Gobi die hell erleuchtete Stadtlandschaft von Neo-Tokio mit den Keiretsu- Megatürmen und grellen Holobeleuchtungen sehen. Auf der anderen Seite der breiten Allee tief unter ihnen be- fand sich der Kaiserpalast, dessen dunkler Jadegraben ein Armreif am Handgelenk der Zeit war. Bewaldete Hügel und Hänge verbargen die Residenz des Kaisers von Neu-Nippon. Ein gelber Halbmond hing über der Stadt. Gobi blickte zur Digitaluhr auf dem Nachttisch: 19:08:18. Noch etwa fünf Minuten, bis die Stadt ihre Verwandlung durch- macht, wurde ihm bewußt. Nicht mehr viel Zeit übrig. Er schaute kurz zu Yuki hinüber. Sie paffte noch immer an ihrer Phantasiezigarette. »Wieso hast du mich heut abend aufgesucht?« fragte er. Sie sah erstaunt zu ihm hoch und schnippte dann imaginäre Asche in einen imaginären Aschenbecher. »Freust du dich nicht, mich zu sehen?« »Du weißt, daß ich mich freue. Aber das war doch nicht der wahre Grund, aus dem du gekommen bist, Yuki.« »Hmm«, seufzte sie und verstrubbelte ihm das Haar. »Braucht eine Frau denn so viele Gründe, um mit dir ins Bett zu gehen, Frank?« »In deinem Fall kann ich mir noch einen anderen Grund vorstellen.« »Und der wäre?« fragte Yuki, während sie sich auf die Kis- sen zurücksinken ließ und ein schläfriges Gähnen unterdrück- te. »Um herauszufinden, was Yaz und ich in Chibatown erfah- ren haben.« Sie öffnete ein Auge. »Wieso erfahren?« »Du mußt gewußt haben, daß Yaz das Fragment eines Shashin aus Haradas Superholo-Tagebuch besitzt.« Er stellte sie auf die Probe. »Und daß wir nach Chiba City geflogen sind, um herauszufinden, ob wir aus dem Fragment nicht noch mehr herausholen können.« Yuki lächelte. »Was ist so wichtig an diesem Shashin? Für Satori ist das alter Tobak. Nachdem Harada-san verschwun- den war, hat Action Wada seine ganzen Aufzeichnungen und Akten durchsuchen lassen. Also ist es ihnen gelungen, dieses Fragment einer Sicherheitsdatei seines Tagebuchs zu entzif- fern. Na und? Das ist doch nur ein Gruppenbild seiner Team- mitglieder.« Gobi stützte sich auf einen Ellbogen und sah ihr ins Gesicht. »Genau. Und eben das muß dich beunruhigt haben.« Yuki zog eine Miene, die halb Stirnrunzeln und halb Lä- cheln war. »Ich fürchte, ich verstehe nicht. Sprich Unix, ja?« sagte sie spöttisch. »Also gut«, sagte Gobi. »Ich werd's versuchen. Du warst in Sorge darüber, daß wir herausfinden könnten, daß du zu seinem Team gehört hast. Ein Geheimmitglied. Sie sind alle verschwunden, aber du bist noch da. Zu was macht dich das, Yuki? Arbeitest du für Harada ­ oder für Action Wada?« Yuki drückte ihre imaginäre Zigarette aus. Sie schien sich zum ersten Mal über ihn zu ärgern. »Ich in Haradas Team? Das ist ja lächerlich! Ich bin nicht einmal auf dem Bild drauf.« »O doch, das bist du«, sagte Gobi und griff nach dem Shas- hin, das Holodoktor Mamo für ihn aufgepäppelt hatte. Er zeigte es Yuki. Sie hielt es in der Hand und betrachtete es aus unterschiedlichen Winkeln. »Tut mir leid, Frank.« Sie gab es ihm zurück. »Auf dem Fo- to sind fünf Personen. Und ich bin keine davon. Wieso lächelst du jetzt so?« »Vielleicht bist du auf dem eigentlichen Bild ja deshalb nicht drauf, weil Harada alles unternommen hätte, um dich aus der Sache rauszuhalten. Aber deine Perlen sind drauf. Du hast nahe genug bei ihm gesessen, daß sie sich spiegelten, als er das Foto gemacht hat.« Yuki starrte ihn an. »Siehst du diesen milchigen Fleck, der sich im Glas auf der Sushi-Theke spiegelt? Wir haben ihn vergrößert.« Er hielt das Shashin vor ihre Brust, neben die echten Holos. »Na, wer sagt's denn? Sichtfühl-Elemente.« Yuki zündete sich eine weitere imaginäre Zigarette an. Jetzt schaute sie auf die Uhr: 19:14:20. Noch vierzig Sekunden. »Frank«, sagte sie und blies ihm imaginären Rauch ins Ge- sicht. Sie war leicht irritiert. »Entschuldige die Ausdruckswei- se, aber glaubst du wirklich, daß ich hier bin, um herauszufin- den, ob irgendein Otaku in Chibatown einen Ausdruck meiner Titten auf einem billigen Holo-Shashin entschlüsseln konnte? Nein, ich wollte sicherstellen, daß ich bei dir bin, wenn du zur Anderen Seite hinüberwechselst. So sagen wir nämlich auch dazu ­ die >Andere Seite<.« Und da traf es Gobi wie ein Blitz. Natürlich. Manchmal war er aber auch zu dämlich. Er ließ sein Yang über sein Yin herrschen, wenn es viel klüger war, das Mittelmaß zu wahren. Er seufzte tief. Sein sexuelles Karma war wieder einmal mit ihm durchgegangen. »Es geht um Haradas Bewußtsein, nicht wahr?« sagte er schließlich. »Alle Welt scheint zu glauben, daß ich es habe.« »Aber du hast es doch?« fragte Yuki ihn zärtlich und legte eine Hand auf sein Hara. Gobi war nicht mehr in der Lage, ihr zu antworten. Er ver- suchte sich auf dem Nachttisch abzustützen, aber seine Hand stieß geradewegs durch das Bild des Tisches, und er verlor völlig das Gleichgewicht. BARDO DREI »Wenn du deinen Sohn liebst, dann schick ihn auf Reisen.« Japanisches Sprichwort Veränderung »Frank... Frank... Dr. Gobi...« Er hörte eine Stimme, die sich wie aus weiter Ferne an ihn wandte. Er spürte, daß ihn jemand mit sanfter Beharrlichkeit an der Schulter rüttelte. »Hier, nimm das, dann fühlst du dich besser.« Jemand reichte ihm ein Oshibori, ein dampfendes Tuch mit Parfümessenz. Er spürte, wie der Dampf in seine Poren sicker- te, während er den Geruch einatmete. Aaaah. Das tat gut. Gobi öffnete die Augen. Er versuchte, sie an das blaue Licht zu gewöhnen. So einen blauen Farbton hatte er noch nie gese- hen. Er sah in Blau. Er blinzelte. Plötzlich fiel ihm ein, wo er war. Wo er sein sollte. Stellte er sich das nur vor? Nein, es war echt. Er sah wirklich alles wie durch eine Art Infrablaufilter. Eigentlich war es eher so, als fühlte er alles mit den Augen. Und dieses Gefühl war brandneu. Gobi starrte durch die Gegenstände hindurch und um sie herum. Er stellte fest, daß die Gegenstände keine Kanten mehr aufwiesen. Oder war es etwa seine Sehkraft, die jetzt ohne scharfe Kanten auskam? Die Digitaluhr auf dem Nachttisch zeigte 19:20:32 an. Seit der Veränderung waren fünf Minuten und zweiunddreißig Sekunden vergangen. Aber auch diese Minuten besaßen keine Struktur mehr. Kein Oben und kein Unten. Sie schienen ein- fach davonzuschweben. Als er die Blasen mit komprimierter Zeit davonschweben sah, mußte er auflachen. Es war, als sähe er den Werbespot einer Sekte für die Ewigkeit. Er begann so heftig zu lachen, daß ihm Tränen in die Augen stiegen. Er spürte sie, schmeckte sie. Es waren echte Tränen. Naß, warm, salzig. Die Zeit war nicht echt. Die Tränen waren es. Wieder lachte Gobi über die Absurdität von alledem. Er befand sich drüben ­ er war auf die Andere Seite übergewech- selt. .. Und trotzdem war er noch in seinem Hotelzimmer. Neben ihm lag jemand auf dem Bett. Erneut blinzelte er, um besser sehen zu können. Es war Yuki. »Tut mir leid«, sagte Yuki zu ihm. »Aber es wird jetzt Zeit zu gehen.« Es war Yuki, und es war doch nicht Yuki. Sie sah verändert aus. Sie trug das alte japanische Gewand einer Hofdame des zwölften Jahrhunderts. Unter einer langen roten Hakama-Seidenjacke wallten mehrere Lagen Kimonos zu Boden. Ihr glänzendes schwarzes Haar war auf altherge- brachte Weise festgesteckt und hing ihr auf die Schultern herab. Ihre Haut war weiß gepudert, und ihre Augenbrauen waren rasiert, wobei zwei schwarze Schönheitsflecken hoch oben auf die Stirn gemalt waren. Ihre Zähne waren gemäß der Mode dieser Zeit geschwärzt. Sie schritt durchs Zimmer und stellte sich ans Fenster, die Hände vor dem Gewand. Sie hielt einen Fächer. Ihr Blick war auf etwas hinter dem Fenster gerichtet. Gobi stand auf. Wie schaffte er es, sich so mühelos zu erheben? Und wie kam es, daß er diese Kleidung anhatte? Das war nicht seine übliche Kleidung. Hatte Yuki sie ihm angezogen? Aber das war schon in Ordnung. Alles war in Ordnung. Eine seltsame Hoch- stimmung erfüllte ihn. Gobi sah in den Spiegel und erkannte, daß er ein loses, formloses Gewand trug ­ eine kurze weiße Haori-Jacke, einen hauchdünnen schwarzen Hosenrock und zweizehige schwar- ze Tabi-Socken. An den Füßen hatte er hölzerne Geta. Gobi stellte sich zu Yuki ans Fenster. Er bewegte sich, als wäre er der Schatten seines eigenen Shen, wie ein Mensch im Traum, der in wenigen Augenblicken eine große Entfernung überbrückt. Er schien zu schweben, doch sein Schweben fühlte sich an, als wäre er in etwas Festem verwurzelt. Sie verbeugte sich nach Art des zwölften Jahrhunderts in Ehrerbietung vor dem Neuankömmling aus einer anderen Welt. »Herrlich, nicht wahr?« meinte sie. Die Megatürme von Neo-Tokio standen noch, aber der gan- zen Szenerie haftete etwas Eigenartiges an. Gobi brauchte eine Weile, bis ihm klar wurde, was daran anders war. Dort zwischen den Keiretsu-Türmen bot sich ihm der An- blick eines früheren Tokio dar. Gobi sah die Hauptstadt von Nippon im sechzehnten Jahrhundert, die Hauptstadt, die einmal als Edo bekannt gewesen war. Aber wo war Neo-Tokio? Gobi schaute auf die Weite eines düsteren Ödlands hinaus. Dort zwischen den geschwungenen Flecken Landes sah er prachtvolle Wohnhäuser, die Yashikis der Lehnsherren, um- geben von den Behausungen der Hatamoto-Vasallen. Er sah die Giebel der Tempel und Rauch, der von Tausenden nächtli- cher Feuer aufstieg. Altmodische japanische Brücken wölbten sich über den Fluß Sumida. Hier und da kräuselte aus unterirdischen Thermalquellen Dampf empor. Die Szenerie war auf seltsame Weise traumhaft, als betrachte er den Druck eines Holzschnittes, der allmählich zum Leben erwacht. Von irgendwoher erreichte ihn ein Gedanke: Das sehe ich nicht zum ersten Mal. Hier war ich doch schon einmal. Wie ist das möglich? Wo bin ich? Es war zu überwältigend, als daß er jetzt hätte darüber nachsinnen können. »Das ist Edo, die alte Hauptstadt«, sagte Yuki einfach. Mit die- sen wenigen Worten beschrieb sie, was Hunderte von Jahren Geschichte aus einer Landschaft gemacht hatten, die es nicht länger gab. »Ist das echt?« fragte Gobi. »Es kommt und geht wie ein herrliches Bild in der Nacht. Es gibt kein Ende und keinen Anfang. Es existiert einzig in unserem Geist. Im Geist der Japaner. Und jetzt auch in deinem Geist.« »Du meinst, ich stelle es mir nur vor«, sagte er in dem Bemü- hen, zu verstehen. »Aber du stellst es dir doch auch nur vor.« »Und es stellt sich dich vor.« Gobi wollte ihr noch weitere Fragen stellen. Aber statt des- sen wurde seine Aufmerksamkeit von einem Schauspiel in Anspruch genommen, das sich in einem der Nachbartürme darbot. Er bemerkte, daß die von Fackeln erleuchtete Prozession eines japanischen Lehnsherrn, der im Palankin getragen wur- de, ihn fesselte. Sein Gefolge berittener Samurai donnerte über eine Zugbrücke hinweg, die zwei Keiretsu-Megatürme mitein- ander verband. Auf den Fahnen, die die Hatamotos trugen, prangte das Kobayashi-Wappen, ein Flügelhelm im roten Kreis. »Das sind Lord Kobayashis Männer«, sagte Yuki, während die Prozession eine japanische Burg betrat, deren Haupttor man in die siebzigste Etage eines zweihundertfünfzigstöckigen Turms eingelassen hatte. »Lord Kobayashi?« »Ein mächtiger Lord, der nach absoluter Macht strebt, einer Macht, noch größer als die des Shoguns oder des Kaisers. Einer Macht jenseits von Leben und Tod. Ihm fehlt dazu nur eines.« »Und das wäre?« »Er kennt den Ursprung seiner eigenen Macht nicht. Und das macht ihn sehr schwach. Und sehr gefährlich.« »Was ist der Ursprung?« fragte Gobi. »Ein Ort im Zwischenreich.« »Im was?« »Im Reich zwischen den Reichen. Es gehört denen, die in vielen Reichen zu Hause sind. Komm«, lächelte sie. »Du wirst bereits erwartet.« »Vom wem?« »Von meinem Lord. Von Lord Harada.« Er folgte ihr hinaus. Der Hotelflur hatte sich in einen breiten Durchgang verwandelt. Gefolgsleute warteten mit zwei Ka- gos, altmodischen Palankinen; sie waren in blaue Hakama- Hosen und blaue Jacken gekleidet. Die Träger knieten wartend auf dem Boden. Einer der Ge- folgsleute öffnete die Türen der beiden Palankine und zog sich unter Verbeugungen von Gobi und Lady Yuki zurück. Im Innern der kleinen Sänften lag auf einem Tatamiboden ein Kissen. Als Gobi sich duckte, um seinen Palankin zu betreten, be- rührte Lady Yuki ihn am Ärmel. »Einen Augenblick«, sagte sie. »Erst muß ich dich vor etwas warnen.« »Vor was?« »Unsere Reise geht durch einen Teil der alten Stadt, in dem stän- dig Truppen von Lord Kobayashi patrouillieren«, sagte sie zu ihm. »Lord Kobayashi will meinen Lord unbedingt finden. Seine Leute schrecken vor nichts zurück, wenn sie an Informationen herankom- men können, die ihnen Aufschluß über seinen Aufenthaltsort geben. Bitte öffne auf gar keinen Fall das Fenster deines Kagos. Wenn wir an einem Kontrollpunkt von Wachen angehalten werden, mußt du dich absolut still verhalten.« Gobi nickte und stieg in den Palankin. Der Diener ließ hin- ter ihm die Papiertür zugleiten. Gobi machte es sich in dem kleinen Reisegefährt so bequem wie möglich. Hinter seinem Kopf befand sich eine mit Gold- farbe bemalte Miniaturleinwand, auf die man mit kräftigen Pinselstrichen kalligraphische Zeichen aufgetragen hatte. Rechts von ihm war ein kleiner Videoschirm. Er schaltete ihn ein und stellte fest, daß er alles sehen konnte, was sich drau- ßen zutrug. Gobi spürte, wie die Träger das Kago anhoben, und lernte schnell, sich im Rhythmus ihrer Bewegungen von einer Seite auf die andere zu lehnen. »Washoi! Washoi!«, hörte er sie chanten, während sie gleichmäßig des Wegs liefen. Am seltsamsten war, wie selbstverständlich ihm das alles vorkam. Er war im Begriff, Kazuo Harada zu begegnen. Aus den oberen Ebenen des Megaturms stieg blauer Nebel auf. Die Kagoträger trugen sie über eine der Luftbrücken. Gobi verfolgte die Szenerie auf dem Monitor in seinem Palankin und sah mit pechschwarzem Rauch brennende Fackeln und Passanten in altmodischer japanischer Kleidung. »Washoi! Washoi!« setzten die Träger ihren hypnotisieren- den Singsang fort. Bald erreichten sie eine Rampe, über die sie eine Plattform betraten, die wie ein Lift mit anderen Kagos und Reisenden beladen war. Die Rampe senkte sich bis auf Straßenebene hinab. Auf dem Boden wurden die Träger schneller. Sie bewegten sich auf einer Straße im alten Stil, aber irgend etwas war anders. Gobi konnte nicht genau sagen, was. Teilweise spiegelte sie wohl das Straßenleben im Edo des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts wider. Es gab Samurais, Straßenhändler, Bettler, Wanderprediger und Haustiere aller Art; die unterschiedlichsten Waren wur- den verkauft. Ladenbesitzer standen in den Eingängen ihrer Geschäfte, rauchten kleine Messingpfeifen und lockten Kun- den an. Mönche mit geschorenen Köpfen trugen Stöcke, an denen buddhistische Schellen klirrten. Japanerinnen im Kimono mit hölzernen Geta-Pantinen an den Füßen schlenderten mit Babys auf dem Rücken umher. Ein Daimler, Baujahr 1930, rauschte mit wehenden, die auf- gehende Sonne zeigenden Fahnen an den Kotflügeln an ihnen vorbei. Weiter die Straße hinunter marschierte eine Brigade der kaiserlichen japanischen Armee in grauen Kwangtung- Uniformen und entsprechender Beinbekleidung. Dem Aus- druck auf ihren glattrasierten jungen Gesichtern nach konnte es sich durchaus um neue Rekruten für den Feldzug gegen China handeln. Wegen der offensichtlichen Porösität der Zeitmembran war Gobi nicht erstaunt, vereinzelt auch Japaner aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in der Menge anzutref- fen. Mit Brille und Aktentasche sahen sie in ihren dunkelblau- en Nadelstreifenanzügen wie gewöhnliche Pendler aus. Ihre Bewegungen waren sichtlich verkrampfter als die ihrer histo- rischen Gegenstücke. Ein Lieferant auf einem Roller brauste durch den dichten Verkehr, wobei die Federung unter der Last der mit Nudelschüsseln gefüllten Behälter ächzte. Eingelullt von diesen erstaunlichen Eindrücken, gab Gobi sich ganz dem rhythmischen Schwung der Kagoträger hin. Auf dem Monitor sah er, daß Lady Yukis Palankin sich nicht weit von seinem befand. Allerdings entging ihm das Kago, das ihnen folgte. Die Kagoträger bogen in eine ruhige Seitenstraße ab. In diesem Teil der Stadt gab es viele Herrenhäuser und Anwesen. Als sie das Ende der langen Straße erreichten, trafen sie auf einen Samurai-Kontrollpunkt, der von lodernden Fackeln erhellt wurde. Gobi erkannte das Kobayashi-Wappen mit den roten Flügeln. Zwei Samurai in Rüstungen traten mit Speeren in den Hän- den vor und befahlen den Palankinen, anzuhalten. »Nanimono da!« verlangte der erste Samurai. »Identifizie- ren Sie sich! Nennen Sie Profession und Bestimmungsort!« Er richtete seine Speerspitze auf die Kagoträger. Gobi hörte, wie Lady Yuki in ihrem hofdamenhaften Fal- sett-Singsang antwortete: »Wir gehören zum Haushalt des Händlers Kazuma Dono, Meister des Tamiya-Ladens in Sui- dobashi. Ich bin seine nichtswürdige Gemahlin, und die Per- son im Palankin hinter mir ist meine Tochter.« »Was, die Tochter eines Händlers, sagst du?« entgegnete der Samurai mit beißendem Spott. »In dem Fall müssen wir die Ware überprüfen! Zeigt uns eure Gesichter!« Lady Yuki ließ die Tür aufgleiten. Die beiden Samurai starr- ten sie angesichts ihrer Schönheit unverschämt an, während sie eine sittsame und dabei noch angemessen herablassende Miene zur Schau stellte. Jetzt ging der andere Samurai zu Gobis Palankin hinüber und klopfte an die Tür. Gobi spürte seine Ankunft, noch ehe er das Kago erreichte. Die Energie seiner Schritte war schwefelschwarz und blutrot. Er nahm den grimmigen Humor des Menschen wahr und hörte ihn fast mit den Zähnen knirschen. Gobi neigte den Kopf und versenkte sich in einen Zustand der Meditation. Er verschränkte die Finger zum Mudra der inneren Anschauung. Dann holte er tief Luft, und sein Atem und sein Bewußtsein verbanden sich miteinander. Mächtige, wogende Energien hüllten ihn ein. Halb im Lotussitz spürte er auf der Matte, wie seine Zehen erwartungsvoll zu kribbeln begannen. Noch ehe es soweit war, wußte Gobi bereits genau, was geschehen würde. Daß er überhaupt zögerte, lag nur daran, daß er erst noch die Untertitel der Gedankengebilde des Samurai entschlüsseln wollte. Ganz nebenbei vermerkte Gobi dabei erstaunt, daß der Mann ent- schieden in dieser Zeit verankert war. Es handelte sich nicht um ein Wesen aus der fernen Vergangen- heit. Er hatte seine eigene Realität, eine Art von Weltsicht, die sich aus den kulturellen, gesellschaftlichen und kämpferischen Eigenarten des siebzehnten Jahrhunderts zusammensetzte. Gobi wußte zum Beispiel, was der Mann gefrühstückt hatte: Reis- suppe und Gemüse, die er mit Gerstentee hinuntergespült hatte. Es war ihm sogar möglich, die sexuellen Gedankengebilde des Samurais aufzufangen. Seinen Lenden haftete noch der wollüstige Geruch der Hure von der Nacht zuvor an. Und dann fand Gobi, wonach er in der Datenbank des Samurais gesucht hatte. Da war es. Er klickte das Icon an und sah das Bild. Das Bild des schlimmsten Alptraums des Samurais. Schnell lud Gobi diese Bilder herunter. Dann schloß er die Datei wieder und öffnete sein Werkzeugver- zeichnis. Genau danach hatte er gesucht ­ nach dem Alptraum- Dienstprogramm. Die Angst-Algorithmen waren ein wenig unberechenbar, aber vielleicht konnte er sie aufrufen... Der Samurai klopfte laut an die Tür von Gobis Palankin. »Mach schon auf, Süße!« Er lachte und zwinkerte seinem Kameraden lüstern zu. »Wenn dir das lieber ist, helfen wir dir auch dabei!« »Klar ­ und nicht nur dabei!« Der zweite Samurai brach mit seinem Partner in schallendes Gelächter aus. Aus Gobis Palankin kam keine Antwort. »Was hat deine Tochter?« Der Samurai wandte sich an Yu- ki. »Ist sie schüchtern oder was? Oder vielleicht... vielleicht ist da drin ja auch gar keine Tochter und du willst uns hereinle- gen! Ist es das?« Der Samurai griff zur Tür und riß sie auf, wobei er mit der Hand am Schwert einen Schritt zurückwich, bereit, sofort zuzuschlagen. Im Kago saß ein junges Mädchen mit Seidenumhang über den Schultern und einem Schal, der den Kopf bedeckte. Sie hielt den Kopf geneigt. »Zeig mir dein Gesicht!« befahl der Samurai. Sein Partner stand angriffsbereit hinter ihm, ebenfalls die Hand am Katana. Lady Yuki flehte: »Bitte, ihr Herren, bitte! Bitte erspart das der jungen Lady! Ihr Gesicht ist nicht vorzeigbar! Sie erholt sich gerade von einem Pockenanfall, und ihr Gesicht ist übel zugerichtet. Bitte nehmt etwas Rücksicht auf ihre Gefühle! Bitte!« »Die Pocken?« Beide Samurai wichen zurück. Dann trat der weniger Ängstliche von ihnen wieder einen Schritt vor. Er näherte sich der Gestalt, die vornübergebeugt im Kago saß. »Die Pocken, sagst du?« Er schnüffelte an ihr. Sein Gesicht war nur Zentimeter von dem des Mädchens entfernt. »Wir werden ja sehen! Das laßt mich mal entscheiden... Los, zeig mir dein hübsches Gesicht, Mädchen!« Die Gestalt nahm den Schal vom Gesicht. Die Samurai fuhren entsetzt zurück und ließen die Arme hängen. Das Gesicht des Mädchens war von eiternden Wunden und Pockennarben übel zugerichtet. Ein klaffendes Loch befand sich an der Stelle, an der vorher ihr rechtes Auge gewesen war. Mit hinreißend geschwärzten Zähnen lächelte sie sie lieblich und verführerisch an. »Wenn ich den Herren zu Diensten sein kann...«, sagte sie leise. »Aaaah!« schrien die Samurai auf und wichen so schnell wie möglich etliche Schritte zurück. »Bakemono! Eine Hexe aus der Hölle! Hinfort! Hinfort!« Mit heftigen Gesten bedeuteten sie den Kagos, daß sie pas- sieren sollten. Die Träger hoben die beiden Palankine an und trugen sie in raschem Trab davon. »Washoi! Washoi! Washoi!« hallte ihr Singsang die Straße entlang. Die Samurai hatten kaum ihren Ekel überwunden, als auch schon das Kago, das den ersten beiden Kagos gefolgt war, am Kontrollpunkt eintraf. Beide Wächter waren jetzt stocksauer. Wutschnaubend be- deuteten sie dem Kago zu halten. Die Träger setzten es auf dem Boden ab. »Akero! Aufmachen!« Sie hämmerten gegen die Tür. Die Tür glitt auf. Im Innern saß ein dämonisch wirkender Mann, der einen langen, gerafften Mantel trug, eine Art Kopftuch und etwas, was wie dunkle Teetassen aussah, die von Bändern über seinen Augen festgehalten wurden. Seine linke Gesichtshälfte zierte ein Silberfries aus miteinander verbundenen Kettenglie- dern. Bei diesem schauerlichen Anblick wichen die beiden Samu- rai sofort zurück und zogen die Schwerter. Der Mann streifte den Ärmel an seinem rechten Arm zu- rück und salutierte mit geballter Faust. »Yaro!« Erneut wichen die beiden Samurai einige Schritte zurück. Ein merkwürdiger Apparat verlängerte den Arm des Bakemono. »Aaaaaaah!« Mit erhobenen Schwertern griffen sie an und schlugen zu. »Adios, muchachos«, sagte Carlos und schaltete sie mit sei- ner Fernbedienung aus. Ein wenig Statik war zu sehen, es grieselte leicht, dann war das Bild wieder klar. Carlos klopfte an die Kagotür. »Hayaku!« befahl er seinen Trägern. »Folgt diesem Kago!« Sie stöhnten, als sie den Palankin hochhoben. »Washoi! Washoi...!« chanteten sie und erhöhten das Tempo. Herunterladen Die beiden Palankine trafen am Haupttor eines von hohen Mauern umgebenen alten Lehnsgutes ein. Es wirkte verlassen. Der vordere Träger klopfte an eine niedrige Seitentür im Tor. Sie wurde fast sofort geöffnet, und ein Gesicht tauchte in der Tür auf. Knirschend öffnete sich das Tor. Die Prozession setzte ihren Weg über einen weißen Kiesweg fort, der sich zwischen hohen Pinien und Zypressen hindurchschlängelte. Am Ende des Wegs standen zwei Steinlöwen, die den Ein- gang zu einer japanischen Residenz mit geschwungenem Ziegeldach bewachten. Eine kleine Gruppe Diener und Gefolgsleute erwartete die Besucher dort. Lady Yuki stieg als erste aus, nachdem man die Sänften zu Boden gelassen hatte. »Du kannst jetzt herauskommen, Frank-san«, rief sie. Er schob die Tür zur Seite und schlüpfte in seine Holzpantinen, die man vor ihm abgestellt hatte. Jeder im Begrüßungskomitee begrüßte ihn, als er sich dem Vorraum des Haupthauses näherte. »Mein Herr wird nicht enttäuscht sein, wenn er von deinen Fähigkeiten erfährt«, gratulierte Lady Yuki ihm. »Ich war selber ein wenig beunruhigt. Du hast dich so meisterlich in diese furchteinflößende Erscheinung verwandelt. Es hatte gerade den richtigen japanischen Touch. Wie hast du das geschafft?« Gobi war noch immer verwirrt. Irgend etwas kam ihm seltsam vor. Ein Alarm gellte in seinen Ohren wie eine tibetische Glocke... »Es war wie ein Blumenarrangement«, erklärte Gobi. »Nur daß ich Alpträume statt Blumen verwendete. Eines der Bilder, von denen ich spürte, daß die Samurai darauf reagieren wür- den, war dieser gräßlich anzusehende Geist ­ Bakemono.« »Ja, er ist Teil unserer kollektiven Programmierung«, stimmte Yuki zu. »Er gehört zu unseren nationalen Datenbän- ken.« Im Vorraum zog Gobi seine Pantinen aus und betrat dann in seinen zweizehigen Tabi-Socken die Diele. »Mir ist aufgefallen, wie stark diese Umgebung auf die Kraft der Eingebung reagiert«, meinte er. »Sie scheint in ihrer Plastizität geradezu körperlich zu sein, dabei ist ihre wahre Form eher, nun ja, mental...« »Mental. Ja, genau. Das ist eine äußerst präzise Einschät- zung. Es ist mir eine Freude, Sie endlich kennenzulernen, Dr. Gobi. Willkommen.« Gobi blickte auf, um festzustellen, woher die Stimme ge- kommen war. Er und Lady Yuki hatten einen großen Saal betreten, der von Fackeln in schmiedeeisernen Gestellen erhellt wurde. Ein vornehm wirkender älterer Mann mit weißem Haar und Brille trat vor. Er trug einen dunklen Kimono mit gepolsterter Weste. »Ich bin Kazuo Harada«, sagte der Mann, der nicht vorge- stellt zu werden brauchte. »Ich habe schon soviel über Sie gehört, Dr. Gobi. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Ah, Yuki«, wandte er sich an Lady Yuki. »Das hast du sehr gut gemacht, meine Liebe. Meinen tief empfundenen Dank dafür, daß du ihn sicher zu uns gebracht hast.« Sie verbeugte sich anmutig, wie ein Papierfächer, der sich zusammenfaltet, wobei sie ihren weiß gepuderten Nacken entblößte. Kazuo Haradas Handschlag war rauh wie altes Pergament. Er sah ihn heiter und neugierig an. Sein Blick brannte vor Intensität. Er war ein Mann in den Achtzigern und strahlte doch das Chi eines Vierzigjährigen aus. Gobi drückte ihm fest die Hand. Er spürte, wie ihn ein Kribbeln durchlief. »Harada-sensei, es ist mir eine Ehre, Ihnen zu begegnen.« Er neigte den Kopf. »Ich bin sicher, es gibt im Augenblick auf der ganzen Welt keine Person, nach der man so intensiv sucht wie nach Ihnen.« Harada warf Yuki einen kurzen Blick zu. »Ja, scheint so. Je- denfalls, was bestimmte Gruppierungen angeht.« »Harada-san«, fuhr Gobi fort. »Sie haben den Schlüssel zu Satori City. Uns bleibt nur noch wenig Zeit, um es wieder online zu bekommen. Sie dürften sich der Tatsache bewußt sein, daß Tausende von Menschenleben auf dem Spiel stehen. Wir müssen schnell handeln.« Harada runzelte die Stirn. »Das ist eine nie dagewesene Ka- tastrophe, Dr. Gobi. Es stimmt, daß Menschenleben auf dem Spiel stehen. Aber uns steht noch viel Schlimmeres bevor, wenn wir emotionalen Schwächen nachgeben und zu übereilt handeln.« »Ist es Ihnen denn gleichgültig, wenn Menschen sterben?« Gobi war verblüfft. »Natürlich nicht.« Harada schüttelte den Kopf. »Aber der Tod ist ein relativer Begriff. Wie Sie wissen, handelt es sich um eine Verwandlung. Und zur Zeit vollzieht sich in der Welt noch eine weitaus größere Verwandlung. Das können Sie bislang nicht verstehen. Aber schon bald wird es Ihnen mög- lich sein.« Jetzt veränderte sich Haradas Auflösung. Das Bild verschwamm vor Gobis Augen. Plötzlich erschien sein weißes Haar zu weiß und sein Blick zu stechend zu sein. Gobi verlor sein Zentrum. Es war, als saugte man es allmählich aus ihm heraus... »Ich fürchte, die lange Reise hat Sie sehr angestrengt, Dr. Gobi«, sagte Harada und streckte den Arm aus, um den Ame- rikaner zu stützen, der auf einmal zusammenzubrechen droh- te. »Ebenso dringend, wie Sie nach mir gesucht haben, habe ich Sie erwartet. Aber alles zu seiner Zeit. Zunächst brauchen Sie eine kleine Erfrischung. Ein wenig Tee. Danach schließen wir den Kreis.« Er bedeutete Gobi, ihm zu folgen. »Bitte hier entlang. In meine Privatunterkünfte. Dort stört man uns nicht.« Harada führte Gobi einen polierten Holzkorridor entlang. Als sie durch den langen Flur gingen, schoben unsichtbare Hände Türen zur Seite. Die beiden Männer passierten das Innere großer Säle, um durch weitere Flure zu gehen. Gobi hatte den Eindruck, zahllose mit Kunstschätzen, Leinwänden, Gemälden, Schriftrollen und Skulpturen ange- füllte Kammern zu durchqueren. Das gedämpfte Licht raffi- nierter Beleuchtungssysteme erweckte Haradas Sammlung seltener tibetischer, japanischer und chinesischer Hologramme zum Leben. »Ich kann mich sehr glücklich schätzen, diese Zuflucht ge- funden zu haben«, sagte der Lehnsherr zu Gobi, während sie die Kammern seines Haupthauses durchquerten. »So war es mir möglich, in Ruhe an der Verbesserung von Satori 2.0 zu arbeiten. Unserer post-virtuellen Welt fehlen nur noch ein oder zwei Elemente, damit sie so funktioniert, wie sie sollte.« Gobi passierte die Schätze wie ein Schlafwandler. Eine aus- druckslose Stimme ­ war es seine eigene? tatsächlich ­ fragte Harada: »Arbeiten Ihre Programmierer hier bei Ihnen?« »Es ist die beste, hingebungsvollste Gruppe von Profis, mit der ich jemals das Privileg hatte, arbeiten zu dürfen, Dr. Gobi«, sagte der weißhaarige Mann anerkennend. »Und doch schei- nen wir etwas zu übersehen. Einen wesentlichen Bestandteil.« Gobi drängte ihn. »Ist eine Frau namens Kimiko hier? Kimi- ko Ono? Ich glaube, sie gehört Ihrem Entwicklungsteam an. Sie ist eine alte Freundin von mir.« »Kimiko Ono? Ach ja... natürlich. Da wären wir, Dr. Gobi. Meine bescheidene Unterkunft. Hier können wir alles privat besprechen.« Sie hatten ein kleines Zimmer betreten, das bis auf einen niedrigen Tisch und einige Zabuton-Kissen auf dem gelben Tatamiboden leer war. Auf dem Tisch stand ein schwarzes Lacktablett mit einem Tonkännchen und mehreren Tassen. In einer Hibachi-Kohlenpfanne glühten Kohlen und erhitzten den auf einem Rost abgestellten Kessel. »Sie müssen sich jetzt ausruhen«, riet Harada ihm. »Sie ha- ben eine äußerst anstrengende Reise hinter sich. Ihr Nerven- system hatte noch keine Gelegenheit, sich unserer außerge- wöhnlichen Atmosphäre anzupassen. Ein Jet-lag ist nichts gegen den Übergang beim Flux.« Er deutete ein kurzes Lachen an. Harada goß kochendes Wasser aus dem Kessel in die Ton- kanne und schwenkte sie aus. Dann entnahm er einem Gefäß einige Quentchen Tee und ließ sie in die Kanne rieseln. Er gab Wasser in die Kanne und wartete mit im Schoß gefalteten Händen. Harada schloß die Augen, als befände er sich in tiefer Versenkung. Oder träumte er nur? Plötzlich schlug er die Augen wieder auf. Er schwenkte die Tassen aus und schenkte den Tee ein. Bei- de warteten, bis er lange genug gezogen hatte, ehe sie das Gebräu zu sich nahmen. »Domo.« Gobi verneigte sich, als er die Tasse an die Lippen führte und den schaumigen grünen Cha kostete. Er wollte Harada weitere Fragen stellen, wartete damit aber noch. Harada schwieg nach wie vor. Seine Augen waren ge- schlossen, und ein seltsames Lächeln lag auf seinem Gesicht. Es umspielte seine Lippen und verflog dann. Gobi musterte Harada. Irgend etwas ging hier vor. Wechselte er in den Zustand des Samadhi über? Ging er im reinen Bewußtsein der Erleuchtung auf? Woher kam nur dieses Gefühl der Benommen- heit? »Hallo, Frank, wie geht's?« fragte eine weibliche Stimme, als die Shoji-Tür aufglitt. Halb in der Erwartung, Kimiko zu sehen, drehte er sich um. Aber es war Claudia Kato, und sie trug einen kleinen schwarzen Kasten bei sich. »Wir müssen jetzt das Kobayashi- Bewußtsein herunterladen, Frank«, sagte sie mit spöttischem Lächeln. »Auf Station Sieben waren wir fast soweit, weißt du noch? Ehe wir so grob unterbrochen wurden. Du hast es doch noch, oder, Frank?« »Claudia!?« Gobi brauchte einen Moment, um zu begreifen, was geschah. Er wandte sich an Harada, der noch immer mit geschlossenen Augen auf den Zabutons saß. »Sie arbeitet für Sie?« Aber der Mann antwortete nicht. »Nein, Frank, das verstehst du falsch«, erwiderte Claudia. Zwei muskulöse japanische Techniker in schwarzer Hakama- Hose und schwarzem Jackett hatten gemeinsam mit ihr das Zimmer betreten. »Er arbeitet für uns.« Claudia gab ihren beiden Assistenten ein Zeichen. Sie er- griffen Gobis Arm und hielten ihn fest. Mit einem Seil banden sie ihm die Hände auf den Rücken. »Das dürfte eigentlich nicht sonderlich weh tun, Frank«, sagte Claudia und kam mit dem Gesicht ganz nahe an seines heran. »Jetzt ­ und später auch nicht. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Ich habe dir doch gesagt, wie das Gerät funktioniert. Weißt du noch?« Gobi klangen die Ohren, als die beiden Männer ihn in aufrech- te Stellung rissen. Einer hatte ihm eine Ohrfeige verpaßt, um ihn benommen zu machen. Auf seiner Wange brannte eine heiße Kohle, und seine Gedanken rasten. Die Techniker befestigten das Stirnband und verbanden die Klemmen mit dem Transferkissen am Hinterkopf. »Du weißt eine ganze Menge«, sagte Claudia zu Gobi. »A- ber du hast niemals gelernt, wie man kooperiert, Frank. Und gerade davon braucht man sehr viel mehr auf der Welt. Ko- operation. Und Vertrauen.« Gobi war sich nicht sicher, was er tun konnte, um das Herunter- laden zu verhindern. Er hatte Kobayashis Bewußtsein schon in den Seitenstraßen von Chibatown freigesetzt. Aber er besaß noch Kobay- ashis Hälfte des Algorithmus. Jeder der beiden Männer hatte eine Hälfte. Das wußte er jetzt. Harada hatte seine Hälfte; Kobayashi hatte die andere Hälfte. Es war reine Symmetrie. Das verstand er nicht. Er spürte deutlich ihre Macht, die wie ein Leuchtfeuer pulsier- te. Es handelte sich ­ buchstäblich und virtuell ­ um die Macht, das Bewußtsein der Welt zu verändern. Er atmete tief ins Hara ein, um seinen Widerstand gegen die Sonde zu stärken. Anghh! Einer der Männer schlug ihm ins Zwerchfell, und der Leib schnürte sich ihm zusammen. Gobi keuchte und schnappte nach Luft. »Laßt nicht zu, daß er tief einatmet«, wies Claudia ihre As- sistenten an. »Er versucht sein Hara zu stärken.« Er spürte, wie eine Hand sein Kinn anhob. Es war Claudias Hand. »Ist es dir schwergefallen, ihn so lange mit dir herum- zutragen? Jetzt fällt's dir bald nicht mehr schwer, einverstan- den? In ein paar Minuten ist es vorbei. Ich verspreche dir, daß wir dich dann in Ruhe lassen. Du kannst wieder nach Hause fliegen. Nach Hause zu deinem Sohn. Er braucht seinen Vater. Mach bloß nicht den Abgang, Frank!« Claudia drehte sich um. »Yuki!« befahl sie. Yuki betrat den Raum, noch immer in ihr kunstvolles höfi- sches Gewand gekleidet, aber mit besorgter Miene. Sie schob sich auf den Knien über die Tatamis näher. Sie trug ein Tablett, auf dem etwas dampfte. Es war ein Oshibori-Gesichtstuch. Yuki faltete das dampfende Oshibori auseinander, dann leerte sie ein kleines Fläschchen darin aus. Sie drückte den Stoff zusammen und näherte sich damit seinem Gesicht. Yuki hatte ihm im Hotel ein Oshibori gegeben, erinnerte Gobi sich mit plötzlichem Schreck. Aber dieses Zeug hier roch bitterer. Gleich würde er die Dämpfe einatmen, und dann gingen sie in seinen Blutkreislauf über. Gobi bog seinen Körper zurück, als Yuki ihm das heiße Tuch aufs Gesicht legen wollte. Er drehte ruckartig das Gesicht zur Seite. »Festhalten!« befahl Claudia. Plötzlich schlug Kazuo Harada die Augen auf. Bisher hatte er während der ganzen Zeit nicht einen Muskel bewegt. Der Mistkerl wollte zusehen! Jemand keuchte auf. Es war der Typ, der ihn festhielt. Gobi spürte, wie der Griff des Mannes sich löste, als er auf den Tatamiboden glitt. Claudia blickte auf. Ein Geräusch wie ein leises Plopp erklang. Ein Nieser? Auch der andere Mann fiel um. Sein Arm riß das Tablett mit Tee vom Tisch. Claudias Miene erstarrte beim Hochsehen. Dann schnaubte sie: »Du?« Durchs offene Shoji betrat der Mann mit dem Silbergesicht den Raum. Er war durch den Garten gekommen. Er hatte seltsame Sachen an, einen aufblasbaren Mantel mit gefüllten Plastikkammern. »Stör mich nicht bei der Abrech- nung«, sagte er gut gelaunt und stieg über die Leiche eines der Techniker. »Hallöchen, Gobi«, wandte Carlos sich an ihn. »Die haben Sie aber ganz schön verschnürt, was? Bin in einer Sekunde bei Ihnen, okay, Amigo?« Er nickte Claudia zu. »Sie müssen die Schuhe schon entschuldigen«, sagte er und deutete auf seine Stiefel aus Eidechsenleder. »Ich sollte damit nicht über all die schönen Tatamis trampeln, aber ich bin sicher, Sie sehen es mir nach. Schließlich wissen Sie ja, daß ich unter Zeitdruck stehe.« Er würdigte Harada kaum eines Blickes. »Was wollen Sie?« fragte Claudia mit rauher Stimme. Carlos deutete mit dem Laser auf sie. »Zucken Sie nicht mit der Wimper, mein Herzblatt. Das könnte Ihrer Gesundheit schaden.« Er schwenkte die Waffe in Yukis Richtung. »Das gilt auch für Sie, Señorita. Legen Sie das Tuch weg. Das heißt«, er zwin- kerte Gobi zu, ohne den Blick von der Japanerin zu nehmen. »Vielleicht können Sie Ihrer Freundin ja ein Oshidingsda verpassen.« Er wedelte mit der Waffe. Yuki zögerte. »Hayaku!« Gehorsam begab Yuki sich über die Tatamis zu Claudia. Sie unterdrückte ein Schluchzen. »So ist es brav, meine Kleine, jetzt hast du's kapiert«, ermu- tigte Carlos sie. »Na los, gib Miss Kato eine Kostprobe ihrer eigenen Medizin.« Claudia saß nur da, die Miene grimmig und trotzig. »Damit kommst du nicht durch«, sagte sie und wappnete sich. Yuki legte ihr das noch dampfende Oshibori-Tuch aufs Gesicht. »Gom-menna-sai«, flüsterte Yuki entschuldigend. »Die Kabuki-Schwestern«, erwiderte Carlos, und ein Grin- sen umspielte seine Lippen, während er die Szene verfolgte. »Guten Flug, Miss Kato.« Er salutierte vor ihr. Claudia keuchte leicht auf, dann seufzte sie, als werde ihr eine große Last von den Schultern genommen. In Sekunden- schnelle erschlaffte ihr Körper, und sie brach in Yukis Armen zusammen. Carlos stand wie ein Schiedsrichter bei einem Spiel hinter Yuki und schaute auf Claudia hinunter. Als eine letzte Zu- ckung ihren Körper durchlief, begann Yuki laut zu weinen. »So ist's brav, Baby«, sagte Carlos zu Yuki, und ein seltsa- mer Glanz trat in sein rechtes Auge. »Du hast das richtige Händchen, mein Schnuckiputz... da schau her.« Er witterte in der Luft. »Tetrodotoxin Orientalis. Die Erfrischung, die anhält.« Gobi hatte das Drama schockiert verfolgt. Also hatten sie ihn zuerst töten wollen ­ ehe sie ihm das Kobajashi-Bewußtsein entnommen hätten. Carlos war noch nicht fertig. »In Ordnung, mein Honigtört- chen«, sagte er zu Yuki. »Das reicht jetzt. Heb noch etwas für dich selbst auf.« Yuki starrte ihn mit entsetzter Miene an. Aber Carlos blieb ungerührt. »Besser, du beeilst dich, meine Krabbelfee. Das Oshibori wird allmählich kalt, und in etwa zwei Sekunden bleibt dir keine Wahl mehr. Mir gleich, wie du's verabreicht haben willst.« Er hielt ihr den Pistolenlauf zwischen die Augen. »Tun Sie's nicht!« brach es aus Gobi heraus. »Genug ist ge- nug! Schluß damit!« Carlos ignorierte ihn. »Sag Sayonara, mein Kuscheltier. U- no, dos...« Yuki zitterte ­ dann, nach einem letzten prüfenden Blick auf Carlos, legte sie sich das Oshibori aufs Gesicht und atmete tief ein. Sofort brach ihr Körper in Zuckungen aus. Mit einem ras- selnden Aufkeuchen brach sie über Claudias regloser Gestalt am Boden zusammen. Sie zuckte noch eine Zeitlang. Dann war Ruhe. Carlos begab sich schnell an Gobis Seite. Er zog seine Klinge heraus und kappte das Seil, das Gobis Arme auf dem Rücken festhielt. Gobi rieb sich die Unterarme, um den Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. »Danke«, sagte er. Aber sein Blick war vorwurfsvoll. »Sie hätten sie doch nicht gleich zu töten brau- chen, oder?« »Ich mußte, ich mußte«, gluckste Carlos. »Ihr Typen nennt das Karma. Ich nenn's einfach nur >kaltblütig<. Die wollten Sie auslöschen, Hombre.« Gobi nickte in Kazuo Haradas Richtung, der noch immer weggetreten war. »Was haben Sie mit ihm vor?« »Vergießen Sie wegen dem Kerl mal keine Träne«, sagte Carlos und stellte sich hinter Harada. Mit einer Bewegung, die kaum einen Sekundenbruchteil dauerte ­ Gobi klappte vor Staunen der Unterkiefer herunter ­ , setzte Carlos das Messer an Haradas Hinterkopf an und zog durch. Der Kopf ruckte nach hinten, dann kippte Harada wie eine Bunraku-Marionette, die gerade ihre letzte Rolle am National Theater gespielt hatte, zur Seite weg. Gobi wurde wieder übel. »Sie haben ihn getötet!« Carlos griff in Haradas Hinterkopf hinein und zog einen Zylinder mit optischer Verdrahtung heraus. »Hier«, sagte er zu Gobi und hielt ihm den Behälter hin. »Wollen Sie ihm die letzte Ehre erweisen?« Ehe der erstaunte Gobi antworten konnte, hatte Carlos die Kassette schon in der Tasche seines langen, gepolsterten Mantels verstaut. »Jetzt aber vamonos«, stieß er hervor. »Wir haben das Ticket für unsere Reise.« Bilder einer Ausstellung Sie schlüpften durch eine Shoji-Schiebetür in den Garten hinaus. Gobi hatte noch seine zweizehigen Tabis an. Carlos trug seine Stiefel aus Echsenleder. »Wie...?« fragte Gobi, während er Schritt zu halten versuch- te. »Sparen Sie sich den Atem, Cojone«, sagte Carlos. »Hier muß es irgendwo einen Ausgang geben.« Sie erreichten das andere Ende des Anwesens. Hinter eini- gen Sträuchern verborgen, befand sich eine niedrige Tür. »Ich wußte doch, daß es hier irgendwo ist«, sagte Carlos und stieß die Tür auf. Sie hörten einen Motor anspringen und wurden in das Licht zweier Scheinwerfer getaucht. Für einen Augenblick erstarrte Carlos, dann entspannte er sich wieder. Ein langer schwarzer Daimler mit Trittbrettern fuhr vor. Auf die Kotflügel waren zwei wehende Fahnen mit dem Emblem der aufgehenden Sonne montiert. Der Wagenschlag öffnete sich. »Springen Sie rein, Amigo«, sagte Carlos und hielt ihm die hintere Tür auf. Dann stieg er vorne ein und setzte sich neben den Fahrer. »Wissen Sie, altes Haus«, begrüßte Gobi eine vertraute Stimme vom Fahrersitz aus, als der Wagen sich in Bewegung setzte. »Sie sehen wirklich verboten aus.« Es war Simon Chadwick. Er trug noch immer seine khaki- farbene Safarikluft. »Im Freßkorb findet ihr eine Thermoskanne mit Tee«, sagte er. »Und ein paar Sandwiches.« »Ein richtiges Picknick.« Carlos lachte, als er im Korb her- umwühlte. »Ist da drin auch echtes Essen?« »Ich fürchte nein, mein Freund«, erwiderte Chadwick. »A- ber Käsesandwiches und ein bißchen Gebäck. Wenn ihr Saures wollt, müßt ihr woanders hingehen.« Gobi saß auf dem Rücksitz des geräumigen 1930er Sedan. Er nahm rasch eine geistige Bestandsaufnahme vor. Claudia. Yuki. Kazuo Harada... Augenblick, das war gar nicht Kazuo Harada gewesen, stimmt's? Das war irgendein Droide ­ von einer Qualität, wie er sie noch nicht gesehen hatte. Wo befand sich der echte Hara- da? War er noch irgendwo am Leben? Er stand wieder ganz am Anfang. »Was war da drin los?« fragte Chadwick Carlos. »Ich hatte schon begonnen, mir Sorgen zu machen.« »Nicht viel«, erwiderte Carlos und warf Haradas Black Box zwischen sie auf den Sitz. »Ach herrje!« rief Chadwick. »Ist es das, wofür ich es halte?« »Du schaust auf ein Stück Hardware, das gut und gern sei- ne hundert, vielleicht zweihundert Millionen wert ist, Amigo, Neue Yen ­ Einkaufspreis. Wer weiß, was es im Laden bringt. Damit kann man alles mögliche kreieren. Ganze Industrien, die noch nicht erfunden sind.« »Potz Donner! Gut gemacht, Kumpel!« gratulierte Chad- wick ihm. »Wollen Sie mir nicht sagen, worum es eigentlich geht?« fragte Gobi. Er wandte sich an Carlos. »Wer sind Sie beide? Was machen Sie hier ­ auf der Anderen Seite?« »Die >Andere Seite<«, gluckste Carlos. »Er schnappt das Kau- derwelsch schneller auf, als eine Töle sich Flöhe holt. Wer hätte das gedacht? Unser ehrenwerter Fahrgast palavert waschechtes Nihon!« Er und Chadwick lachten. »Du bist mir schon einer, Victor!« sagte Chadwick und wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Also echt!« »Victor?« wunderte Gobi sich laut. Der Latino hielt ihm die Hand hin. »Sonderagent Victor Ve- lásquez, zu Ihren Diensten, Frank. Freut mich, Ihre Bekannt- schaft zu machen.« »Sonderagent bei wem?« »Beim Virtual Bureau of Investigation. Dem VBI. Schon von uns gehört? Überrascht mich nicht. Wir sind eine brandneue Agentur. Vor einer Weile haben wir Langleys Stelle einge- nommen. Aber das weiß kaum jemand. Noch nicht.« Chadwick lachte schallend. »Victor ist ein Freigeist. Einer der Besten ist er, unser Victor.« »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?« »Dürfen Sie nicht«, grollte Chadwick, als wäre er beleidigt. »Das wäre äußerst ungebührlich. Wo wir doch gar nicht existieren.« »Er ist schon mal hier gewesen, wissen Sie?« lachte der La- tino. »Er kennt die Fallstricke.« »Sie haben den Wechsel bereits miterlebt?« »Auf meinem T-Shirt steht: >War schon mal hier, hab's ge- tan<, wie ihr Yankees sagen würdet«, erwiderte Chadwick. Er beschleunigte, als sie mit dem Daimler an einem Samuraige- folge vorbeifuhren, das seinen Lord zu einem offiziellen Höf- lichkeitsbesuch beim Shogun begleitete. »Ich glaub's einfach nicht«, sagte Gobi zu dem Latino. »Sie gehören zu keiner Polizeieinheit, von der ich jemals gehört habe. Ich habe doch gesehen, wie Sie die Menschen da drin ausgeknipst haben. Sie sind ein eiskalter Killer.« »Kam Ihnen wohl recht kaltblütig vor, was?« Sonderagent Velásquez lachte. Er öffnete seinen antiken Plastikkoffer und bot Chadwick ein Shabu-Stäbchen an. »Danke, drei am Tag sind mein Limit«, sagte der Engländer und schüttelte den Kopf, während er den Wagen durch den Verkehr lenkte. »Mir scheint, unser Freund geht noch von verschiedenen veralteten Annahmen aus, Paradigmen, die so überholt sind wie die täglichen Schlagzeilen. Kann nicht behaupten, daß ich's ihm vorwerfe. Man muß schon ein Ar- chäologe sein, um heutzutage auch nur die Zeitung lesen zu können.« »Wovon zum Teufel sprechen Sie?« fragte Gobi. »Regeln, die dort Bestand haben... woher wir kommen... haben deshalb nicht notwendigerweise auch hier Bestand, mein Freund.« »Genau«, mischte der Latino sich ein. »Man ist noch lange kein Mörder, nur weil man in Wechsel City ein paar Droiden aus dem Verkehr zieht... oder weil man ein paar häßliche Grafiken auslöscht.« »Grafiken auslöscht?« »Ich fürchte, der arme Kerl hat's immer noch nicht ge- schnallt, Victor. Wir müssen ihn wohl mit der Nase drauf stoßen. Halte bei Ausstellungsstück A.« Chadwick brachte den Daimler an einer Kreuzung zum Stehen, an der drei oder vier Offiziere der kaiserlichen Armee darauf warteten, daß die Ampel umsprang. Sie waren sichtlich betrunken. Chadwick kurbelte das Fenster herunter. »Passen Sie jetzt auf«, sagte er zu Gobi. »Ein Bild ist tausend Worte wert.« Er streckte den Kopf aus dem Wagen. »He, ihr da, sumima- sen, Kumpels... Moshi, moshi.« Das erregte sofort die Aufmerksamkeit der Soldaten: ein seltsamer Gaijin, der am Steuer eines Generalstabswagens der kaiserlichen Armee saß. »Vergessen Sie nicht, daß wir für diese Knilche das Jahr 1941 schreiben«, flüsterte Chadwick Gobi zu. »Sagt mal«, fuhr Chadwick fort. »Wißt ihr, wo es hier zum Palast des Kaisers geht? Wir haben uns anscheinend verfah- ren. Wo wohnt der Tenno? Ihr wißt schon, der Sohn des Him- mels. Er erwartet uns zum Tee. Ah, du bist ein braver Kerl. Deute ganz einfach in die Richtung, okay? Geht's nach links, rechts oder geradeaus? Ich fürchte, wir haben es etwas eilig.« Der Major und seine Untergebenen standen am Bordstein, die Gesichter rot vom Sake, aber mit jedem Moment wurden sie blasser. In ihren Augen stand zu lesen, daß sie sich dem Systemschock näherten. »Nnnngg«, grollte der Major schließlich und fletschte die Zähne. Seine Hand zuckte zum Schwert, und er zog es schwungvoll heraus, die scharfe Klinge reflektierte das Scheinwerferlicht, als er sie am Bogen nach unten führte, um Chadwicks Arm abzutrennen. Er war im Begriff, ihn am Ellbogen zu kappen, vielleicht sogar am Unterarm. »Yaaa!« Auch die beiden Lieutenants hatten ihre Schwerter gezogen und näherten sich jetzt. Einer von ihnen legte die Hand auf den Wagenschlag. Gobi hörte, wie Chadwick zu dem Latino sagte: »Das dürfte der richtige Augenblick sein, Victor.« Der Latino nickte, zog seine kleine Fernbedienung heraus und drückte drauf. Die Bilder der kaiserlichen Armeeoffiziere bewegten sich schneller. Als er auf Rücklauf drückte, wechsel- ten die Motive: ein Samurai zu Fuß, ein Samurai zu Pferd, ein Mönch, eine Frau, ein Kind, ein kleiner Hund, eine Katze und schließlich eine Krähe, die sich flügelschlagend über eine Hinrichtungsstätte erhob. Beim Vorlauf wurde der Major zum krabbelnden Baby, zum Schuljungen in Uniform und mit Tornister, zum Studen- ten mit Messingknöpfen am schwarzen Gewand, zum ki- chernden Mädchen, zum Lohnarbeiter, der in einer U-Bahn eingepfercht ist, dann zu einem Manga in einem Comicwälzer, dessen Seiten wie zu Boden fallende Kirschblüten flatterten. All das zog in Sekundenschnelle an Gobis Augen vorbei. »Lebendige ­ oder vielleicht sollte ich eher sagen ­ sterbende Grafiken«, erklärte Chadwick ernst, während er den Daimler wieder in den Verkehr einfädelte. »Unheimlich, nicht wahr?« »Was war das gerade?« fragte Gobi. Chadwick seufzte. »Der Wechsel, mein Junge. Was zum Teu- fel glauben Sie wohl, was es sonst war? Denken Sie allen Ernstes, daß wir über den Rand der Welt gepurzelt sind? Oder daß Sie eine Art nachgeborener Christoph Kolumbus sind, der die Neue Welt erforscht? Nun ja, in gewisser Hinsicht sind Sie das, aber...« »Reden Sie Tacheles, Chadwick.« »Du meine Güte.« Chadwick hupte, als er eine Gruppe ja- panischer Pilger aus dem sechzehnten Jahrhundert sah, die Packen auf dem Rücken trugen, breite Riedgrashüte und Stöcke; sie hatten enge Hosen und Strohsandalen an. Sie standen am Straßenrand und starrten mit offenen Mün- dern den Daimler an, der an ihnen vorbeirauschte. »Irgendwann werde ich noch jemanden überfahren. Also wirklich... Fußgänger! Die aus dem Mittelalter sind am schlimmsten!« Chadwick verdrehte die Augen und wandte sich wieder an Gobi. »Tja, also, ich glaube nicht, daß es jemandem schadet, wenn wir Sie einweihen, altes Haus. Von hier kommen Sie sowieso nicht so bald weg. Wir wollen doch nicht, daß Sie zurückkeh- ren und mit den Berichten aus dem unergründlichen Inneren die Öffentlichkeit aufschrecken, nicht wahr? Ich kann mir den Aufruhr vorstellen. Demonstrationen vor dem Europaparla- ment, wirre E-Mail ins Weiße Haus, Beeinträchtigung des Weltwährungsfonds... Grundgütiger, die Leute können glatt das Gefüge der Realität in Frage stellen! Wohin würde uns das schon bringen? Zu übler Kunde, fürchte ich. Nein, nichts von alledem darf jemals durchsickern. Das würde uns nicht im geringsten weiterhelfen.« »Wer zum Teufel sind Sie, Chadwick?« fuhr Gobi ihn an. »Wenn das überhaupt Ihr richtiger Name ist.« »Ich bin nur eine namenlose und gesichtslose Null, die für Gott und den Europäischen Markt ihre Pflicht tut. Ich halte die Schiffahrtswege frei. Halte am Vergeblichen fest, wenn Sie verstehen, was ich meine. Das Übliche.« »Sie sind Spion?« »Ach du meine Güte, noch so ein antiquierter Gedanke. Nun ja, ich nehme an, man könnte sagen, ich bin der Spion, der aus dem Betriebssystem kam.« »Eigentlich«, Chadwick schniefte, »gebe ich gar nicht so un- gern zu, daß ich einer der ersten war, die heil durchgekommen sind. Wir hatten uns schon zu fragen begonnen, wir und Ihre Leute«, er lächelte Gobi an, »wohin zum Teufel das alles noch führen sollte. Wir mußten die Möglichkeiten auschecken, verstehen Sie? Schauen, ob uns unterwegs nicht einige böse Überraschungen erwarteten.« Chadwick trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. »Wo- hin verschwanden die Japaner bloß? Das war unsere dringlichs- te Frage. Außerdem mußten wir noch eine andere Möglichkeit berücksichtigen. War es vielleicht Teil eines Plans, Neu- Nippon von der übrigen Welt zu isolieren? Erneut? Wie es damals die Shogune getan haben? Sie hatten für mehr als drei Jahrhunderte an allen Ecken und Enden die Rolläden herun- tergelassen, stimmt's? Das war nicht sehr gastfreundlich von ihnen gewesen, oder? Erst Ihr Kommodore Perry hat dafür gesorgt, daß sie wieder hinter den Türen hervorlugten. Die schwarze Flotte und all das. Öffnung des Markts für den freien Handel. Auf daß der Kommerz fließe.« »Und was haben Sie erfahren?« »Bei George! Haben wir überhaupt etwas erfahren? Nun, wie Sie inzwischen wohl selbst herausgefunden haben, sind die Dinge nicht mehr so, wie sie einmal waren. Nein, das sind sie ganz und gar nicht mehr.« »Und das heißt?« »Das heißt, jemand hat's wirklich getan, oder? Sie haben al- les auf den Kopf gestellt ­ die gesamte Geschichte und Erfah- rung der Menschheit. Die Existenz, altes Haus. Sie ist nicht mehr, was sie einmal war.« »Was haben sie getan?« drängte Gobi. Er hatte das schreck- liche Gefühl, die Antwort bereits zu kennen. »Nun ja, sie sind hingegangen und haben alles digitalisiert! Jedenfalls auf dieser Hälfte des Planeten. Deswegen der ganze Ärger, altes Haus. Besonders sorgfältig sind sie dabei nicht vorgegangen. Haben's schlichtweg verpatzt, würde ich sagen. Und jetzt zieht dieser verflixte Virus durch die Lande. Wirk- lich zu dumm. Ein Käsesandwich? Nein? Sind Sie sicher? Tun Sie sich keinen Zwang an.« »Alles digitalisiert? Hier existiert alles nur in digitalisierter Form?« »Genau das habe ich versucht, Ihnen klarzumachen, Cojone, aber Sie wollten ja nicht hören.« Der Latino schlug auf dem Rücksitz die Beine übereinander. »Wenn man jemanden zappt, dann ist das noch lange kein Mord. Die gehen nirgendwohin. Die tauchen bloß in anderer Gestalt anderswo wieder auf. In einem anderen Zustand. Das ist gewissermaßen eine Art Recycling. Man könnte als Kaninchen, Stein, Samurai oder als jemandes Essen wieder auftauchen. Das ist alles nur ein Hau- fen Bytes, Mann. Nehmen Sie davon bloß nichts persönlich.« »Aber... Sie... und ich?« »Ah, an der Stelle wird's ein wenig knifflig, altes Haus, stimmt's?« forderte Chadwick ihn heraus. »Wie man hier so gern sagt: Welches buddhistische Wesen hast du? Darauf läuft's doch hinaus, oder? Sie sind auf Besuch in diesem holden Land. Sie haben sich ein Ticket gekauft und den Transfer vorge- nommen. Was sind Sie jetzt? Noch derselbe Frank Gobi, mit dem Sie vertraut sind, das echte Fleisch und Blut? Oder sind Sie nur eine digitalisierte Version Ihres früheren Selbst? Macht das in letzter Konsequenz überhaupt einen Unterschied? Lassen Sie das einmal durch Ihren philosophischen Checker laufen!« Sie überquerten die Sumida-Brücke und fuhren ins Ge- schäftsviertel. Vor ihnen ragten die Keiretsu-Türme auf. »Ich glaube, allmählich rafft es der Cojone«, lachte der Lati- no. Es war ein freundliches Lachen. »Harter Tobak, was? Wenn es einem schließlich dämmert.« Er knuffte Gobi gegen die Schulter. »Wer sind Sie jetzt? Hähähä.« Gobi richtete sich auf und fragte: »Wohin bringen Sie mich?« Chadwick bog ins Tiefgeschoß von einem der Türme ein. Sie fuhren einige Stockwerke nach unten und suchten sich einen Parkplatz neben einem Lift. »Zu einer Zuflucht, altes Haus. Man wird bereits nach Ih- nen suchen, nicht wahr? Immerhin haben Sie den Kobayashi- Algorithmus. Wozu sonst der ganze Trubel? Den wollen die haben. Aber wir beschützen Sie, stimmt's, Victor?« sagte Chadwick augenzwinkernd. »Und jetzt sputen Sie sich.« Er öffnete Gobi die Hintertür. »Kommen Sie schon, kommen Sie. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich dachte, daß Sie das bereits wüßten.« »Vielleicht sollten Sie mir erst einmal sagen, was Ihnen vor- schwebt«, meinte Gobi reglos. Plötzlich spürte er etwas an seinen Rippen. »Sie haben ge- hört, was der Mann sagte. Beeilung«, befahl Carlos. Er drückte Gobi die Waffe in die Seite. »Ich will Ihnen mal etwas sagen, Cojone. Ich habe Droiden kaltgemacht, und ich habe Huma- noiden kaltgemacht. Und Sie können mir glauben, daß Huma- noiden mehr Spaß machen.« Piccadilly Peripherals Ltd. Hausieren verboten Für Keiretsu-Maßstäbe handelte es sich um ein schäbiges Gebäude. Schmuddelige Flure und Wände, im Foyer nicht einmal ein Matisse, und Gänge mit leeren Büros, die sich kilometerweit erstreckten. Sie nahmen den Lift in den fünfundvierzigsten Stock. »Also gut, Sie Edelmann«, sagte Chadwick zu Gobi. »Wenn Sie so freundlich wären, es geht hier entlang.« Er machte eine ent- sprechende Geste. In den meisten Leuchtstreifen an der Decke war die Halo- genspur gedämpft. Gobi roch, daß man hinter einer ganzen Anzahl geschlossener Türen Ramen kochte. Eine Tür öffnete sich einen Spaltbreit ­ ein Gesicht spähte hinaus und zog sich dann rasch wieder zurück. »Ob Sie's glauben oder nicht, das hier war zur Jahrhun- dertwende noch einer der imposanteren Bürotürme«, sagte Chadwick vergnügt. »Seit dem letzten großen Knall ist er ein wenig heruntergekommen. Aber die Miete ist niedrig, und er entspricht unseren Bedürfnissen. Da drüben«, sagte er und blieb vor einem Schild stehen, auf dem >Piccadilly Peripherals Ltd. Hausieren verboten< stand. Chadwick klopfte an die Tür und lauschte. Stille. Er klopfte erneut. Sie hörten Schritte, dann ging die Tür einen Zentimeter weit auf, und ein Auge musterte sie. Im nächsten Moment schwang die Tür vollends auf. Ein zerzauster junger Brite stand da und sagte kein Wort, während Chadwick sie hereinwinkte. Der Mann war unrasiert, hatte rotblondes Haar, ein rundliches, pausbackiges Gesicht und Ringe unter den Augen. »Ah, das muß der junge Harris sein«, sagte Chadwick bei der gegenseitigen Vorstellung. »Er ist gerade erst zu uns gestoßen. Noch nicht ganz angepaßt, fürchte ich. Wie geht's Ihnen, alter Mann?« »Fühle mich nicht gerade topfit, Sir. Die Landung war et- was hart. Die Parameter haben nicht ganz gestimmt. Ein Fuß ist etwas kürzer als der andere.« Harris schubberte unbehag- lich mit den Pantoffeln. »Ach ja? Was soll's«, nickte Chadwick. »Ich bin sicher, das ist nur eine vorübergehende Unannehmlichkeit.« Er wandte sich ab, um seine Gäste zu begrüßen. »Hereinspaziert, herein- spaziert.« Er rieb sich die Hände. »Victor, wärst du wohl so freundlich, Dr. Gobi ins andere Zimmer zu begleiten? Braver Junge. Keine Sorge, wir stoßen gleich zu Ihnen. Ehe wir anfangen, möchte ich erst noch etwas mit Ihnen besprechen, Harris, wenn Sie nichts dagegen ha- ben?« Der Latino stupste Gobi vor sich her. »Sie haben den Mann gehört. Los!« Sie betraten ein kleines, fensterloses Zimmer. Gobi schaute sich um. Es gab darin eine Liege, einen Schreibtisch, zwei Stühle und einen baumelnden Lampenschirm. In einer Ecke stand ein großer Kasten, der wie eine tragbare Sauna aussah. Victor Velásquez fuchtelte mit der Waffe. »Setzen Sie sich«, befahl er Gobi. »Machen Sie es sich bequem.« Gobi setzte sich auf einen wackeligen Stuhl und sah den Mann mit den silbernen Kettengliedern im Gesicht an. Sie würden ihn töten, daran zweifelte er nicht. Das war eine Gedankengestalt, für die er hier keine Untertitel benötigte. Der Latino grinste, und die Silberketten vor seinem Gesicht klimperten verheißungsvoll. »Das war's dann wohl, eh, Com- padre? Wer hätte gedacht«, wieder fuchtelte er mit der Waffe herum, »daß Sie einmal in einem Rattenloch mitten in einem Keiretsu-Wohnblock enden würden? Man weiß eben nie... Wenn's Zeit ist, den Abgang zu machen, muß man den Ab- gang machen. Ist es nicht so? So hat's mir meine Mama immer erzählt.« Aber Gobi hatte ihn gecheckt ­ und jetzt wurde es Zeit, die- se Karte auszuspielen. »Sie hatten doch nie eine Mama. Das ist Ihr Problem, Victor, nicht wahr? Oder ziehen Sie Carlos vor? Ach, ganz gleich, wie Sie heißen... das macht eigentlich keinen großen Unterschied.« Der Latino seufzte und schüttelte den Kopf. »Wieso erzäh- len Sie mir bloß so was?« Er sah Gobi seltsam an. »Macht es Ihnen Spaß, Leute zu verletzen?« Gobi musterte ihn. Er war klein. Schmächtig gebaut, fast hager, aber fit wie ein Kampfhahn. Dieser Vorhang aus Silber- ketten vor dem Gesicht. Das konnte natürlich reine Show sein. Von Yakuza-Mode inspirierte retropostmodern-primitive Körperarchitektur. Es konnte aber auch eine Art von psychi- scher Berliner Mauer sein, die seine zwei Veranlagungen voneinander trennte. »Geben Sie's zu, Victor, Sie sind ein Droide. Sie sind das, was Sie am meisten hassen.« Wieder seufzte der Latino. Er klopfte auf die Taschen seines Mantels mit den aufblasbaren Kammern und brachte seinen Shabu-Behälter zum Vorschein. Er öffnete ihn mit einer Hand und schob sich ein kristallines Shabu-Stäbchen zwischen die Lippen. »Ich verzeihe Ihnen«, sagte er zu Gobi, als die Wirkung ein- setzte. »Weil Sie nämlich sterben werden und vorübergehend unzurechnungsfähig sind. Sie sind verdammt noch mal vorüber- gehend unzurechnungsfähig!« Er schrie. »Meine Güte!« Chadwick kam herein, gefolgt von Harris. »Ist alles in Ordnung? Victor? Stimmt etwas nicht?« »Nichts, was sich nicht beheben ließe. Kümmere dich jetzt besser um den Jungen. Es wird Zeit für den Gehirntransfer.« »Hat Dr. Gobi etwas gesagt, was dich aufgeregt hat, Vic- tor?« fragte Chadwick ihn. »Ich habe ihn bloß auf etwas hingewiesen, was Ihnen schon längst klar sein dürfte«, wandte Gobi sich an Chadwick. »Der Mann ist ein Droide. Oder vielmehr, der Mensch ist... nein, der Droide ist ein Mann... oder vielmehr ein Mensch.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich geb's auf. Was auch immer zuerst da war.« Gobi blieb keine Zeit, sich zu ducken. Victor rammte ihm die Waffe ins Gesicht; Sterne explodierten in seinem Kopf, und aus seinem Mund tröpfelte Blut. »Victor!« Als der Latino im Begriff war, einen zweiten Schlag gegen Gobis Kopf zu landen, trat Chadwick zwischen sie. »Hör auf!« »Bist ein empfindlicher Dreckskerl, was?« stöhnte Gobi vom Boden aus. Sein Shen schwebte in einen Winkel des Raums und wurde zum neutralen Beobachter. Über dem Kortex des Latinos waberte ein dunkles Energiefeld wie ein elektrischer Sturm. Der Engländer blieb unterkühlt, wie ein verregneter Nachmittag in Soho nach einem großen Glas Lager. Er trug seine Aura wie einen fleckigen grauen Schal ums vierte Cha- kra herum. Die Hand hatte er in der Hosentasche. »Vorerst dürftest du wohl genug Schaden angerichtet haben«, sagte Chadwick lächelnd, als versuchte er, gegen seinen un- disziplinierten Lieblingsschüler nachsichtig zu sein. »Ich habe dich gebeten, auf Dr. Gobi aufzupassen, und nicht, seine Gehirnzellen umzugruppieren. Zufällig sind wir an seinen Gehirnzellen sehr interessiert. Hilf dem Mann auf, Harris.« »Oh«, sagte Victor und wich einen Schritt zurück, als er die Waffe in Chadwicks Hand sah. »Was soll das denn? Erzähl mir nicht, daß das mir gilt. Oder ist das etwas, was die Katze vom Basar in Akihanbara mit nach Hause gebracht hat?« »Du liebe Güte, so was Angesagtes ist das nun auch wieder nicht«, wandte Chadwick ein. »Das ist ein Walther P 88. Ich habe eine große Vorliebe für die altmodischen, mechanischen Schußwaffen, du nicht? Auf die Weise braucht man sich keine Sorgen zu machen, ob das elektronische Sicherheitssystem vielleicht Ladehemmung hat und einem endlos Schwierigkei- ten bereitet. Das ist mir einmal '99 in Hongkong passiert. Zwei Herren von den Triaden kamen mit Stiletten auf mich zu. Hätte mir schon komisch vorkommen müssen, die waren nämlich nicht von Smith & Lazer. Einer von denen hat also ein Teil, eine Art Piepser. Er drückt lächelnd drauf, und schon kann ich nicht mehr abdrücken. Häßliche Sache. Mußte mich mit Händen und Füßen freikämpfen. James Bond, richtig? Nicht mit so 'nem Kinderspielzeug.« Er nickte zum Colt Laser in Victors Hand. Victor hatte seine Waffe auf Chadwicks Magengrube ge- richtet. Mit einem Grinsen, das schnell wieder wich, drückte er auf den Auslöser. Nichts geschah. »Also habe ich mir im Goden Shopping Center in Kowloon einen dieser kleinen Piepser gekauft«, fuhr Chadwick ohne Unterbrechung fort. »Ich war ganz schön verblüfft, wie billig die waren.« Mit der Linken zog Chadwick einen Plastikinfrarotstab aus der Tasche. Er war eingeschaltet. »Er hat sogar einen Schall- dämpfer.« Die drei Schüsse schleuderten Victor rückwärts durchs Zimmer. Sofort blähte sein Mantel sich auf, und er lag wie ein umgestürzter Totempfahl auf einem kleinen Floß auf dem Boden. »Verfluchte Schande, das.« Chadwicks Blick wanderte von Victors gekreuzt daliegender Gestalt wieder zu Gobi. »Sie haben entschieden den falschen Knopf gedrückt, altes Haus«, sagte er mir vorwurfsvoller Miene. »Einen Hybriden zu krän- ken ist wirklich nicht ratsam, wissen Sie. Die haben eine furchtbar dünne Haut.« Er schüttelte den Kopf. »Trotzdem, der Kerl hätte fast das ganze Unternehmen aufs Spiel gesetzt. Heutzutage sind die echt erstaunlich überheblich gebaut... Ich weiß noch, als ihr Ego bloß Vaporware war. Egal«, Chadwick seufzte, »da wären wir nun also alle ­ das heißt, bis auf einen natürlich ­, und uns erwartet eine Aufgabe. Harris?« »Ja, Sir.« »Haben Sie alles vorbereitet?« »Sir!« »Dann wollen wir mal, was? Es ist schon beinahe hell. Jetzt ist der Empfang am besten.« Lächelnd erklärte er Gobi: »Um diese Zeit sind die Energien besonders aktiv. Wenn die beiden Matrizes einander am nächsten sind.« »Tut mir echt leid, Victor«, grämte sich Chadwick, während Harris einen Sackkarren mit einer schwarzen Kabine auf Gobi zurollte. Gobi saß mit auf den Rücken gebundenen Händen auf ei- nem Stuhl. »Entschuldigen Sie, Sir, ich muß das nur kurz auf Ihrem Kopf befestigen«, wandte sich der junge Brite im weißen Laborkittel an ihn. Er strich Gobi das Haar aus der Stirn und setzte ihm einen Apparat auf den Kopf. Er sah wie eine Krone mit Troden und Klemmen aus. »Er war ein Droide, ja, schon, aber es war eine Freude, mit ihm zu arbeiten«, sinnierte Chadwick. »Eigentlich haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen, Gobi. Sie haben ein gutes Auge, wenn ich das so sagen darf. Nicht viele Menschen hätten es bemerkt. Victor entstammte einem Forschungspro- gramm, das zur Gründung des VBI führte. Er wurde in einem Toshiba-Cray-Brutkastensystem entwickelt... Hat seine Mom niemals gekannt, obwohl sie alles über ihn wußte, da können Sie sicher sein... genug, um dem armen Kind beim Aufwach- sen einen beängstigenden Komplex mitzugeben. Der Vater, der den RO-Membryo befruchtete ­ Sie wissen schon, >read- only embryo< ­, war in der alten Agentur ein ziemlich hohes Tier. Eigentlich selber ein genetischer Klon. Sie können sich vorstellen, welche Wirkung das Ganze auf die Erziehung des jungen Victor hatte. Seine Mom ein Inkubator, und sein Dad gleich doppelt weit weg... Sagen Sie, Harris, was treiben Sie da eigentlich?« »Tut mir leid, Sir.« Harris errötete. »Ich habe nur gerade ei- nen Test durchgeführt. Wir scheinen geringfügige technische Schwierigkeiten zu haben. Ich glaube, daran ist derselbe Faktor schuld, der mir schon während meines Eintritts begeg- nete.« »Und der wäre?« »Anscheinend weist das Feld hohe Energieschwankungen auf. Ich glaube, das Problem liegt irgendwo hier im Gebäude. Es wird mit beängstigender Geschwindigkeit Energie abgezo- gen. Wenn Sie einen Blick aufs Ohmmeter werfen möchten, Sir, dann verstehen Sie, wovon ich rede.« Chardwick schaute flüchtig auf das Gerät. »Ich würde sa- gen, die Nadel hat offenbar einen Anfall, stimmt's? Können Sie nichts dagegen tun? Den Notstrom benutzen? Sie werden doch etwas dagegen tun, nicht wahr, Harris? Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.« »Ich versuch's, Sir.« »Na, wenn das nicht ermutigend ist«, sagte Chadwick ver- ärgert. »Egal, wo war ich stehengeblieben?« fragte er Gobi, der von seinem Platz aus alles schweigend mit ansah. Gobi war zur Hibernationsatmung übergegangen, die Meister Yang ihm beigebracht hatte. Sein Shen befand sich jetzt im Korridor und sah sich nach Fluchtmöglichkeiten um. Es schwebte an unzähligen leeren Büros vorbei. In einem davon lag eine Familie Ronin-Gehaltsempfänger ausge- streckt auf dicht an dicht ausgelegten Futons. Reihen träumender Kinder, wie kleine Spatzen auf einem Yakitori-Spieß. Das war das >Katta takahi<-Syndrom. Die Konzernleitung hatte den Angestellten bei der großen Rezession von '22 offiziell entlassen, aber aus Loyali- tät war er weiter in seinem Büro geblieben. Also war seine Familie zu ihm gezogen, und sie hatten sich im fünfundvierzigsten Stock- werk eingerichtet. Gobi begab sich im Retsu-Wolkenkratzer eine Ebene tiefer. Hier war es anders. Aber nicht weniger interessant. Eine Kolonie Bura- kumin-Besetzer hatte von einem Korridor Besitz ergriffen, der die alten unbenutzten Großrechner eines bankrott gegangenen Grund- stücksmaklers beherbergte. Es war ein Graumarkt-Unternehmen. Die ungefähr zwei Dutzend Unberührbaren aus Bangladesch und Indien luden Software-Überschüsse in einen der Großrechner herun- ter und fütterten ihn wie einen Hochofen. Sie bereiteten Software-Gifte fürs Neu-Nippon-Netz wieder auf! Das war ein himmelweiter Unterschied zu dem primitiven Betrieb, den Gobi in Chiba City gesehen hatte. Dort hatten die Unberührba- ren den Abfall verfeuert... Eine Info-Unberührbare in verdrecktem Sari blieb abrupt stehen. Sie trug Wechselplatten in den Händen, als seien sie Eimer voll Wasser, die sie gerade im Dorfbrunnen gefüllt hatte. »Hari om!« murmelte sie. Sie mußte eine Sensitive sein, wenn sie seine Gegen- wart gespürt hatte. Gobis Shen schwebte zum Großrechner zurück. Das war es also, was die gesamte Energie im Gebäude aufsaugte. Der Großrechner glich einem Schnellkochtopf, der jeden Augenblick explodieren konnte... »Victor hat sich hochgedient, wußten Sie das?« brummte er Gobi zu. Er zerrte den Körper des Latinos durchs Zimmer zu der Kabine, die wie eine Sauna aussah. Er öffnete die Kabine und setzte Victors Leiche so hinein, daß sie drinnen auf einer Bank in sich zusammensackte. Dann schloß er die Kabine wieder, so daß durch eine Öffnung an der Oberseite nur noch Victors Kopf herausragte. Chadwick drehte an einigen Knöpfen. »Harris, worauf sind die Koordinaten eingestellt? London oder Brüssel?« »Heimatbüro, Sir.« »Das müßte reichen. Wir faxen ihn einfach rüber. Sollen die sich doch um ihn kümmern. Ich schicke ihnen später eine Nachricht.« »Sehr wohl, Sir.« Harris schien Zweifel zu haben. »Aber müssen Sie das gerade jetzt tun, Sir? Wo doch die Energiever- sorgung so ungewiß ist.« »Potz Donner! Sie klingen jeden Tag mehr wie ein Luddit, Harris. Haben Sie denn kein Vertrauen in die überwältigende Überlegenheit unserer Technologie?« »Tut mir leid, Sir, es ist das Bein, Sir. Das rechte ist mindes- tens fünf Zentimeter kürzer als das linke. Etwas ist bei der Übertragung verlorengegangen. Jetzt komme ich mir ein wenig gehandikapt vor, Sir.« Chadwick schlug mit der Hand gegen die Maschine und wandte sich Gobi zu. »British Telecom. Bio-Fax. Was sie sich wohl als nächstes ausdenken werden, he?« blinzelte er. »Mach's gut, Victor, ich grüße dich.« Er salutierte einen Moment lang, dann legte er den Schalter um. Victors Gesicht wurde in ein grünes Leuchten getaucht. Sein Mund öffnete sich. Die Goldbrücken blitzten durch das grüne Wabern hindurch auf. Seine silbrig-grüne Gesichtsmas- ke raschelte. Dampf entwich zischend aus seinem Kragen. Dann war er verschwunden. »Er ist unterwegs. Dateitransfer abgeschlossen.« Chadwick saß auf dem klapprigen Stuhl gegenüber von Gobi und lehnte sich zurück. »Oh, er war auch eine Weile freischaf- fend tätig. Und zwar für BEN. Die Behörde für Einwanderung und Neutralisierung. Victor war Kopfgeldjäger.« Er lachte. »Genau wie in den alten Western.« Wieder lachte er. »Er war im Maquiladora-Gürtel tätig ­ die ganze Gegend von Tijuana/San Ysidoro bis zur Grenze Matamoros/Brownsville. So ist er uns überhaupt erst aufgefallen. Er war einer der Besten. Sagen Sie, Gobi, Sie sehen ein wenig grau im Gesicht aus. Möchten Sie eine Tasse Tee? Nein? Harris, was ist los mit Ihnen? Zappeln Sie nicht so herum.« »Tut mir leid, Sir, ich bin fast fertig. Mit den Stromkabeln müssen wir improvisieren, aber es dürfte hinhauen...« »Weiter so, Harris. Das geht übrigens alles in meinen Be- richt ein. Wie auch immer, Gobi, es zog keine sehr großen Kreise...« Chadwick kicherte. »Tatsächlich zog es überhaupt keine Kreise. BEN behandelte es als Verschlußsache, und ihre Medien haben sich tunlichst daran gehalten. Dafür hat man ihnen ein paar Skandale zur Auswahl vorgeworfen, in die sie sich verbeißen konnten.« Der Engländer grinste. »Aber plötzlich gab es auf der ande- ren Seite der Grenze ein horrendes Aufkommen an Droiden, müssen Sie wissen. Von den Kobayashi-Droidenwerken in Baja. Anfangs war die Qualität noch recht armselig. Schwimmbeckensäuberer. Diener. Gärtner. Wanderarbeiter. Wegwerfdroiden...« Er schniefte. »Victor hat beträchtliche Zeit damit verbracht, seine Fähigkeiten zu verbessern, indem er Jagd auf sie machte. Er hat ihre Chi-Kästen gesammelt. Dann stellte er fest, daß eine brandneue Generation herüberkam. Die war ganz anders. Das waren Droiden mit Lebensläufen, Referenzen, Abschlüs- sen als Doktor und Magister. Manche hatten sogar politische Ambitionen. Sie besaßen Datenbanken, die mit Listen wohlha- bender Financiers angefüllt waren. Ihre Leute hat es echt wachgerüttelt, sie mußten ganz einfach davon Kenntnis neh- men.« Chadwick fuhr fort: »Manche dieser Droiden wurden in örtliche Stadträte gewählt. Andere bemühten sich um Senato- renposten. Das Ganze wurde allmählich prekär, wenn Sie verstehen, was ich meine. Damals wurde Victor vom Virtual Bureau of Investigation angeworben.« Chadwick lehnte sich wieder auf dem Stuhl zurück, dessen Beine bedenklich knarrten. »Diese Bundesbehörde wurde ziemlich hastig ins Leben gerufen, fast wie Dulles' OSS im Zweiten Weltkrieg.« Er fuchtelte mit seiner Walter P 88 in der Luft herum. »Die Neo-Tokio-Sache sollte unsere kleine gemeinsame O- peration werden, wissen Sie? Typen in Brüssel, die mit den Jungs in Washington Hand in Hand arbeiten. Hinter die feindlichen Linien gehen und so weiter. Jetzt werde ich wohl melden müssen, daß Sonderagent Velásquez in Erfüllung seiner Pflicht gefallen ist.« Chadwick sah aus, als deprimierte ihn diese Aussicht. »Fertig, Sir.« »Vielen Dank, Harris! Gut gemacht. Jetzt dauert's nur noch einen Moment, Gobi. Ich bin ja so unglaublich froh, daß Sie sich bereit erklärt haben, beim Herunterladen mit uns zu kooperieren. Das dürfte eigentlich recht schmerzfrei ablaufen. Fassen Sie sich ein Herz, altes Haus.« Chadwick schlug ihm auf die Schulter. »Wissen Sie, Gobi, ich muß ein Geständnis ablegen und weiß nicht, ob ich noch einmal Gelegenheit dazu bekomme, also tue ich's am besten jetzt gleich. Neulich auf Station Sieben war ich es, der Sie auszuschalten versuchte. Ich habe Sie in dieser Gondel harpuniert, als Sie mit der hinreißenden Miss Kato zusammen waren. Ich hielt Sie für einen gedungenen Mörder der Gegenseite. Erst Victor hat mir die wahren Zu- sammenhänge erklärt. Ich wußte nicht, daß Sie eine Art Schlä- fer sind. Offenbar wußten Sie es selber nicht. Armer Victor! Sie werden mir doch verzeihen, Gobi, oder? Gobi, ich spreche mit Ihnen!« »Machen Sie sich bereit, Sir«, erklärte der junge Harris. »Ich lege jetzt den Schalter um...« In dem Moment explodierte der Großrechner in der drei- undvierzigsten Etage des Retsu-Gebäudes, und Gobi wirbelte in die Leere hinein, wobei er sein Shen mitnahm. Er hatte einen Ausweg gefunden und beschritt ihn. »Ich glaube, wir haben ihn verloren, Sir.« »Verdammt!« »Sir?« »Was ist, Harris? Ich versuche nachzudenken.« »Da klopft jemand an die Tür.« »Was? Um diese Zeit? Sehen Sie nach, wer das ist. Wenn's einer von diesen Trotteln von nebenan ist, sagen Sie ihm, er soll sich zum Teufel scheren.« Einen Augenblick später kam Harris zurück. »Es ist eine Frau, Sir. Sie trägt einen Sari.« »Zum Henker, Harris! Und deshalb kommen Sie zu mir? Wir haben gerade unseren Kumpel hier im System verloren ­ er ist uns glatt durch die Finger geschlüpft ­, und Sie kommen an und erzählen mir, was so ein verflixtes Weibsstück trägt. Einen Sari, na und?« »Ja, Sir. Sie scheint zu den Unberührbaren ein Stockwerk tiefer zu gehören.« »Was soll's!« »Ich weiß nicht recht, Sir. Sie hat eine Art Röhre mit einer schädlich wirkenden Substanz darin bei sich.« »Sagen Sie ihr, wir kaufen nichts. Hausieren verboten. Steht doch deutlich an der Tür.« »Ja, Sir. Aber sie sagt, daß es uns gehört.« »Was? Gehört sie etwa zu diesen Wiederaufbereitern? Sie will doch nichts verdealen?« »Könnte sein, Sir. Sie arbeiten einen Stock tiefer an diesen Großrechnern. Sie meint, sie hätte gerade an einem gearbeitet, als es zum Stromausfall kam. Vielleicht besteht da ein Zusam- menhang, Sir.« »Schauen wir mal, Harris. Man weiß ja nie, stimmt's?« Beide betraten den Vorraum und spähten auf den Korridor hinaus. »Sagten Sie nicht, sie trägt einen Sari, Harris?« meinte Chadwick und sah sich vorsichtig um. »Eben war sie noch hier, Sir.« Ein junger Japaner trat aus den Schatten hervor. »Ich glau- be, das hier könnte Sie interessieren.« Er hielt ihnen eine Röhre entgegen, die eine leuchtende, brackige Substanz enthielt. »Sagen Sie, wer sind Sie überhaupt?« fragte Chadwick und starrte die Röhre an. Er war sich der selbstbewußten Art des Mannes und seiner Präsenz vollauf bewußt. »Und was haben Sie da? Was ist das?« Im Innern der durchsichtigen Plastikröhre saß auf einem Aschenhaufen ein grünlich-silberner Gegenstand. Victor. »Ich fürchte, Ihr Fax ist nicht durchgekommen.« Der junge Japaner verbeugte sich. »Sie sollten versuchen, es noch einmal zu verschicken.« Dann zog er sein virtuelles Katana und hielt es in der Rech- ten. Es war ein unbezahlbares Familienerbstück. Ein Mitsubi- shi-Munemasa. »Darf ich eintreten?« fragte er höflich. Westlich der Leere Es war gerade die richtige Menge Cyber-Chutney. Gobi hörte das Murmeln tibetischer Mönche. Er spürte das Wogen der Leere und den Donner, der sanft wie eine Feder an sein Ohr drang. Sämtliche Emotionen dieses Planeten, wie Träume in Bernstein, lebten in pulsierenden Farben wieder auf. Er hörte Geräuschfetzen. Bruchstü- cke vereinzelter Gespräche aus dem vorigen Jahrhundert wehten wie digitalisierte Spitzenvorhänge vor den Fenstern längst gelebter Leben. Sturm und Drang, Trommelwirbel und Trompetengeschmet- ter. Einem Ausschnitt der Nürnberger Rede Adolf Hitlers folgte der näselnde Tonfall von William dem Eroberer und die einschmeicheln- de Stimme der Königin Isabella von Spanien, die durch ein parfü- miertes Taschentuch einer wartenden Hofdame etwas zuflüsterte... Schichten um Schichten aus Stimmen, Musik, Datenströmen und Bildern, die wie Wärme vom Kanonenofen der Vorstellungskraft abgestrahlt wurden. Unvollendete Symphonien, vor dem Versinken im Kitsch bewahrt. Falsche Verbindungen. Telefonische Essensbestellungen. Wählzei- chen der Leidenschaft, verzweifelte Anrufe, verärgertes Auflegen, lange intime Schlendereien durch die Gedächtnisleitungen, die Voice-Mail von Aborigines in der Traumzeit... Das alles steckte in diesem Umschlag, der mit einer schönen gro- ßen Briefmarke versehen ins All geschickt wurde. Die Engel, die sich auf den Feldern abplagten, lehnten sich auf den Fersen zurück, als er an ihnen vorbeisegelte. Die kleinen Teufel, die am Flußufer ihre Spiele trieben, suchten Schutz in den Sträu- chern. Das brüllende Vieh trottete die furchige Straße entlang, und im Schatten der Platanen gurrten die Turteltauben. Gobi war auf der Walz. Am anderen Ende des Nichts wandte er sich gen Westen, bis er die Türme von Satori City sah, unbeleuchtet und verrammelt. Er sah leere Boulevards, verrostete Verkehrsam- peln, blinde Datenbanken und auf der Datenmautstraße aufgegebene Datenpakete: Speicher-Mazdas, Cyber-Chrysler und Sensorbild- schirm-Toyotas. Gobi ging weiter, vorbei an Satoris Welt für Heranwachsende mit ihrer lebendigen Landschaft des Koitus interruptus, der unbefreiten Lingam und ungebeugten Yonis, der nicht registrierten Orgasmen von Toten, die in nie gesungenen Karezzas widerhallten... Er spürte den sengenden Atomschlag des Todesparks und hätte beinahe den Halt im All verloren. Er kam an Karaoke Country vorbei, einem riesigen Drive-in der stummen Performances, der Stimme im Limbo, des Atems, der Lieder benennt, die jetzt nur noch ein im Brummton gefangenes erstarrtes Flüstern waren. Trotzdem fing Gobi von irgendwo ein Summen auf. Von weit weg ­ wenn auch nicht so weit ­, nur ein schwaches Signal, das noch immer ausgestrahlt wurde. »... hier spricht Eure Wenigkeit, der Ghulking Alfonso Aserioso, der auf Wasteland NetFM sendet... An euch unverwüstliche Seelen dort draußen, die ihr immer noch zuhört, wir müssen bald Schluß machen, nämlich sobald wir dieses Set gespielt haben... Yep, es ist Ciaozeit!!! Was soll's, war doch 'ne irre Sause, solange es lief, stimmt's? Alles Gute findet euer ihr wißt schon... Hier ist noch eine letzte Nachricht aus V-Town: Die Sektoren 11, 12, 18 und 19 sind getrennt. Yeah, tut mir leid, Jungs. Ich wußte euer Feedback zu würdigen. Wünsche euch das Beste, wohin auch immer es euch verschlagen hat. Hoffe, ihr werdet dort glücklich. Ich hab noch einen letzten Wetterbericht für euch:... mild und sonnig im Flachland von Gametime, Schnee und Niederschläge im Virtuellen Bhutan und im Him-und-her-a-laja, und gerade kommt rein ­ macht mich ganz kribbelig, euch das zu sagen ­, daß sie scharenweise von den Bergen herunterströmen. Einen guten Virus haut eben nichts um, einen schlechten aber auch nicht, hä...? Paßt bloß auf eure Kehrseite auf, ihr glücklichen Camper, Messer- stecher und V-Trekker, sofern sich überhaupt noch welche von euch da oben aufhalten... diese lebenden Toten sind fieser als tollwütige Erdschuhe...« Gobi sah am Horizont die schneebedeckten Gipfel des Himalaja. Er spürte den Sonnenschein wie eine gewaltige Spiegelung der lodernden Glut unter einer Kohlenpfanne. Bald würde die Nacht über dieses Land hereinbrechen. Er senkte sich auf einen Pfad herab. Er begann zu laufen. Kundalini Kid Kundalini Kid war regelrecht überrollt worden. Die Lichtlawine hatte ihn und seine Freunde Tony Allaban- za, Zack Ganbaggio, Skater und Druide Dan völlig unvorberei- tet getroffen. Jetzt war er auf sich allein gestellt. Kid hatte mit der Gang im Interfaceland Annex geboardet. Tony hatte superheiße Wechselschwünge abgezogen, während Zack dreidimensionale Loopings vollführt hatte, als kämen sie jeden Moment aus der Mode. Druide Dan hatte wie üblich herumgealbert. Die Rampe war glatt und ohne große Mulden, und doch hatte er sich, als er nach dem Fallschirmabsprung mit dem Brett gelandet war, den Knöchel verstaucht. Im selben Augenblick explodierte um ihn herum die Welt. Er erinnerte sich, daß er durch den Beton geglitscht war wie ein Messer durch Mazola. Seine Kumpels hatte es aus dem Standbild herausgerissen. Er bekam gar nicht mit, wohin es sie verschlug. Und jetzt das. Er sah sich um. Wo befand er sich eigentlich? Berge. Schnee. Täler. Oh, Scheiße. Kid wünschte sich, daß er noch sein Brett hätte. Bisher hatte er in Gametime nie Schwerkraft-Schauder verspürt. Er hatte seine Pneumoschuhe getragen, und bei der Landung ­ puh! Seine Polster brannten jetzt noch. He, in Gametime dürfte man keine Schmerzen empfinden! Außer im Kopf. Jetzt dröhnte ihm der Schädel, als tropften aus einem lecken Wasserhahn Murmeln in sein bloßes Gehirn. Wie sollte er nur jemals wieder nach Hause finden? Das war wirklich zu dumm! Also war das System zusam- mengebrochen. Es hatte früher schon ab und zu verrückt gespielt, aber noch nie so sehr wie jetzt. Einen Moment. Und was war, wenn er überhaupt nicht mehr zurückkonnte? Es war doch wohl nicht so was passiert wie mit Sender Emmanuel, oder? Diese Sache, die ihm sein Vater ständig vorgehalten hatte? Ganz ruhig. Klar kommst du wieder hier raus, dachte er. Ist bloß eine Frage der Zeit. Sie vermissen dich. Und dann schicken sie jemanden her, der nach dir sucht. Und was war das für eine Musik? Es klang wie ein cooler elektronischer Wasserfall. Wie ein summender Gletscher... Schau nicht zurück, sagte er sich. Schon seit geraumer Zeit hatte Kid den Eindruck, daß man ihn verfolgte. Keine Ahnung, was für ein Spiel das ist ­ oder auf welcher Ebene ich bin. Ich wünschte, ich hätte meinen Satori-Dschinn bei mir. Er würde mir verraten, in welchem Sektor ich mich befinde, welche Regeln hier herrschen und welche Überraschungen mir bevorstehen können. Aber ich habe ihn in der Lichtlawine verloren. Verdammt! Kid blieb abrupt stehen. »WAS ZUM HEILIGEN CHRISTOPHERUS!?« Kundalini Kid rastete aus. »Keine Sorge«, hörte er hinter sich eine Stimme, die sich an ihn wandte. Also war ihm wirklich jemand die ganze Zeit lang gefolgt. Er fuhr herum. Es war ein Mädchen. Sie war vielleicht drei- zehn oder vierzehn Jahre alt, aber sicher war er sich nicht. Sie trag eine Bergsteigeraxt und hatte eine Tasche geschultert, die aussah, als wäre sie aus Yakleder. Ihre Mütze hatte Ohren- klappen. Die Füße steckten in Doc-Dalais-Stiefeln, die einem im Nachleben Halt boten. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte sie. »Aber ich mußte erst sichergehen, daß du nicht einer von ihnen bist.« »Einer von wem?« Sie verursachte ihm Herzklopfen, und das gefiel ihm nicht. »Hast du keinen von denen gesehen? Du mußt hier neu sein.« »'tschuldigung«, sagte Kid so höflich wie möglich. »Aber wovon redest du eigentlich? Und wieso bist du mir gefolgt?« »Tut mir wirklich leid«, wiederholte sie, zog ihre Thermo- handschuhe aus und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Sherpa. Sherpa O'Shaughnessy. Eigentlich ist Sherpa nur hier in Trekland mein Name. Zu Hause heiße ich Devi. Sag mal, du bist hier ja echt neu.« »Ich bin Trevor Gobi. Aber man nennt mich Kundalini Kid. Das hier ist also Trekland?« »Stimmt genau. Es hat ein paar Actionelemente ­ den Yeti suchen und solche Dinge ­, aber größtenteils geht es um Abenteuerreisen. Siehst du diese Gipfel?« Sie drehte sich um und deutete darauf wie ein Touristenführer. »Weißt du, wie sie heißen? Ich kenne sie in- und auswendig. Dhaulagiri. Annapurna. Shishapangma. Cho Ou. Everest. Und natürlich Kanchenjunga. Das ist der da drüben.« »Echt toll«, sagte Kid. »Aber eines wüßte ich doch ganz gern ­ was um Himmels willen ist das?« »Kein besonders schöner Anblick, was?« sagte Sherpa gedan- kenvoll. »Der Ort hier verändert sich. Er ist nicht mehr trek- kerfreundlich.« Quer über dem Weg hing ein großes graues Spinnennetz. Es sah aus, als baumelten Gummimasken daran. Gesichter mit gerunzelter Stirn, hochgezogenen Mundwinkeln und aufgeris- senen Mündern. »Igitt!«Trevor verzog das Gesicht. »Für mich sieht das nach Schrumpfköpfen aus.« »Das sind menschliche Bildschirmschoner«, meinte Sherpa. »Was?« »Na ja, das ist alles, was von einer Trekkergruppe übrig- geblieben ist. Ich habe sie noch vor wenigen Tagen auf diesem Pfad gesehen. Sie haben sich wohl verirrt...« »Wovon redest du?« fragte Trevor entsetzt. »Was ist mit ihnen passiert?« »Habe ich mir doch gleich gedacht, daß du neu bist. Du bist nicht von hier, stimmt's? Es verschlägt jede Menge seltsamer Leute aus anderen Sektoren zu uns. Aber um deine Frage zu beantworten, seit diese Sache passiert ist ­ du weißt schon, der Systemabsturz ­, kommen sie vom Hochland herunter.« »Wer kommt seitdem herunter?« fragte Trevor verblüfft. »Die Ro-langs, Kundalini. Die wandelnden Mutanten. Sie treiben sich jetzt hier herum.« Ein Aufbrüllen in der Ferne übertönte alles andere. Am Ho- rizont blinkte stroboskopartig Licht auf und entfesselte gewal- tige vertikale Orgon-Ströme, die das Gebirge erschütterten. Von der Klippe hoch oben stürzten Felsbrocken den Abhang hinunter in die gähnende Tiefe. Sherpa stand wie eine Statue erstarrt da. Ihr Blick war auf einen Punkt am Horizont gerichtet. »O mein Gott, das war der Kanchenjunga. Hier geht alles den Bach runter. Bald gibt's diesen Ort nicht mehr.« Sherpa benutzte ihren Stock, um das Netz über dem Pfad zu entfernen. Trevor versuchte, seinen gewaltigen Ekel zu über- winden, und passierte die Überreste der Trekker. »Schaurig«, sagte er. »Was machen wir jetzt? Wohin gehen wir?« »Der ganze Sektor kann sich jeden Augenblick auflösen. Da drüben ist das gerade geschehen.« Sherpa deutete dorthin, wo sich eben noch der Kanchenjunga erhoben hatte. »Die Grafiken brechen alle zusammen. Unsere einzige Chance besteht darin, zur anderen Seite durchzukommen. Siehst du das dort hin- ten?« Trevor beschirmte seine Augen gegen das Leuchten. Er sah eine Gebirgskette und dahinter eine Blase, die wie eine Eis- kappe glühte. »Ist das die Grenze von Gametime?« »Yep, und dahinter können wir den Abstieg nach Virtuopo- lis beginnen. Vorausgesetzt natürlich, daß davon überhaupt noch was übrig ist. Das passiert wahrscheinlich überall.« »Wie meinst du das?« »Weißt du denn nicht, was hier vorgeht, Trevor?« »Ich... ich bin mir nicht sicher«, gestand er und blickte auf seine Turnschuhe herunter. »Wie alt bist du?« »Zehndreiviertel.« »Na ja, dann bist du wohl alt genug, um die Wahrheit zu erfahren. Das hier ist nämlich kein Spaß mehr, und auch kein Spiel. Es ist so eine Art Endzeit. Wissen deine Eltern, daß du hier bist?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher, sie wissen es.« »Woher sollten sie wissen, wo ich bin? Ich weiß es ja selbst nicht einmal.« »Schon gut, Trevor, den Pfad etwas weiter rauf ist ein Münzfernsprecher. Da kannst du wenigstens versuchen, eine Nachricht zu übermitteln. Im Wasteland gibt's eine Vermitt- lung, die wahrscheinlich noch online ist. Sie leitet deine Anru- fe an eine Art Schwarzes Brett weiter. Ich weiß, daß das mög- lich ist. So habe ich meiner Schwester Bescheid gegeben.« Eine Weile gingen sie schweigend weiter. »Ich weiß, daß ich träumen muß«, sagte Trevor. »So etwas habe ich mal ge- träumt, als ich Fieber hatte.« »Du träumst nicht.« »Aber mein Körper ist drüben. Und was hier läuft, ist nur mein Verstand.« »Ich glaube, es hängt davon ab, was du unter Träumen ver- stehst.« »Ich weiß, was ein Alptraum ist. Nämlich so etwas. Wie kommt es, daß du die Gegend so gut kennst?« »Ich war schon einmal hier.« »Bist du Trekkerin?« »Um Himmels willen, nein«, erwiderte Sherpa. »Ich bin hierhergekommen, um Spezimina zu sammeln.« »Was für Spezimina?« »Kräuter und Pflanzen, die hier wachsen.« »Wieso willst du sie sammeln?« »Vor allem, um ihren medizinischen Wert festzustellen.« Sie tätschelte ihren Rucksack. »Ich habe schon eine ganze Menge davon gesammelt. Zum Beispiel die Semecarpus anacardium. Das ist hier die Nuß des Bhayalo-Baums. Damit kann man Krebs heilen.« »Augenblick mal. Hier ist doch nichts real. Alles ist virtuell erzeugt. Wie kann das in der wirklichen Welt irgend etwas bringen?« »He, mich interessieren die DNA-Algorithmen gewisser seltener Pflanzen, die nur in den höheren Regionen von Game- time wachsen. Sag bloß, du hast noch nie etwas von virtueller Biotechnik gehört?« Er schüttelte den Kopf. »Hast du vielleicht ein virtuelles Aspirin?« fragte er. »Mir platzt der Kopf.« »Das ist ein echt cooler Name.« »Was?« »Kundalini Kid. Er gefällt mir.« »Danke.« »Wie die Energie, die die Wirbelsäule hinaufschießt, hä? Spitze.« Sherpa versuchte, ihm Mut zu machen. »Jetzt dauert es nicht mehr lange. Der Münzfernsprecher ist gleich da o- ben.« »Bist du sicher?« »Tut dir der Kopf immer noch weh?« »Nein, es geht schon.« Sherpa hatte virtuelles Reiki an ihm ausprobiert und war mit den Händen über sein Kopfchakra gestrichen, wie sie es bei ihrer Schwester Tara gesehen hatte. Es waren die Nerven ­ die Nerven und die Höhe. Irgendwo auf der anderen Seite glaubten sie zu sterben. Wenn man's recht bedachte, überlegte sie, dann starben sie vielleicht wirklich! »Ich glaube einfach nicht, was ich gerade gesehen habe.« Kundalini schüttelte den Kopf. »Was?« »Ich habe zwei Sandalen oder so gesehen, die über den Pfad gelaufen sind. Sieh doch nur, sieh, da sind noch mehr!« Er zeigte aufgeregt darauf. »Da drüben im Strauch!« »Keine Sorge, du bildest dir nichts ein«, versicherte Sherpa ihm. »Wir sind im Erdschuh-Land.« »Was?« »Das sind Erdschuhe.« »Da laufen sie schon wieder!« »Größe zweiundvierzig, vielleicht vierundvierzig. Hier o- ben gibt's ganze Kolonien davon.« »Du spinnst wohl!« »Sie sind eigentlich ganz harmlos. Schau mal... na, kommt schon, Jungs, kommt.« Sherpa kniete sich auf den Pfad und streckte die Hand aus. »Ts, ts, ts...«, lockte sie sie. Einer der mutigeren Schuhe, ein dunkelbraunes Wildle- dermodell (linker Fuß Größe vierundvierzig) patschte herbei, blieb aber in Fluchtdistanz, falls es gefährlich werden sollte. Sein rechter Zwilling hielt sich im Hintergrund. »Komm schon, mein Junge, komm, oder bist du ein Mäd- chen? Schwer zu sagen... komm schon, ich tue dir nicht weh... du bist sowieso nicht meine Größe.« Das schien den Erdschuh zu beruhigen. Er kam Sherpa na- he genug, daß sie ihn tätscheln konnte. »So ist's brav, ganz brav.« Sie streichelte ihn. »Schnurr, schnurr.« Er stieß ein zu- friedenes Seufzen aus und rollte auf die Ferse zurück, um sich die Sohle streicheln zu lassen. »Nein, ich glaube nicht«, sagte Sherpa. »Keine Ahnung, wo du gewesen bist.« »Wow!« staunte Kundalini. »Ein verrückter Ort!« »Jetzt lauf!« sagte Sherpa, erhob sich und strich sich den Yakmantel glatt. Der Erdschuh schlurfte davon und schloß sich seinen schnatternden Brüdern und Schwestern im Strauch an. »Sie haben sich ziemlich schnell fortgepflanzt«, meinte Sherpa. »Wie schon gesagt, hier herum hat sich einiges verän- dert. Ich glaube, einige Trekker haben das eine oder andere Paar auf dem Pfad zurückgelassen, und dann...« Sie zuckte mit den Achseln. »Natürlich sind das alles nur Vermutungen, aber die Parameter sind mutiert. Ein Virus hat sich im System ausgebreitet.« »Die wandelnden Mutanten?« »Ja. Still, Kundalini... horch, hörst du das?« Er lauschte einen Moment lang. »Nein, ich höre nichts. Was hörst du?« »Nichts«, sagte sie. »Das ist es ja gerade. Plötzlich ist alles so still. Sämtliche Erdschuhe sind verschwunden. Sie bewegen sich nicht, geben keinen Laut von sich...« Dann hörten sie es beide. Ein Schwirren wie von ge- schwungenen Armen und feste Schritte, die Gedanken zu gehorchen schienen, die nicht mit dem Betriebssystem über- einstimmten. Omeingottomeingottomeingottomeingott... Kundalinis Herz hüpfte wie ein Stein, den man über die Oberfläche eines Teichs wirft, ehe er in seinem eigenen mias- matischen Spiegelbild versinkt. »Ro-langs!« warnte Sherpa ihn. Sie kamen um die Kurve. Sie gingen federnd und hatten ausdruckslose Mienen, waren aber wie längst verstorbene Tibeter gekleidet, Ghule aus dem letzten Jahrhundert, vor der Invasion des kommunistischen China im Jahr 1950. Mit fahri- gen Gesten winkten sie sie zu sich. »Das hat uns noch gefehlt!« fluchte Sherpa. Sie musterte den taumelnden Gang und die verdrehten Augen. »Das sind Gdons!« »Gdons?« Plötzlich waren Kids Beine wie gelähmt. Er konn- te sie nicht mehr bewegen. »Es gibt verschiedene Arten Ro-langs. Das hier scheinen epidemische Ro-langs zu sein. Sie sind Träger der Geistkrank- heit. O verdammt, sieh doch nur, was da vorn antanzt! Ein Stoßtrupp aus Mini-Rimi!« Die erste Linie der Ro-langs sah völlig unterschiedlich aus. Es handelte sich um eine bunt zusammengewürfelte Truppe aus kleinen Dämonen und Kobolden. Manche davon glichen Chihuahuas mit Rollkragenpullovern, die sich in kleinen Rollstühlen voranschoben, schwachsinnig grinsten und Fänge aufblitzen ließen, scharf wie Dosenöffner. Andere waren zeichentrickartige Elfen, Inkuben und Sukkuben, darunter auch eine Prozession von Erregern der Hirnhautentzündung in kleinen weißen Smokings mit Kummerbund, die mit den Lippen schmatzende Laute verursachten. »Sherpa!« rief Kundalini. »Ich kann mich nicht rühren!« Sherpa schloß die Augen und versenkte sich rasch in Halb- trance. Ihre Finger bildeten das Mudra des Schutzes. Sie lud das Gebet der Befreiung vor dem Bösen herunter, das ihre Schwester Tara sie gelehrt hatte. »Bei der Stärke der Drei Prächtigen Edelsteine, bei der Stärke des Bannspruchs, des Mantras, bei der Stärke der friedvollen und grim- migen hohen Schutzgötter und besonders bei der Stärke der einund- zwanzig edlen Taras, deren Wesen Barmherzigkeit ist... « Sie legte mehr Energie hinein, beschwor weitere Kraft die Wirbelsäule herauf. »Mögen alle bösen und unrechten Pläne von Lha und Lu, der Ghule, Geister und fleischfressenden Dämonen, der Umweltver- schmutzer und Dämonen des Wahnsinns und des Vergessens, der Mamo-Teufelinnen und bösen Dakinis, sämtlicher fehlgeleiteter Dämonen, der Königsdämonen und der Dämonen des Todes, der Gongpo und der Himmelssegler, der Nyen und der Sadag, der Schlangen, Oger und Nojin, aller Gespenster und hungrigen Geis- ter... Mögen sie besänftigt werden! Mögen sie sich nicht erheben!« »Sherpa!« schrie Kundalini auf. Die Chihuahuas in ihren Minirollstühlen kamen schnell näher gerollt und zogen dabei kleine Staubwolken hinter sich her. »NAMO!!!« kreischte Sherpa, riß die Augen auf und sah sich dem Angriff gegenüber. »Sherpa! Hilfe!« Das Ding schnüffelte an seinem Gesicht. Aber es schaute ihn mit einem seltsamen Ausdruck des Wie- dererkennens an, als ob es ihn kannte. Es handelte sich um einen pinkfarbenen, holoidähnlichen Plasmaaffen, und als die Chihuahuas eintrafen, sprang er auf die Hinterläufe, kletterte auf die Schulter des Jungen und zischte, wobei er gelblich-rosafarbene Fänge bleckte und den Angreifern Holoidbeleidigungen und Drohungen entgegen- schleuderte. Die Mini-Rimi zogen sich hastig zurück. Federnden Schritts näherten sich die Gdons. Sie drohten mit den Fingern und streckten ihnen die Zungen heraus. Die Mini- Rimi verbargen sich hinter den Gdon-Wirten, kamen aber ebenfalls wieder auf sie zu. B-O-O-M!!! Eine Explosion schaltete den Ro-langs-Anführer aus, und er sank auf die Knie, versuchte sich zu erheben und rappelte sich auch tatsächlich wieder auf. B-O-O-M!!! Die zweite Explosion gab ihm den Rest. Der pinkfarbene, holoidähnliche Plasmaaffe war ver- schwunden. Er hatte nur für den Bruchteil einer Sekunde auf Trevors Schulter gesessen. Im nächsten Moment war er in einen Strauch gehüpft, wobei er eine verschwommene rosa- farbene Spur hinterließ. Fast war es, als hätte er sich das Ganze nur eingebildet. A- ber er konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht vergessen. Dieses Wiedererkennen. Das war zu seltsam. Trevor und Sherpa blickten hinter sich. Jetzt tauchten drei Kinder auf dem Pfad auf. Eines davon war in einen übergro- ßen Steppmantel mit Rucksack gekleidet. Es warf etwas durch die Luft, was wie eine leicht gebogene Spindel aussah. B-O-O-M!!! Die Explosion brachte die beiden übriggeblie- benen Gdons zum Taumeln. Ein anderes Kind stand auf Energieskiern breitbeinig da und stützte sich auf ein Paar Schwungskistöcke. Es trug eine Skibrille, und sein schwarzes Gesicht war mit weißer Strahlen- schutzcreme eingeschmiert. Es richtete einen der Stöcke auf die Ro-langs. Trevor sah, wie es den Auslösemechanismus hoch oben am Stockgriff drückte. Es feuerte orangefarbene Blitze in die Meute der Mini-Rimi ab, die daraufhin in alle Richtungen zugleich davonsprengten. Das Kind warf noch einen Sprengstab in die Luft. B-O-O-M!!! »He, fang auf!« Das zweite Kind warf Trevor einen seiner Skistöcke zu. Trevor fing ihn geschickt auf und begann ins- tinktiv, eine Blitzsalve nach der anderen auf die fliehenden Mini-Rimi abzufeuern. »So ist's recht!!« brüllte sein neuer Verbündeter. »Immer schön draufhalten!« Das dritte Kind beteiligte sich nicht an der Gegenwehr. Es saß zusammengesunken auf dem Boden und zitterte. Offenbar atmete es schwer und schwitzte. »Na, denen haben wir es aber gegeben, findet ihr nicht auch?« erklärte das erste Kind großspurig. »Anscheinend sind wir gerade noch rechtzeitig gekommen. Ihr seid wohl nicht bewaffnet, hä?« Sherpa fragte ihn: »Wo kommt ihr denn her?« Das erste Kind, das größte von den dreien, sagte: »He, ihr braucht uns doch nicht zu danken. Ohne uns hätten diese Hirntoten euch inzwischen frittiert!« »Tut mir leid, ich wollte nicht undankbar klingen«, ent- schuldigte Sherpa sich. »Schon gut. Ich bin Larry, das hier ist Moçambique. Und das ist Phil. Er fühlt sich nicht besonders.« »Ich bin Sherpa. Das ist Kundalini. Was stimmt nicht mit dir, Phil?« Sherpa ging zu ihm hinüber und befühlte seine Stirn. Sie war heiß, und seine Pupillen waren erweitert. »Keine Ahnung. Bin schwer aufgekommen«, sagte er matt. Kundalini gab Moçambique den Skistock zurück. »Das war echt nett. Danke.« Moçambique grinste breit. »Das ist ein Vajra-Blasrohr. Feu- ert tibetische Blitze ab. Freut mich, daß ich dir helfen konnte, Mann.« »Und das...« Kundalini deutete auf Larrys Waffe. »So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Was ist das?« »Ach ja? Wo treckst du rum?« Larry musterte Kundalini einen Moment lang. »Siehst wie ein V-Boarder aus, Mann. Du bist wohl in diesem Sektor abgestürzt, hä? Wie Phil. Er gehört auch nicht hierher. Wir haben ihn unterwegs aufgegabelt. Er sagt, daß er von seiner Freundin getrennt wurde, als der Laden hier zusammenbrach.« Er zog die Stäbe hervor. »Weißt du«, sagte er und zeigte Kundalini die Waffen, »das sind Haikichis.« »Haikichis?« »Ja, eine guatemaltekisch-japanische Erfindung. Na los, probier sie ruhig aus. Sie sind nicht geladen. Man rückt die Spindel etwas aus der Mitte heraus, dann wirft man den anderen Stab in die Luft. Er kann richtig fliegen.« Trevor kreiselte mit dem Arm am Körper und schleuderte dann den anderen Stab hoch hinauf. Er drehte sich wie ein Propeller, als er über die Wiese dahinschnellte. B-O-O-M!!! Larry lachte auf. »Ups! Tut mir leid. Ich schätze, die waren doch geladen!« »Ihr seid wirklich toll ausgerüstet.« Trevor war unglaublich beeindruckt. »Yeah, weißt du, Moçambique und ich haben uns durch die verschiedenen Spielebenen hochgearbeitet«, erklärte Larry. »Wir haben Punkte eingeheimst und alle möglichen Preise gewonnen, lebensspendenden Weihrauch, magische Blitze, astrale Kontokarten, die einem karmische Vorteile bringen, was immer du dir vorstellen kannst.« »Cool. Was für ein Spiel ist das?« »Es nennt sich >Rim: das Rad des Lebens<. Man startet am äußersten Rand des Rades, weißt du. Man muß sich einen Weg durch zwölf Abschnitte hindurch bahnen, die aufeinander einwirken ­ sie bilden die Ursache von Leben und Leid, mußt du wissen, von der Unwissenheit bis zum Tod. Das ist echt tibetisch. Dann durchquert man die sechs Reiche, wobei man mit dem Höllenreich anfängt. Danach kommt man ins Reich der Yidags, also der gequälten Geister. Dann folgen das Tier- reich, das Menschenreich, das Reich der Halbgötter und das göttliche Reich. Die Radspeichen trennen die verschiedenen Reiche voneinander. Die Nabe hält alles zusammen.« »Wow!« entfuhr es Kundalini. »Und in welchem Reich be- finden wir uns jetzt?« »Tja, Kid«, sagte Larry, »wenn ich das nur wüßte. Eigentlich sollte es bloß ein Spiel sein. Dann sind diese Gdons aufge- taucht und haben uns ernsthafte Schwierigkeiten gemacht. Und jetzt ist das Ganze absolut kein Spiel mehr. Ich meine, hier geht es um alles oder nichts. Um Leben oder Tod. So ein- fach ist das. Und es macht keinen Unterschied, ob es so oder so endet. Ich frage dich, was für ein Spiel das ist? Wer auch immer es erfunden hat, muß ein ziemlich erbärmliches Leben geführt haben.« »Wohin wart ihr unterwegs?« fragte Sherpa Larry. Larry war ungefähr fünfzehn oder sechzehn. Er war ein grobknochiger Junge mit breitem Unterkiefer. Er rieb sich das Kinn und blickte ernst drein. »Könnte sein, daß wir den glei- chen Weg haben. Ich schätze, dieser Ort kann sich jeden Mo- ment in Nichts auflösen. Wir wollen es bis nach Virtuopolis und ins Flachland schaffen.« »Ich fürchte, da hast du recht«, seufzte Sherpa. »Das ist wohl unsere einzige Chance. Wenn ihr nichts dagegen habt, reisen wir zusammen. Aber...« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Dein Freund Phil. Er ist infiziert. Das an seinem Hals sieht mir wie ein Gdonbiß aus. Es hat sich ent- zündet. Ich weiß nicht, ob er die Reise übersteht.« Der Anruf Sherpa hatte sie zu einem kleinen weißen Münzfernsprecher etwas höher auf dem Pfad geführt. Phil hinterließ als erster eine Nachricht ­ für seine Freundin Norma. Zunächst bat er King Alfonso Aserioso darum, daß sein Privatsender einen Song im Wasteland ausstrahlte. Dann bereitete er sich auf die Verbindung nach draußen vor. Larry und Moçambique halfen ihm hoch und plazierten ihn vor dem Münzauge. »Wie sehe ich aus?« fragte Phil und strich sich das Haar glatt. Er glich einem in Lumpen gehüllten Leichnam. »Hiiinreißend«, sagte Moçambique. »Wie Mr. Virtuell per- sönlich.« »Danke, Jungs... also los, rein mit dem Quarter.« Sherpa zog ihre Magnetkarte durch den Schlitz, und das Telefonat ging live ins Wasteland, wo man Phils Anruf weiter- leiten würde. »He, Norma-Mädchen, du fehlst mir, Liebling. Keine Ah- nung, ob wir uns jemals wiedersehen«, sagte Phil. »Sag meiner Schwester Rose, daß ich sie liebe, und auch Mom und Dad...« Sherpa flüsterte Kundalini zu: »Das ist echt hart.« Sie wisch- te sich eine Träne aus dem Auge. »Wegen der häufigen Benutzung dieser Verbindung zwi- schen Wasteland und draußen und um anderen Kunden, die den Service ebenfalls in Anspruch nehmen möchten, dazu Gelegenheit zu geben, müssen wir Ihr Gespräch jetzt leider beenden...«, teilte ihm eine Telefonistin mit, die plötzlich auf dem Bildschirm erschien. »Du bist dran, Kundalini«, sagte Sherpa. »In Ordnung, Sherpa, danke. Bist du auch sicher, daß das weitergeleitet wird?« »Na klar, dafür ist gesorgt.« »Wie spät ist es drüben?« »Wir befinden uns in unterschiedlichen Zeitzonen, Kid«, informierte ihn Larry. »Zwischen hier und Wasteland, nun ja, da gibt's keinen großen Unterschied. Aber zwischen hier und zu Hause ­ zum einen sind da die Verdichtungsschichten, und dann spielt einem noch die Zeit Streiche... Wir könnten Tage voraus sein oder Tage hinterherhinken. Beides ist möglich.« Trevor stellte sich in die Kabine und hielt sein Gesicht dicht vor das Münzauge. »Hi, Dad!« strahlte er. »Ich weiß, daß du dir wahrscheinlich echt Sorgen um mich machst, aber das brauchst du nicht. Mir geht's prima. Aber das ist schon in Ordnung, ich komme ja bald heim. Ich versprech's. Ich muß nur noch ein paar Ebenen packen, dann mache ich hier den Abgang. Du glaubst ja nicht, was für ein irres Spiel das ist, Dad! Da stürmen all diese Wahnsinnsteile auf einen ein. Dämonen, Zombies, Gdons, Oger, alle möglichen hungrigen Gespenster... So was hast du noch nicht gesehen! Ups! Ich muß jetzt Schluß machen! Das kostet mich ein Vermögen!« Er lächelte matt. »Du schuldest mir zwei Blitze, Dad! Ich liebe dich! Tschüs! Ich klink mich aus!« Er trat von der Kamera zurück. »Wie war ich, Sherpa?« »Großartig, Kid. Sehr überzeugend. Jetzt kommt, Jungs, wir helfen Phil abwechselnd, aber allmählich sollten wir aufbre- chen. Bald wird es dunkel.« Die Ersatzperson Gobi hörte das Donnern am Horizont und sah auf. Ein gewal- tiger Gipfel brach wie eine Zuckerdose, die man ausleert, in sich zusammen. Der Schnee stob zum Himmel empor und schwebte einer glitzernden Wolke in einem Thanka-Bild gleich vor dem funkelnden blauen Nichts. Jetzt erbebte der Boden unter Gobis Füßen. Er spürte, wie eine entsprechende Schwingung im wilden Trommelwirbel seine Yin-Ferse hinaufschoß und sein Gehen beeinträchtigte, so daß er die Illusion hatte zu stolpern. Er mußte innehalten und durch tiefe Chi-Atmung sein Shen stabilisieren. Vergiß nicht, daß alles nur Samskara ist, Illusion, sagte er sich. Online-Samskara. Er blieb stehen, als der Trupp eine Gabelung erreichte, an der es aufs Geratewohl in verschiedenen Richtungen weiter- ging. Welchen Weg sollte er einschlagen? Er fühlte sich seltsam erregt. Bald, bald, sagten ihm seine Sinne. Er spürte jetzt seinen Bestimmungsort auftauchen wie die Sonne in seinem Genick. Aber er mußte seine Ungeduld noch zügeln. Es war nach wie vor möglich, daß er die falsche Abzweigung wählte. Ganz ruhig, Gobi. Jetzt nur nichts verpatzen. Setz das zweite Ge- sicht deines zweiten Gesichts ein. Er kniff die Augen zusammen und entdeckte die Wegzei- chen, die man für ihn zurückgelassen hatte. Es handelte sich um eine Spur kleiner Papierorigamis. Man- che waren wie Opfergaben für die Götter an den Zweigen von Bäumen befestigt worden. Andere hatte man entlang des Wegs auf Steine gelegt. Als er die höchste Stelle des Pfads erreichte, sah er, daß ihn dort eine Gestalt erwartete. Sie stand vor einer Einsiedlerhöh- le. Die Frau trug eine Steppjacke mit Gürtel und hatte ihr schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie nahm die Sonnenbrille ab, als er sich näherte. »Hallo, Frank«, begrüßte sie ihn mit einem ängstlichen Lä- cheln. »Also hast du die Spur gefunden.« Dann fügte sie hinzu: »Es ist lange her. Du siehst gut aus.« »Hallo, Kimiko«, erwiderte er. »Auch du siehst gut aus. Ich hielt dich für tot.« »Ich mußte es tun, Frank. Es mußte echt aussehen.« »Hast du mich deswegen als Leibwächter angeworben? Damit es aussieht, als hätte ich den Job vermasselt? Damit ich angemessen trauern und die nächsten paar Jahre meines Lebens an völlig falschen Orten nach Liebe und Gott Ausschau halten sollte?« »Tut mir leid, Frank.« »Wer war sie? Die Frau, die an deiner Stelle starb.« »Sie war eine Ersatzperson. So wie ich dich angeworben hatte, damit du mich beschützt, hatte ich diese Person ange- worben, damit sie als meine Doppelgängerin fungiert. Ich wollte nicht, daß sie stirbt. Das mußt du mir glauben. Sie war nur ein Lockvogel. Hat meine Besorgungen gemacht, meine tägliche Routine erledigt. Damit ich die Möglichkeit hatte, ununterbrochen zu arbeiten. Sie war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.« »Hat deine schmutzige Wäsche gewaschen.« »Bitte stell's nicht so hin, Frank.« »War ich auch Teil dieser Arbeit, Kimiko? War ich Teil die- ser Scharade?« »Nein, Frank, du warst Teil meines Liebeslebens. Ich wollte dich ja wissen lassen, daß es mir gutgeht ­ aber ich konnte es mir nicht leisten. Das hätte die Feinde meines Vaters auf mich aufmerksam gemacht. Da ich tot war, konnten sie Ono Neuro- Industries nicht mehr bedrohen. Sie konnten meinen Vater nicht mehr erpressen.« »Sie haben ihn trotzdem erledigt.« »Ich weiß, Frank. Ich war es, die dich beauftragt hat, ihn zu finden. Natürlich wußtest du das nicht. Du hast dein Bestes getan. Aber für meinen Vater war es zu spät.« »Wieso hast du es mir dann nicht gesagt? Daß du noch lebst!« Gobi wollte noch immer an sie glauben. Wenigstens auf irgendeiner Ebene. »Zu dem Zeitpunkt habe ich bereits für Kazuo Harada am Satori-Projekt gearbeitet. Du ahnst ja nicht, wie wichtig das für die Welt ist. Wir haben einen Wettlauf gegen die Zeit geführt, um alles auf die Reihe zu bringen. Das tun wir noch immer.« Sie sah ihn schmachtenden Blickes an, immer noch voller Liebe, obwohl sie sich ihm entzogen hatte. »Ich höre Stimmen, Kimiko«, sagte ein Mann aus dem In- nern der Höhle. »Wer ist das da draußen?« »Das ist Kazuo«, sagte Kimiko zu Gobi. »Ich komme gleich, Sensei!« rief sie zurück. »Gehen wir rein, Frank. Du mußt ihn treffen.« Am Höhleneingang legte Kimiko ihm die Hand auf den Arm. »Frank, ich weiß, daß es dir wahrscheinlich schwerfällt, mir zu verzeihen. So viel ist geschehen. So viel ist Vergangen- heit. Aber weißt du...« Sie schenkte ihm ein mattes Lächeln. »Wenn du nur wolltest, könnten wir einander neu kennenler- nen. Hast du von dem Baum gehört, der einem alle Wünsche erfüllt? Man muß nur darum bitten.« »Ich weiß, Kimiko«, erwiderte Gobi schweren Herzens. »Ich habe von diesem Baum gehört. Aber ehrlich gesagt, glaube ich, daß wir inzwischen alle unsere Wünsche aufgebraucht ha- ben.« Er war viel schmaler, viel zerbrechlicher als sein Holoid. Aber das weiße Haar und die Designerbrille waren nach wie vor sein Markenzeichen. Sie wirkten wie aus dem Kazuo-Harada- Katalog übernommen, Stücke 67 und 68. Neben ihm stand eine Tasse Tee. Auf einem Hibachi-Rost dampfte ein kleiner Kessel ­ die Bytes pfiffen. Er saß an einem Terminal. »Ah«, sagte Harada, als Gobi hinter Kimiko eintrat. »Sie müssen...« »Das ist Frank Gobi, Sensei«, stellte Kimiko ihn vor. »Naruhodo.« Haradas scharfe Augen durchdrangen Gobis Shen und bewunderten die Art, wie es erstellt worden war. Er war keineswegs ein Visionär. Er kannte den Unterschied zwischen K-Mart-Ektoplasma und einer begehbaren Aura von Mitsukoshi-Harrod's. »Willkommen in Satoris Gametime, Gobi-san.« Er stand auf und verbeugte sich vor Gobi. »Oder was davon noch übrig ist«, sagte Gobi und schaute sich in der Höhle um. Sie war aufs angenehmste hergerichtet worden. Sie befan- den sich im Arbeitsbereich. Von außen hätte man eine dunkle, feuchte Höhle erwartet. Aber sie besaß ein raffiniert angelegtes Oberlicht mit Schneeschutz. Überall in der Höhle, wo die getrennten Schlafzimmer, ein gemeinsames O-furo-Bad und die Kantine untergebracht waren. »Ja, das ist wahr«, gab Harada zu. »Vor gar nicht langer Zeit dürften Sie den Donner gehört haben. Das war der Kanchen- junga«, sagte er. »Aber keine Sorge, es gibt eine Sicherheitsko- pie.« »Wo sind alle?« fragte Gobi. »Alle?« »Die anderen Mitglieder Ihres Teams. Ich dachte, sie wären bei Ihnen.« »Waren sie auch.« »Jetzt gibt es nur noch uns, Frank«, erklärte Kimiko. »Sie waren dumm genug, nicht die erforderlichen Sicherheitsvor- kehrungen zu treffen, als sie hinausgingen.« »Was ist mit ihnen passiert?« »Er hat sie erwischt.« »Wer?« Harada runzelte die Stirn. »Sato. Tashi Nurbu. Der Rimi.« »Natürlich ist er geisteskrank. Aber Menschen wie er werden gewöhnlich nicht am Grad ihrer geistigen Gesundheit gemes- sen.« Harada setzte seine dicke Brille mit dem schwarzen Rahmen ab und rieb sich die Nasenflügel. »Wahnsinn wird bei ihnen fast zum Streitpunkt, wie die Farbe der Haare oder der Augen. Er hat die Welt verändert. Wir können ihn nicht an Maßstäben messen, die nicht länger existieren«, seufzte Harada. »Er ist ein Dieb.« »Oh, Sie kennen seine Vergangenheit? Ja, außerdem ist er auch noch ein gemeiner Dieb. Er ist so vieles. Er hat das Pro- gramm gestohlen. Aber das hat Prometheus auch getan, oder? Er hat den Göttern das Feuer gestohlen und es den Menschen gebracht.« »Trotzdem haben Sie weiter mit ihm Geschäfte getätigt. Wieso?« Harada schürzte die Lippen. »Damals habe ich die nüchter- nen Fakten noch nicht gekannt. Natürlich hätte ich es vorge- zogen, direkt mit den Tibetern zu verhandeln. Aber sie hätten mir niemals angeboten, was mir Tashi Nurbu anbot. Er hat es gewagt, mit den alten Tabus zu brechen.« Er seufzte. »Und jetzt verfolgen uns die alten Tabus wie nichts Gutes. Das ist wohl Karma.« Haradas Augen blitzten in einem Anflug von trockenem Humor auf. »Versteht sich von selbst, daß mir Tantiemen lieber gewesen wären.« »Wann haben Sie vom Virus erfahren?« »Vor dem Megabeben. Wissen Sie, dieses Beben sollte ei- gentlich nie stattfinden. Nicht so, wie es geschah. Es sollte ein glatter Übergang werden.« »Ein glatter Übergang?« fragte Gobi. »Zu was?« »Zur nächsten Stufe der menschlichen Evolution«, erklärte Harada. »Es sollte den alten Kreislauf, wie wir ihn kennen, beenden. Geburt, Kindheit, Reifezeit, Alter, Tod ­ und natür- lich«, fügte er traurig hinzu, »Wiedergeburt.« »Leider packte Sato die Gier«, sagte Kimiko. »Er ging zum Kobayashi-Konzern und hat ihnen dasselbe Programm ange- boten.« »Ja, Ryutaro Kobayashi hat nie irgendwelche Skrupel ge- kannt«, nickte Harada. »Er wollte das tibetische Programm so auf den Markt bringen, wie es war ­ komplett mit Virus. Wirklich ein überaus tragischer Fehler. Mit tragischen Folgen, wie Sie selbst sehen können.« Just in diesem Moment rotierte die Höhle um ihre Achse, und der Berg stöhnte und ächzte in den Grundfesten. Eine Geröllhalde prasselte auf ihre Köpfe herunter. Harada fegte den Schmutz von seiner Konsole und blickte auf den Schirm. »Da geht der Annapurna hin«, sagte er frustriert. »Und der Shishapangma. Und der Manaslu. Der Everest ist vielleicht der nächste.« »Wie konnte das geschehen?« Gobi knirschte mit den Zäh- nen. »Wie hat er Neo-Tokio digitalisiert?« »Man fängt klein an«, sagte Harada, »und dann arbeitet man sich allmählich hoch. Aber nicht Tashi Nurbu. Er ist den umgekehrten Weg gegangen. Ich sagte ihm noch: >Sato...<« »Bitte beantworten Sie meine Frage.« »Es war der erste große Durchbruch in Bewußt- seinskomprimierung. Ich erspare Ihnen die technischen De- tails. Wie ich immer sage: Das Ingenieurtum den Ingenieuren. Verwaltung ist nicht mein Fall. Aber eins steht inzwischen fest: Es ist jetzt möglich, eine Million Bewohner in einem Speicher- raum von, sagen wir, 1024 Bits unterzubringen. Vorausgesetzt, daß sie entsprechend kodiert sind, kann man hundert Städte von der Größe New Yorks in einer Streichholzschachtel unter- bringen.« Gobi starrte ihn und Kimiko an. »Was er sagt, entspricht völlig der Wahrheit, Frank«, sagte sie zu ihm. »Tatsächlich kann man ein menschliches Gehirn inzwischen in 1015 Bits unterteilen.« »Man kann das ganze Universum schrumpfen und hat noch genug Platz für Sicherheitskopien«, fügte Harada hinzu. »Ich bin mir nicht sicher, wer verrückter ist, Sie oder Tashi Nurbu«, sagte Gobi zu ihm. »Normalerweise würde ich das als Kompliment auffassen. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, daß man Genies für verrückt hält«, erwiderte Harada. »Aber in diesem Fall hat er mir wohl den Rang abgelaufen. Er fing damit an.« »Sie bezeichnen das als nächsten Zyklus der menschlichen Evolution? Eine neue Weltordnung?« »Nein, das ist längst nicht großartig genug. Ich bezeichne es als >Der Widerspenstigen Zähmung, des Unbesitzbaren Einnahme<. Wie klingt das?« »Eine letzte Frage«, sagte Gobi, als er sich zum Weggehen erhob. »Ja?« »Wo ist er jetzt?« »Tashi Nurbu?« »Ja.« »Er ist draußen. Er ist zum Virus geworden. Er ist der Rimi. Vermutlich ist er das schon immer gewesen. Aber auch er mußte sich entwickeln. Er hat auf Sie gewartet, Mr. Gobi. Ich glaube, Sie besitzen etwas, was er haben will.« »Leb wohl, Frank.« Kimiko drückte ihm vor der Höhle fest die Hand. Es wurde schon dunkel. Der Himmel tauchte die weni- gen verbliebenen Gipfel in rosafarbenes Licht, welche tiefes marmornes Schweigen zurückwarfen. »Leb wohl, Kimiko.« »Wenn du willst, warte ich hier auf dich.« »Viel Glück«, sagte er zu ihr und begann den Pfad hinun- terzugehen. Als er sich umdrehte und einen Blick zurückwer- fen wollte, war sie bereits verschwunden. Flachland »Wie kommen wir nur von hier aus ins Flachland?« fragte sich Kundalini Kid laut. So weit das Auge reichte, erstreckte sich steil und bedroh- lich der gewaltige Gebirgszug des Himalaja. Ob wenigstens die Götter eine Abkürzung kannten? Sherpa blickte grimmig drein. »Zum Paß da unten dauert es noch ein paar Tage ­ jedenfalls, wenn wir weiter dem Pfad folgen.« Larry spähte in die Schwärze des Abgrunds hinunter. »Müssen wir ja nicht.« »Wie meinst du das?« fragte ihn Sherpa. »Leidet ihr an Höhenangst?« »Wieso willst du das wissen?« »Vielleicht gibt's doch eine Möglichkeit.« »Du sprichst in Rätseln.« »Was sagst du dazu, Moç?« Moçambique sah in die Leere hinunter. Phil hielt sich an Sherpa geklammert aufrecht. »Willst du meine ehrliche Mei- nung hören?« fragte Moç. »Ja, schon möglich. Spuck's aus.« »Ich glaube, wir haben keine andere Wahl.« »In Ordnung, Gang«, sagte Larry. »Heute ist euer Glückstag, der von euch allen. Deiner auch, Phil.« »Was hast du vor, Larry?« wollte Sherpa wissen. Larry holte seinen Rucksack und packte ihn aus. »Wie ich schon sagte, wir sind schließlich nicht hier, um Blumen zu pflücken, auch wenn sich das manche von uns vielleicht wünschen. Nichts für ungut, Sherpa«, grinste er. »War bloß ein Scherz. Sieh an, was wir hier haben. Moç, wieviel hast du in deinem Rucksack noch übrig?« »Na ja, so ungefähr vierhundert Kilometer.« »Also gut, tun wir's.« »Ihr zwei? Was denn?« »Bungee«, sagte Larry und zeigte ihnen das aufgerollte Seil. »Ihr nennt es Gehirnbungee, stimmt's? Virtuelles Bun- geespringen.« Der Rimi Einem Rimi hängt ständig die Zunge aus dem Mund. Sein Gesicht ist eine zerklüftete Wand, die man nie ganz erklimmen kann. Seine Hände sind wie Brechstangen. Man kann sich auf sie stellen und dann ins Bodenlose stürzen. Und seine Füße sind wie schwere Walzen, die einem das Mark aus der Wirbel- säule pressen, um den Geistsaft zu gewinnen, der die Augen eines Rimi zum Leuchten bringt. Ein Rimi ist ein Prosagedicht auf den Tod, das niemals en- det, sondern am Schluß einfach taumelt und in die nächste Zeile umkippt. Er ist ein Hunger, der sich nie stillen läßt, ein Auge, das sich nicht herausreißen läßt, und eine Erinnerung, die niemals Frieden findet ­ geschweige denn Vergessen. Ein Rimi macht Gedankenentwürfe. Lange und langsame Entwürfe, während er den Gedanken von allen Seiten beleuch- tet. Am glücklichsten ist er, wenn er sich Gedanken über den Tod und das Sterben macht, weil das nur eines bedeuten kann: daß er selber nicht tot ist. Für einen Rimi birgt dieser Gedanke viel Trost, auch wenn er sich manchmal fragt, was die ganze Aufregung eigentlich soll. Seine Füße haben Schuhgröße fünfzig. Die kleineren Erd- schuhe, die bei seinem Herannahen in alle Richtungen davon- huschen, sind für ihn wie Schaben der Sehnsucht. Manchmal will auch er klein sein, aber das geht nicht. Er kann nur groß sein. Seine Frustration baut sich nur langsam auf. Aber die Kin- der sind ihm entkommen. Erst neulich war er der kleinen Gruppe auf diesem Pfad zwischen zwei Abgründen begegnet, wo der Wind heult und die einzige tröstliche Hoffnung die ist, daß man irgendwann von den Felsen abrutscht. Als sie ihn sahen, verfielen sie wie gewöhnlich in fieberhaf- te Hektik. Das ermunterte den Rimi dazu, sich ihnen zu nä- hern. Er wackelte mit der Zunge und schwenkte die Rechte. Das ist die universale Rimiprache, die soviel bedeutet wie: Bleibt stehen. Bewegt euch nicht. Aber Erdenkinder sind genau wie Erdschuhe unbelehrbar. Diese Kinder hatten lange Seile dabei, die an Gurtwerken auf ihrem Rücken befestigt waren. Die Seile waren lang und elastisch. Sie waren mit Ringen verbunden, die die Kinder schnell in die schlüpfrige Felswand hämmerten. Der Rimi hatte kaum einen Schritt gemacht ­ und die Kin- der waren höchstens einen Schritt vom Rimi entfernt ­, als sie auch schon über den Rand sprangen. Es sind Bungees für Bergsteiger. Die Kinder tauchen Tau- sende von Metern tief in den endlosen Abgrund ein. Rimis sind so unbeholfen. Er sinkt auf ein Knie und betastet das erste Bungeeseil, zerrt daran. Als er auch an den anderen Seilen zerrt, baut sich ein Brummen auf: Dmmm, dmmm, dmmm, dmmm, dmmm... Was für ein Geräusch! Es bringt etwas tief in seinem Herzen zum Klingen, und der Rimi ist gerührt, so gerührt. Eine giftige Rimiträne tropft auf jedes Seil und fließt leider- füllt hinunter, die ganzen Tausende von Metern dorthin, wo die Säure seines herrlichen Kummers bald den Rücken einer jeden baumelnden Note berühren wird. Dmmm, dmmm, dmmm, dmmm, dmmm... Jetzt hört der Rimi noch etwas anderes. Ein Herunterladen. Anfangs ein ruhiges Schwirren, das dann aber immer schnel- ler, immer lauter wird. Das Rumpeln von Schnee, eine schon lange ausgelöste Lawine von irgendwo hoch oben, die ihn jetzt erreicht. Eine Klangkaskade. Der Rimi hebt schützend die Arme, dann entfernt er sich taumelnd vom Klippenrand. Er kennt seinen Feind nicht, spürt ihn aber. Als der weiße Schnee herunterwallt, berührt ein Teil davon die Wange des Rimi, und seine Zunge reagiert wie ein Scheibenwischer, dreißig Zentimeter lang und gefurcht. Sie wischt ihm den brennenden Schnee von der Wange. Jetzt weiß der Rimi, daß er ein Jäger ist, auf den Jagd ge- macht wird. Der Rimi berührt seine Wange, in die sich ein Loch eingebrannt hat, und schaut mit einem verletzten Aus- druck in den rotgeränderten Augen hoch. Sie sind rot, tiefrot. Sie glühen wie heiße Kohlen, die sich nach Liebkosung sehnen. Der Rimi küßt mit dieser großen, langen Zunge auch gern. Der Mann steht am anderen Ende der Klippe. Er hat flüchtig in die Felsspalte hinuntergesehen, in die die Kinder gefallen sind. Wieso steht er da? Der Wind heult ein Wiegenlied, und dunkelblaue Himmelsfetzen beginnen genau wie der Schnee in den Abgrund zu stürzen. Er hält etwas in der Hand und dreht und wendet es. Das Geräusch der Lawine. In der anderen Hand ­ ist es die rechte oder linke? Der Rimi schielt manchmal ein wenig ­ hält er noch etwas. Jetzt beginnt der Rimi wieder tibetisch zu denken. Es ist so ermüdend, in Menschensprache zu formulieren, was nur die murmelnde Leere klar ausdrücken kann. Es ist ein Gegenstand mit dreifacher Klinge. Ein Phurbu. Ein ritueller Dolch. Jetzt fällt es ihm wieder ein. Wie ein Traum aus früheren Zeiten. Der alte Mönch hat den Dge-bsneyn unterrichtet, den Gehilfen des Zauberers. Natürlich ist er seinetwegen gekom- men. Er ist gekommen, um den Virus zu erschlagen. »Du bist der Häretiker, den ich erwartet habe«, sagt Tashi Nurbu einfach zu Gobi. Der Häretiker sieht sich dem schlanken Tibeter gegenüber, der am Klippenrand steht. Um sie herum flammen auf allen Seiten der Illusion die gleißenden Lichter Neu-Nippons auf. Für die Matrix ist Wechselzeit, ein Traum löscht den anderen aus. Die hoch aufragenden Gipfel zerfallen und stürzen in den Abgrund, Seufzer für Seufzer, Mandala für Mandala, ein Sandbild, das mit dem anderen verschmilzt. Es gibt kein Zurück mehr. »Der bin ich.« »Wo ist dein Meister? Oder bist du allein gekommen?« »Ich bin allein gekommen.« »Dann ist es also beschlossen.« »Es ist beschlossen.« »Du kannst mich nicht aufhalten. Auch das ist beschlossen.« »So ist es. Ich kann dich nicht aufhalten.« Diese Bemerkung erstaunt Tashi Nurbu. »Du bist also ge- kommen, um zu sterben? Ich werde dir einen gnädigen Tod gewähren. Du bist ein ehrenwerter Mann. Komm her, ich will meine Hand auf dich legen. So.« Plötzlich ist er der Rimi, der Vorfahr des Yeti. Er wackelt mit der Zunge und wedelt mit der Hand das Mudra der Be- gegnung. »Ich kann dich nicht aufhalten, aber ich kann jemanden herbeirufen, der dich aufhält.« Tashi Nurbu runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?« »Ich bin nur der Dge-bsneyn. Die Ersatzperson.« »Die Ersatzperson für wen?« Er steht da, ein tibetischer Krieger in weinroter Mönchsro- be, und das lange schwarze Haar wallt auf seine Schultern herab, reglos die Wangenknochen und der Mund eine schmale Linie. Er dreht das Mani. »Glaubst du, diese Gebetsmühle kann mich aufhalten, Dge- bsneyn? Oder der Phurbu in deiner Hand? Du hast nicht genug Kraft, um mich zu besiegen. Außerdem weißt du nicht, wo sich mein geheimes Mal befindet. Ich bin nämlich ein Mal- Ro-langs. Das ist meine Herkunft.« »Ich weiß, was du bist. Und nein, ich muß deinen schwa- chen Punkt nicht kennen, denn du bist die fleischgewordene Schwäche. Sie hüllt dich ein.« »Tapfere Worte«, höhnte Tashi Nurbu. Der Dge-bsneyn drehte weiter die Mühle. Mußte er ihn nicht hören? Mußte er nicht kommen? Mußte er nicht vom Berg Kailas herbeieilen, wenn er es befahl? War das nicht der Preis für seine Freiheit gewesen? »Schluß mit diesen Materialisationen aus deinem Mund«, feixte Tashi Nurbu. »Das Mantra und meine Geduld sind erschöpft.« Der Rimi machte einen Schritt auf den Dge-bsneyn zu. Da kam er über sie, wie ein pinkfarbener Schleier aus heiterem Himmel. Der Dge-bsneyn reichte ihm den Phurbu. Und damit flog er auf die Schulter des Rimi. Natürlich erkannte er ihn. Es war der Mensch, der Industrielle, dem Tashi Nurbu einmal so unglaubliche Kräfte verliehen hatte. Aber in seiner jetzigen Gestalt erkannte er ihn nicht, als wild mit den Zähnen schnatternden pinkfarbenen Holoid-Plasmaaffen. Er hielt den Phurbu hoch, als wollte er ihn untersuchen, und ahnte wohl eher die Nadel, durch die das Serum in den Hals des Rimi eindringen sollte. Der Rimi suchte den Blick des Dge-bsneyn. Er flehte nicht um Barmherzigkeit, denn die hatte man ihm bereits gewährt. Er sah das Licht, das Licht in der Finsternis, das Licht im Wunder seines eigenen Untergangs. Als die Berge verschwanden, wandte auch der Rimi sich ab. Er warf sich über die Klippe, um den Gipfeln zu folgen. Für die Täler blieb noch genügend Zeit. Der Affe schnatterte wie verrückt. Er befreite sich vom Ho- loidkarma. Er hatte die Welt vernichtet, sie in Besitz genommen und verkauft. Und jetzt... Geht hin in Frieden. Gobi verbeugte sich. Alle beide. Am Morgen Allmählich erwachte er aus seinen Träumereien. Wenn bewuß- tes Träumen auf bewußtes Wachen trifft, dann begegnet die schöpfe- rische Energie des Morgens dem Herrn des Karma... Gobis Gedan- ken eilten seinem Körper voraus. Er schlug die Augen auf und blinzelte. »Yaz!« lächelte er. Gobi lag in einem Büro auf einem Feldbett. Jetzt erinnerte er sich wieder. Er befand sich in Chadwicks Büro im Keiretsu- Turm. »Nicht zu ruckartig aufrichten, Frank-san.« Yaz' Hand hielt ihn zurück. »Was...« Er blickte sich um. »O-hayo, guten Morgen.« Yaz reichte ihm einen dampfen- den Becher mit einem ätzend riechenden Gebräu. »Trinken Sie das, Frank-san.« Er trank. Die Schwäche verflog. Er spürte, wie ihn neue Kraft erfüllte. Er richtete sich auf. »Was... was ist geschehen? Was tun Sie hier?« »Ich bin Ihnen gefolgt, Frank-san. Aber nur bis an diesen Ort. Ich glaube, Sie waren weit weg, weit weg von hier.« »Wo... ist Chadwick?« Yaz schaute kurz zur saunaähnlichen Biofaxkabine in einer Ecke des Zimmers. Sie war leer. »Er mußte ein R-Ferngespräch mit seinem Heimatbüro füh- ren«, grinste Yaz. »Genau wie sein Assistent.« »Ich verstehe...« Wieder blinzelte Gobi. »Ist... ist irgendwas anders, Yaz?« fragte er. »Anders, Frank-san?« »An diesem Morgen?« »Hai.« Yaz grinste erneut. »Sie sind endlich erwacht.« Sie fuhren im Wasserfall-Lift zum dreißigsten Stockwerk des Satori Buildings. Die Schreie der Papageien und Hirtensta- re hallten rauh im Vogelhaus wider, und der Nebel der Iguaçú Falls verbreitete eine atemberaubende Atmosphäre. Die beiden als Gärtner verkleideten Satori- Sicherheitsbeamten in den blauen Happi-Mänteln und zwei- zehigen Tabis tasteten sie mit den Händen ab. »Hai«, brummten sie und ließen sie passieren. »Würden Sie bitte hier auf mich warten, Yaz?« bat Gobi. »Natürlich, Frank-san, aber nicht zu lange, neh? Sonst star- tet Ihr Flugzeug ohne Sie.« »Wakarimashita. Ich verstehe.« Er durchquerte den Korridor und kam am Sitzungssaal des Aufsichtsrats vorbei. Er passierte einen kleinen Raum, in dem ein Angestellter arbeitete. Er blieb stehen. Der Mann blickte neugierig zu ihm hoch. »Entschuldigen Sie«, sagte Gobi. »Dürfte ich mir wohl ein- mal Ihren Schlips ausleihen?« Der Japaner sah ihn verdutzt an. »Wie bitte? Nan-desuka?« »Ihren Schlips. Darf ich ihn mir für...«, er sah kurz auf die Armbanduhr, »... drei Minuten leihen? Sie bekommen ihn auch bestimmt wieder.« Der verblüffte Japaner mußte den Wunsch erst verdauen, aber dann reichte er Gobi den Schlips mit einer Verbeugung. »Dozo.« »Domo arigato.« Gobi trat vor eine Tür mit Sicherheitskameras. Er legte den Schlips um, verknotete ihn und rückte ihn dann auf eine bestimmte Weise zurecht. Die graue Metalltür vor ihm öffnete sich automatisch. Action Wada blickte erstaunt auf, als Gobi den Raum betrat. Er saß an seinem Kieferntisch. »Geheimkombination«, grinste Gobi, während er den Schlips erneut zurechtrückte. Die Tür glitt hinter ihm zu. Action Wada runzelte die Stirn. »Ich dachte, Sie wären in- zwischen schon auf dem Weg zum Flugplatz.« »Ich wollte noch einmal vorbeischauen und mich verab- schieden.« Der stämmige Japaner trug einen Anzug aus brüniertem Kupfer von Pierre Hayashi und darunter ein farbgewalztes kalifornisches Hemd in Rosa und Birnenfarbe sowie eine grelle Scriabin-Krawatte. »Auf Wiedersehen, Dr. Gobi. Ich wünsche Ihnen einen gu- ten Flug nach Hause.« »Ich habe die Neuigkeiten gehört.« »Welche Neuigkeiten?« Erneut runzelte er die Stirn. »Kazuo ist von den Toten auferstanden.« »Ach ja, davon habe ich auch gehört. Das kam heute mor- gen auf Asahi-CNN.« »Und er hat der Kobayashi-Gruppe ein Übernahmeangebot gemacht. Gleich nachdem Satori City wieder online war.« »Das stimmt.« Action Wada gestattete sich die Andeutung eines Lächelns. »So ist das Geschäftsleben nun einmal, Dr. Gobi. Aber Sie sind ja Wissenschaftler und werden das wohl nie verstehen.« »Ersparen Sie sich das, Wada. Ihr Humor läßt ein wenig zu wünschen übrig. Was haben Sie mit dem ganzen Vermögen vor, das Sie angehäuft haben?« »Vermögen, Dr. Gobi? Was für Vermögen?« Gobi zog eine interaktive Meishi-Kontokarte hervor. »Die hier gehört Kimura, Ihrem Mann in San Francisco. Ich habe sie aufgehoben. Sie sieht zwar arg mitgenommen aus, ist aber nach wie vor recht aufschlußreich.« »Was ist damit?« Action Wada kniff die Augen zusammen. »Das sind raffinierte kleine Dinger«, sagte Gobi. »Sie führen an der Weltbörse die Echtzeitkontoführung der Satori-Anteile durch. Wissen Sie, eine Stunde vor dem Systemabsturz stan- den sie auf 10067, waren also um 93 Punkte gefallen. Und danach sind sie endgültig in den Keller gegangen. Ich meine, ein Tiefflieger ist nichts dagegen... Sehen Sie, wie tief sie gefallen sind?« Gobi schaltete die Uhr auf der Meishi-Karte ein. »Bis auf 70062.« Er pfiff. »Das ist ein Sturz um 3005 Punkte in zwei Stunden. Phänomenal.« Gobi schaute von der Karte auf. »Merkwürdig, daß der Kurs immer noch fällt.« »Tja«, sagte Action Wada, legte die Fingerspitzen aneinan- der und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Das ist nur natürlich. Wenn es zu einer Katastrophe wie dem Systemab- sturz von Satori City kommt, dann wirkt sich das auf alles mögliche aus. Eine schreckliche Tragödie! Aber Sie haben ja noch mal Glück gehabt, glaube ich. Ihrem Sohn geht's doch gut?« »Allerdings. Danke der Nachfrage«, erwiderte Gobi. »Aber erklären Sir mir bitte eines. Wie kommt es, daß Sie, als der Kurs fiel, so viele Aktien wie möglich gekauft haben? Natür- lich durch Mittelsmänner. Sie haben zum Schleuderpreis zwei Millionen Anteile am Gesamtvermögen von Satori erworben. Wieviel ist das seit Haradas Rückkehr wert? Und wieviel wird es erst wert sein, wenn Harada ankündigt, daß Satori mit Satori City 2.0 auf den Markt kommen wird?« Gobi musterte ihn. »Der Welt erste post-virtuelle Umge- bung, garantiert bewußtseinssicher und holistisch einwand- frei.« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Wie wollen Sie das garantieren? Kanarien in Käfigen? Befreien Sie alle schnell, sobald ihr Geist dran glauben muß?« Er setzte sich auf den Rand von Wadas Schreibtisch. »Sie haben den Stöpsel aus Virtuopolis herausgezogen, Wada, stimmt's?« Gobi beugte sich vor und wandte sich mit leiser Stimme an den Japaner. »Es waren gar nicht die Kobayashis, auch wenn sie naturgemäß ein gewisses Interesse daran hat- ten, Satori zu übernehmen. Die ganze Zeit über waren Sie es. Auf den Kobayashi-Konzern hatten Sie auch ein Auge gewor- fen. Nicht wahr? Der neue Shogun des globalen Retsu- Netzwerks. Ganz schön ehrgeizig von Ihnen.« Action Wada starrte ihn nur an. »Wie ich höre, ist für nächsten Mittwoch eine Satori- Aufsichtsratssitzung geplant. Bei der Gelegenheit wird Harada offiziell die Fusion der Satori Corporation mit der Kobayashi- Gruppe bekanntgeben. Sofern sich nicht etwas ergibt, was diese Verlautbarung stört.« Auf einmal sah Action Wada sehr selbstzufrieden aus. »Was wollen Sie von mir, Gobi?« Gobi blickte ihn einen Moment lang an. »Sie müssen ziem- lich viel Buße tun, Wada. Sehr viel Buße. Ganz zu schweigen von den erforderlichen Umgestaltungen.« »Nennen Sie mir Ihren Preis.« Gobi holte einen Zettel hervor und reichte ihn dem Japaner. Wada betrachtete ihn kurz. »Was ist das?« »Da fragen Sie noch? Steht doch drauf. Ich schätze, daß Sie mit Ihren kleinen Spekulationen 1,2 Milliarden Neue Yen gemacht haben. Das da ist eine Liste mit internationalen ge- meinnützigen Organisationen, die aus Ihrer großzügigen finanziellen Unterstützung Nutzen ziehen könnten ­ wobei sich übrigens die Aufwendungen ungefähr mit Ihrem Gewinn decken. Auf der anderen Seite finden Sie den Namen einer neuen Organisation ­ >VR-Opfer< ­, die all jene, die durch den Systemabsturz von Satori Schaden genommen haben, mit Darlehen beglückt und Reparationszahlungen an sie leistet. Den Anfang macht dabei ein gewisses Chukchee-Dorf in Ostsibirien.« Action Wada ließ diese Worte erst einmal wirken. Er nickte. »Na schön. Sonst noch etwas?« Er folgte Gobis Blick durchs Zimmer. »Ah«, sagte Action Wada. »Ich verstehe.« Action Wada erhob sich und ging zu dem Regal, in dem seine Sammlung Netsuke-Neuroschnitzereien stand. Er nahm eine heraus. Es war die Kyocera-Schnitzerei eines Affen, der eine Kokosnuß hielt. Er streichelte sie. »Es gibt eine ehrenwerte Sitte, der zufolge der oberste An- gestellte, der für tragische Umstände verantwortlich ist, dafür auch eine volle Verantwortung übernimmt. Zur alten Feudal- zeit hat man natürlich Seppuku begangen. Rituellen Selbst- mord.« »Dieser Sitte bin ich mir bewußt«, nickte Gobi. »Das hier ist ein leeres Netsuke«, sagte Action Wada. »Mor- gen wird es ein trauriges Bewußtsein enthalten.« Er schloß die Hand um das Netsuke. Gobi erhob sich vom Tisch und ging zur Tür. Er blieb ste- hen und verbeugte sich. »Sayonara, Mr. Wada. Mögen Sie aus Ihren fruchtbaren Meditationen Vorteil ziehen.« Action Wada blieb stocksteif stehen, die Hände am Körper, als Gobi das Zimmer verließ. »Sayonara«, sagte er und ver- beugte sich tief. »Ich wünsche Ihnen eine sichere Heimkehr.« Epilog Ja, die Keiretsu-Kriege waren für virtuelle Verhältnisse blutig gewesen. Aber nachdem Neu-Edo geboren war ­ die neue Meta- Umgebung, die man auch Satori City 2.0 nannte ­, wurde ein neues Zeitalter des Friedens, der Ruhe und der Vervollkommnung eingelei- tet. Die Künste erblühten. Tibetische Meister verbesserten ihre karmische Software, die Öffentlichkeit war im großen und ganzen erleuchtet, und das Bewußtsein wurde zur Währung des Landes. Es gab natürlich Hochs und Tiefs, aber alles in allem hatte die Entwick- lung Bestand. Mein Vater Gobi pendelte mit Tara, seiner Gefährtin im Rim, zwischen den Reichen. Das Mitgefühl, das sie allen intelli- genten Wesen entgegenbrachten, war jedermann bekannt, besonders aber mir, seinem Sohn. Und so verbleibe ich am heutigen Tag, an dem ich das Hanko (Siegel) am Hause Gobi anbringe, eingedenk aller Welten, die das Bekannte und Unbekannte, Vertraute und Unvertraute, Vorgestellte und Nichtvorgestellte umfassen, eingedenk aller Teile des Einen, des Ganzen und des miteinander Verbundenen, in Liebe und Hochach- tung und mit diesen Memoiren aus dem Nicht Erleuchteten Zeital- ter. Ihr (gezeichnet) Trevor Gobi aus: »Die Keiretsu-Monogatari« (»Annalen der Megakonzern-Kriege«) Vektor 16, Matrix zwo Taihei 43 (2067 A. E.)